Sersch Sargsjan "hat sein Talent, an der Macht zu bleiben, überschätzt", meinte der Politologe Nikolaj Silajew vom Moskauer Zentrum für Probleme des Kaukasus. Unter denen, welche die Proteste in Armenien initiiert haben, seien "nicht wenige, welche finanzielle Unterstützung aus dem Westen bekommen".
Die Amtsgeschäfte des Ministerpräsidenten führt jetzt der bisherige stellvertretende Ministerpräsident Karen Karapetjan.
Ein neuer Maidan?
Droht in Armenien nun ein ukrainisches Szenario? Völlig ausgeschlossen ist das nicht. Oppositionsführer Nikol Paschinjan will sich mit dem Rücktritt von Sersch Sargsjan nicht zufriedengeben. Er fordert Neuwahlen. Der geschäftsführende Ministerpräsident müsse ein Mann "aus dem Volk sein".
Der 42 Jahre alte Paschinjan wurde in Armenien als regierungskritischer Journalist bekannt. Er wurde 2010 wegen angeblicher Anstachelung von Massenunruhen zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, nach einem Jahr Haft aber im Rahmen einer Amnestie freigelassen. Seit 2012 ist Paschinjan Parlamentsabgeordneter. Seit 2017 ist er Leiter der Parlamentsfraktion des liberalen Wahlbündnisses "Yelk", das bei den Parlamentswahlen im selben Jahr sieben Prozent der Stimmen erhielt.
Verarmung schürte Unzufriedenheit
Die Proteste gegen den Ministerpräsidenten begannen in der Provinz. Eine Ursache des Protestes war "die katastrophale sozial-ökonomische Lage", berichtet die Moskauer Nesawisimaja Gaseta.
Der zweite Grund für die Massenproteste war, dass Sargsjan nicht Wort gehalten hatte. Sargsjan war zehn Jahre lang Präsident Armeniens gewesen und hatte versprochen, sich nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident nicht mehr für ein hohes Staatsamt zu bewerben.
Doch der 63 Jahre alte, erfahrene Politiker hielt sein Versprechen nicht und ließ sich zum Ministerpräsidenten wählen, wohl wissend, dass seine Popularität wegen sinkender Einkommen und anhaltender Korruption im Land stark gefallen war.
Da Armenien auf Initiative Sargsjans gerade eine Verfassungsreform hinter sich hatte, durch die sich das Land von einer Präsidial- zu einer parlamentarischen Republik wandelt, konnte Sargsjan, als er am 17. April 2018 dass Amt des Ministerpräsidenten antrat, mit ähnlich weitreichenden Vollmachten regieren wie in seiner Zeit als Präsident.
Massenfestnahmen brachten das Fass zum Überlaufen
Der dritte Grund für die Proteste, der das Fass dann zum Überlaufen brachte, war das harte Vorgehen gegen die Opposition, der sich auch sehr viele Jugendliche angeschlossen hatten.
Der Machtkampf zwischen Opposition und Ministerpräsident Sargsjan spitzte sich am Sonntag zu. Bei einem nur dreiminütigen Treffen des Ministerpräsidenten mit dem Oppositionsführer Nikol Paschinjan erklärte Paschinjan, es gebe nur eine Frage, über die verhandelt werden könne, den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Sargsjan beendete das Treffen mit dem Oppositionsführer.
In einem letzten Kraftakt versuchte der Ministerpräsident, der Macht der Straße Herr zu werden. 277 Demonstranten wurden verhaftet, darunter auch Oppositionsführer Paschinjan und zwei seiner Helfer.
Die Festnahmen heizten den Konflikt nur noch mehr an. Am Sonntagabend versammelten sich auf dem Platz der Republik im Zentrum von Jerewan 150.000 Menschen. Die Kundgebung war "nicht schlechter organisiert als die Kundgebungen davor", berichtete die Nesawisimaja Gaseta.
Am Montag gab es in Jerewan und anderen Städten Armeniens erneut Proteste. Straßen wurden blockiert. In Jerewan nahmen nun auch Soldaten und sogar Polizisten in Uniform an den Demonstrationen teil. Dies war ein deutliches Signal, dass sich die Stimmung in der armenischen Elite geändert hatte.
Plötzlich war der Ministerpräsident seiner Macht überdrüssig
Um 15 Uhr gab der Ministerpräsident – erst sechs Tage im Amt – seinen Rücktritt bekannt. Während Sargsjan sich zunächst mit allen Tricks an die Macht zu klammern schien, so schien er der Macht nun plötzlich überdrüssig. Sargsjan erklärte: "Nikol Paschinjan hat recht. Ich habe einen Fehler gemacht. In der gegebenen Situation gibt es mehrere Entscheidungen, doch ich bin zu keiner dieser Entscheidungen bereit." Weiter erklärte Sargsjan, er wünsche dem Land "Frieden, Harmonie und einen gesunden Menschenverstand.
