31. October 2023

Antisemitische Ausschreitungen in Dagestan – „von außen angestachelt“ oder „hausgemacht“? (Nachdenkseiten)

Kitnha / Shutterstock
Foto: Kitnha / Shutterstock

31. Oktober 2023 um 16:50 Ein Artikel von Ulrich Heyden

In Machatschkala und Chasawjurt, zwei Städten in der Republik Dagestan im Nordkaukasus, kam es am Wochenende zu antisemitischen Ausschreitungen, die sowohl in den russischen als auch in den deutschen Medien große Beachtung fanden. Was sind die Hintergründe? Von Ulrich Heyden.

Die Republik Dagestan mit ihren drei Millionen Einwohnern gehört zu Russland und grenzt an die ebenfalls zu Russland gehörende Republik Tschetschenien, die Staaten Aserbaidschan und Georgien sowie an das Kaspische Meer.

Muslimische Demonstranten versuchten am Sonnabend vor dem Hotel „Flamingo“ in Chasawjurt und am Sonntag auf dem Flughafen von Machatschkala, Reisende aus Israel ausfindig zu machen und ihre Pässe zu kontrollieren. In Machatschkala eröffnete die Polizei gegen 150 Personen ein Verfahren wegen Teilnahme an Massenunruhen. 83 Personen wurden festgenommen.

Die Demonstranten vor dem Flughafen von Machatschkala, welche die Information bekommen hatten, dass ein Flugzeug aus Tel-Aviv gelandet war, führten einzelne palästinensische Fahnen mit sich. Es wurde auch ein Plakat „Wir wollen keine Flüchtlinge aus Israel“ hochgehalten.

Es war offensichtlich: Die Betroffenheit der überwiegend muslimischen Bevölkerung von Dagestan über die Situation im Gazastreifen versuchten bestimmte Kräfte für Pogrome gegen Bürger aus Israel und Juden zu nutzen.

Die deutsche Fernsehanstalt ARD versuchte in ihrer Berichterstattung, den Kreml der Mittäterschaft an den Ausschreitungen auf dem Flughafen zu überführen. Die Ausschreitungen auf dem Flughafen von Machatschkala seien „hausgemacht“, heißt es auf Tagesschau.de. Russland habe sich angeblich „nicht von der Hamas distanziert“ und eine Delegation dieser Organisation sogar nach Moskau eingeladen.

Ich sehe täglich russisches Fernsehen, habe aber keinen Bericht gefunden, wo der Angriff der Hamas auf Israel Anfang Oktober beschönigt oder kleingeredet wurde. Der wichtigste russische News-Kanal Rossija 24 bringt täglich Berichte seiner Korrespondenten sowohl aus Israel als auch aus Gaza. Beide Korrespondenten bemühen sich um einen nüchternen Ton. Doch die Bilder sprechen ihre eigene Sprache. Das Elend, das man aus Gaza sieht, ist von einem anderen Maßstab als das, das man aus Israel sieht.

Tagesschau.de versucht, Russland zu diskreditieren

Das Portal Tagesschau.de behauptet, russische Medien, Politiker und Personen des öffentlichen Lebens hätten eine Stimmung geschürt, die zu den antisemitischen Ausschreitungen auf dem Flughafen von Machatschkala führte.

Diese Behauptung ist an den Haaren herbeigezogen. Wenn Russland eine Delegation der Hamas in Moskau empfängt, dann dient das ganz offensichtlich dem Versuch, den Krieg auf diplomatischem Wege zu beenden, und geschieht nicht, um die Hamas in ihrer Art der Kriegsführung zu bestärken.

Russland war im Konflikt zwischen Israel und Palästina immer neutral, etwas anderes zu behaupten, ist unlauter. Tagesschau.de tut so, als ob die politische Linie der deutschen Regierung der Maßstab ist, an dem sich auch der Kreml zu messen hat. Russland soll – wie Deutschland – zur Kriegsführung der israelischen Armee im Gazastreifen schweigen.

Feiert der Antisemitismus in Russland heute nun neue Höhen, wie Tagesschau.de unterstellt? Ich lebe seit 1992 in Russland und kann vergleichen. Ja, es gibt in Russland Antisemitismus, aber nicht mehr als in Deutschland. Man trifft ihn gelegentlich in Alltagsgesprächen, in abfälligen Bemerkungen über jüdische Oligarchen. Aber seit Putin Russland lenkt, ist der Alltags-Antisemitismus stark zurückgegangen. Im russischen Fernsehen ist jede negative Äußerung über Nationalitäten, seien es Deutsche, Amerikaner, Kaukasier oder Juden verboten. Und dieses Verbot wird eingehalten. Schmierereien an Synagogen gibt es in Russland nicht.

Weil Tagesschau.de keine konkreten Beispiele für Antisemitismus in Russland gefunden hat, hat man den Begriff „Antisemitismus“ ausgeweitet, auf kritische Äußerungen über Israel und den ukrainischen Präsidenten:

„Auch waren es prominente Persönlichkeiten aus dem Nordkaukasus, die Ängste geschürt und die Stimmung gegen Israel angeheizt hatten. So schrieb der Kampfsport-Champion Chabib Nurmagomedow am 18. Oktober nach der Explosion an einem Krankenhaus von einem Völkermord Israels in Gaza. Sein Instagram-Account hat 35,8 Millionen Follower.