Der Politologe Mikael Soljan erklärte gegenüber der Moskauer Nesawisimaja Gaseta:
Sargsjan hatte nur noch die Möglichkeit, den Notstand auszurufen und Gewalt anzuwenden. Aber dafür braucht man die Unterstützung des Parlaments. Doch es zeigte sich, dass er sich nicht auf das Parlament stützen kann.
Die politische Elite will weiter die Fäden in den Händen halten
Die politische Elite habe Sargsjan "geopfert", meint der wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentrums für die Probleme des Kaukasus und die regionale Sicherheit, Nikolai Silajew. Durch den Rücktritt von Sargsjan "behält die politische Klasse Armeniens die politischen und ökonomischen Machtmittel".
Die politischen Mitstreiter des zurückgetretenen Ministerpräsidenten kontrollieren weiter das Parlament, schreibt die Nesawisimaja Gaseta. "Sie haben gute Chancen, ihre Macht in außerordentlichen Parlamentswahlen zu behalten."
Russland mischt sich nicht ein
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte am Montag:
Armenien ist unser engster Verbündeter. Armenien ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das ist für uns besonders wichtig. Deshalb beobachten wir sehr genau, was in diesem Land passiert.
Am Dienstag erklärte Peskow: "Wir sehen, dass die Entwicklung in Armenien nicht zur Destabilisierung führt. Was in Armenien passiert, ist Angelegenheit unserer armenischen Freunde. Wir hoffen, dass in dem Land die Ordnung und Stabilität aufrechterhalten wird und dass in absehbarer Zeit eine politische Konstellation sichtbar wird, die alle politische Kräfte in Armenien repräsentiert."
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, erklärte via Facebook:
Ein Volk, welches die Kraft hat, sich sogar in schwierigen Momenten seiner Geschichte ungeachtet grundlegender Meinungsverschiedenheiten nicht zu spalten und die Achtung voreinander zu behalten, ist ein großes Volk." Die Erklärung endet mit den Worten: "Armenien, Russland ist mit Dir!
Das deutsche Außenministerium erklärte am Montag: "Nach dem heute angekündigten Rücktritt des armenischen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan rufen wir alle Seiten auf, auch in den kommenden Tagen Besonnenheit und Dialogbereitschaft walten zu lassen." Die Deutsche Welle hofft offenbar auf mehr. Sie titelte reißerisch: "Der Rücktritt von Sargsjan: Ein Schock für Putin?"
Keine Massenbasis für anti-russische Politik
In Armenien hat es in den letzten 25 Jahren immer wieder große Straßenproteste gegeben. Doch noch nie waren die Proteste so groß wie in den letzten zwölf Tagen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, in Armenien drohten jetzt ukrainische Zustände. Wie in der Anfangsphase des Maidan in Kiew, als es in der Nacht des 30. November 2013 zu einem harten Polizeieinsatz gegen Maidan-Demonstranten gab, so führte auch in Jerewan ein maßloser Polizeieinsatz am 22. April 2018 dazu, dass die Machthabenden die Kontrolle über die Straße endgültig verloren. Wie in Kiew schwoll die Zahl der Demonstranten in Jerewan auf weit über 100.000 an.
Doch es gibt einiges, das gegen eine Entwicklung nach dem "ukrainischen Szenario" spricht. Das Wichtigste ist wohl, dass eine antirussische Politik in Armenien keine Massenbasis hat. Russland hat den Armeniern während des Völkermordes 1915 geholfen. Armenier flüchteten vor dem Terror nach Russland. Am heutigen Dienstag gedachten die Armenier im Rahmen eines Trauertages des Genozids von 1915, bei dem 1,5 Millionen Armenier in der Türkei starben.
Russland an seiner Seite zu wissen, ist angesichts der Lage Armeniens ein Plus. Die Grenze zur Türkei ist immer noch geschlossen. An den Grenzen der von Armenien unterstützten, aber international nicht anerkannten armenischen Republik Bergkarabach kommt es ständig zu Schießereien mit der Armee Aserbaidschans.
Doch es gibt auch Parallelen zur Ukraine. Die soziale Situation in Armenien ist angespannt, die Korruption hoch. Der Oppositionsführer Nikol Paschinjan ist anti-russisch eingestellt. Er möchte Armenien aus der Eurasischen Wirtschaftsunion lösen.
veröffentlicht von RT deutsch