Präsident Putin selbst macht im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine direkt oder vermittelt Stimmung gegen Juden. Dazu zählte seine Bemerkung Anfang September, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei vom Westen als „ethnischer Jude“ installiert worden, um vom Nazismus dort abzulenken.“

Putin: „Man versucht von außen, Pogrome anzustacheln“

Wladimir Putin hatte für Montagabend alle mit Sicherheitsfragen betrauten Spitzenbeamte – auch den Verteidigungsminister Sergej Schojgu – zu einer Beratung wegen der Ausschreitungen im dagestanischen Machatschkala auf seiner Moskauer Vorstadtresidenz Nowo-Ogarewo zusammengerufen. Auf dieser Versammlung fand der russische Präsident deutliche Worte zur Hamas:

„Wir erinnern uns, womit die aktuelle Krise im Nahen Osten begann – mit der terroristischen Attacke gegen friedliche Bürger Israels und anderer Länder auf dem Territorium dieses Staates. Und wir sehen, dass, anstatt die Verbrecher und Terroristen zu bestrafen, leider Rache geübt wird nach dem Prinzip der kollektiven Verantwortung.“

Zur Rolle der Ukraine und der USA führte der russische Präsident aus:

„Ich höre nicht auf, mich über das Kiewer Regime und seine Förderer jenseits des Ozeans zu wundern. Wir wissen, dass Bandera und andere Verehrer von Hitler auf die Ehrentribüne gestellt wurden. Wir wissen und sehen, wie die Führung der Ukraine den Nazis zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, die für den Holocaust verantwortlich sind, applaudiert. Und heute versucht man unter Leitung westlicher Förderer, Pogrome in Russland anzustacheln.“

Die USA würden versuchen, „die Situation im Nahen Osten und anderen regionalen Konflikten gegen Russland zu nutzen“. Man versuche, „die multi-nationale und multi-konfessionelle russische Gesellschaft mit ausgefeilten Technologien der psychologischen und Informations-Aggression zu destabilisieren“. Die „USA und ihre Satelliten“ seien „die Nutznießer der Instabilität auf der Welt.“

Auf der Versammlung, zu der Wladimir Putin am Montagabend alle mit Sicherheitsfragen betrauten Spitzenbeamten versammelt hatte, forderte der russische Präsident alle Sicherheitsorgane und Leiter der russischen Regionen auf, „hart, rechtzeitig und deutlich zum Schutz der russischen Verfassung, der Rechte und Freiheiten der Bürger und der Eintracht zwischen den Nationalitäten und Religionen zu handeln. (…) Das was in Dagestan passierte, wurde durch soziale Netzwerke – auch aus der Ukraine – mit Hilfe von Agenten westlicher Geheimdienste angestachelt.“

Der Leiter der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, der in der Kaukasusrepublik in den letzten zwanzig Jahren schonungslos gegen Terroristen und Untergrundkämpfer vorgegangen war, schlug einen schärferen Ton an. Er rief die Sicherheitskräfte im benachbarten Dagestan auf, „sofort alle Unruhestifter zu verhaften“ und bei Flüchtigen notfalls von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Die Sicherheitsdienste in Dagestan reagierten mit Verspätung

Aus den bisher vorliegenden Berichten aus Dagestan ergibt sich, dass die örtlichen Sicherheitsorgane verspätet eingegriffen haben – warum, ist bisher unklar.

Im Internet waren Plakate aufgetaucht, welche die dagestanischen Behörden in Alarmstimmung hätten versetzen müssen. Der Telegram-Kanal „Untypischen Machatschkala“ rief zur Weiterverbreitung eines antisemitischen Plakates auf.

Am Sonntagabend um 18:30 tauchten schon gepanzerte Mannschaftswagen der „Rosgwardija“ vor dem Flughafen von Machatschkala auf. Aber dass die Demonstranten Türen aufbrechen und aufs Rollfeld stürmen würden, damit hatte scheinbar niemand gerechnet. Zumindest gab es im Flughafen nicht die nötigen Absperrungen.

Die Protestierenden waren äußerst emotional. Unter lautem Geschrei schaukelten sie vor dem Flughafen einen Polizeiwagen. Polizisten, die sich den Demonstranten in den Weg stellten, wurden angefallen.

Der Flughafen von Machatschkala wurde nun für einige Tage geschlossen. Flüge aus Israel sollen auf andere russische Flughäfen umgeleitet werden.

Der Mufti von Dagestan versuchte, die Gläubigen in Dagestan in einer Video-Ansprache zu beruhigen. Er zeigte Verständnis für die Sorge um die Menschen im Gazastreifen. Aber:

„Was die heutige Aktion betrifft, ich sage es ihnen ehrlich. Sie täuschen sich. Auf diesem Weg wird die Frage nicht gelöst. (…) Wenn ein Flugzeug mit Bürgern Israels bei uns landet, kann man das nicht mit solchen Aktionen verhindern. Wir werden mit den zuständigen Personen sprechen und versuchen, das Problem zu lösen. Auf andere Weise, nicht mit Emotionen, nicht mit Kundgebungen. Wir wünschen ein Maximum an Geduld und Ruhe.“

Die Besonderheiten von Dagestan

Die muslimisch geprägte Republik Dagestan ist eine sehr besondere Region. Die Menschen leben vor allem von der Landwirtschaft, wenn sie nicht als Arbeitsmigranten im russischen Kernland arbeiten. Industrie gibt es nur wenig. Die Löhne sind niedrig.

Ein großer Teil der Republik besteht aus Gebirge. Die Berge haben eine Höhe von bis zu 4.400 Metern. Es gibt Talsperren mit sechs großen Wasserkraftwerken zur Stromerzeugung. In Dagestan leben zahlreiche überwiegend muslimische Nationalitäten. Die größten nationalen Gruppen in Dagestan sind die Awaren, gefolgt von den Darginern, Kumyken, Lesginern und Aserbaidschanern.

Es gibt auch die ethnische Gruppe der sogenannten Berg-Juden (Gorskije Ewrei). Die Gesamtzahl der „Berg-Juden“ im Nordkaukasus beträgt etwa 50.000 Menschen. Das Oberhaupt der Republik Dagestan, Sergej Melikow, erklärte nach den Ausschreitungen in Machatschkala, „alle Versuche, die Rechte der Berg-Juden einzuschränken, werden hart unterbunden. Die Berg-Juden leben in Dagestan schon mehrere Jahrhunderte. Das sind solche Dagestaner wie wir alle.“ Die Berg-Juden hätten einen „unschätzbaren Teil an der Kultur in Dagestan“. Unter ihnen gäbe es bekannte Komponisten, Dichter und Künstler.

Faktisch bewahrte die Zersplitterung Dagestans in zahlreiche Nationalitäten und Clans vor einer separatistischen Bewegung wie sie im mono-ethnischen Tschetschenien im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion 1991 entstand und zum ersten Tschetschenien-Krieg 1994 führte.

Salafiten und Wahhabiten

Ich habe Dagestan mehrmals besucht, zuletzt 2010. Damals fiel mir auf, dass viele junge Männer Bärte in der Art der Salafiten trugen. Es gab Imbissstuben und Restaurants, die am Eingang mit Verbotszeichen gegen „Raucher“, „Schweinefleisch“ und „Alkohol“ gekennzeichnet waren.

Damals berichteten selbst russische Medien davon, dass Geschäftsleute sich bewaffnete Banden halten, die sich in den Bergen verstecken und gelegentlich Kioske von Geschäftskonkurrenten abfackelten. Radikale Islamisten verübten in den 2000er Jahren Terroranschläge gegen muslimische Geistliche.

1999 war für Dagestan ein Schlüsseljahr. Ein islamistisches Kommando unter Führung des Tschetschenen Schamil Bassajew und dem jordanischen Söldner Ibn al-Chattab fiel am 7. August 1999 in Dagestan ein, wo sie aber von einer einheimischen Bürgerwehr und der russischen Armee zurückgeschlagen wurden. Das Ziel des Kommando-Unternehmens war, gemeinsam mit wahhabitischen Gruppen, die in Dagestan im Untergrund lebten, ein „nordkaukasisches Kalifat“ zu gründen.

Am 9. August 1999, also nur zwei Tage nach dem Beginn der tschetschenischen Kommando-Aktion wurde Wladimir Putin – bis dahin Chef des russischen Geheimdienstes FSB – von Präsident Boris Jelzin zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Am 23. September 1999 begann auf Befehl des damaligen Präsidenten Boris Jelzin die Rückeroberung von Tschetschenien, welches sich seit 1996 unter vollständiger Kontrolle von Separatisten und Islamisten befand. Der zweite Tschetschenienkrieg endete erst 2003.

Doch mit dem Sieg der russischen Armee endete der Kampf gegen den Islamismus in Tschetschenien nicht. Ramsan Kadyrow, der selbst im ersten Tschetschenienkrieg gegen die russische Armee gekämpft hatte, wurde mit russischer Unterstützung zum Präsidenten Tschetscheniens. Kadyrow schaffte es, einen großen Teil der ehemaligen Separatisten für den friedlichen Wiederaufbau von Tschetschenien zu gewinnen. Diejenigen, die weiter im Untergrund Terroranschläge gegen die neue, von Russland unterstützte Macht in Tschetschenien organisierten, verfolgte Kadyrow erbarmungslos. Zur Abschreckung wurden sogar die Häuser von Familien gesuchter tschetschenischer Terroristen abgebrannt.

Sollten sich die extremistischen Bestrebungen in Dagestan verstärken, ist damit zu rechnen, dass die russischen Sicherheitsorgane – vielleicht mit Unterstützung von Ramsan Kadyrow – diese Bestrebungen hart unterbinden.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto