16. April 2014

«Auf wen wollt ihr denn schiessen?»

In der Ostukraine sorgen sich die Menschen vor allem um ihre Arbeitsplätze und fürchten die Sparmassnahmen der Regierung. Russland hat kein Interesse, das Gebiet zu annektieren.

Von Ulrich Heyden, Moskau

«Stell den Motor ab. Auf wen wollt ihr denn schiessen?», schrien die Männer des örtlichen prorussischen «Selbstschutzes» den Soldaten im ukrainischen Panzer zu. Ein Video im Internet zeigt die Szene am Rand der Stadt Rodinskoje. Der Ort im Osten der Ukraine liegt nicht weit von Slowjansk, wo prorussische Aufständische seit Samstag die Gebietsverwaltung sowie die Polizei- und Geheimdienstzentrale besetzt halten.

Die etwa fünfzig Männer in Zivil verfolgten den alten, qualmenden T-64-Panzer der ukrainischen Armee zu Fuss. Ein gelber Niva-Geländewagen stellte sich immer wieder quer vor den Stahlkoloss und versuchte auf diese Weise, das Monstrum aus Sowjetzeiten zu stoppen. Waffen hatten die Männer nicht, zumindest waren keine zu sehen.

Der Fahrer des Panzers versuchte, den Männern auszuweichen. Das qualmende Ungetüm setzte vor und zurück, steckte in einem Graben fest, kreuzte eine Strasse, fuhr über ein Feld und blieb schliesslich stehen. Die Besatzung stellte den Motor ab. Die Männer des örtlichen «Selbstschutzes» umringten den Panzer und bombardierten die Soldaten mit Fragen. «Was ist eure Aufgabe?» Die Panzerbesatzung antwortete nicht. Es wirkte so, als ob die Soldaten selbst nicht wussten, wie sie in diese Gegend gekommen waren.
Fehlende Kampfmoral

Im Internet kursierten in den vergangenen Tagen zahlreiche ähnliche Videos, die zeigen, wie grosse Gruppen von ZivilistInnen in der Ostukraine ukrainische Militärfahrzeuge stoppen. Manchmal führen diese Aktionen sogar zur Entwaffnung ukrainischer Militäreinheiten, wie am Samstag vor der Stadt Artemiwsk, als eine Gruppe der Nationalgarde nach langen Diskussionen vom Lastwagen absteigen und die Waffen abgeben musste.

Anhand der Videos und aufgrund von Augenzeugenberichten wird deutlich, dass es den SoldatInnen der ukrainischen Armee an Kampfmoral mangelt. Wer möchte schon für eine Julia Timoschenko sterben, die als Gastycoonin reich wurde und nun vollmundig eine «Volkswehr» gegen die «russische Aggression» fordert?

Nicht nur Timoschenko, auch die neue ukrainische Führung und westliche Medien unterstellen Russland, es wolle sich nach der Annexion der Krim nun auch die Ostukraine einverleiben. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow erklärt dagegen immer wieder, dass Russland auf keine weiteren Gebiete der Ukraine Anspruch erhebt. Was stimmt nun?
Spontan und selbstorganisiert

Tatsächlich freut sich Moskau über die Protestbewegung in der Ostukraine, denn sie macht der Nato-freundlichen Regierung in Kiew das Leben schwer. Aber an der Aufnahme einer Problemregion, wie es die Ostukraine ist, hat der Kreml kein Interesse.

Die prorussische Protestbewegung in der Ostukraine ist auch eine Bewegung zum Schutz von Arbeitsplätzen, Löhnen und sozialen Leistungen (siehe WOZ Nr. 14/2014). Eine solche soziale Protestbewegung, die sich auch noch gegen den Faschismus abgrenzt, könnte in den Weiten Russlands – wo es viele soziale Brennpunkte gibt – viel NachahmerInnen finden. Daran wird dem Kreml nicht gelegen sein.

Der Aufstand in der Ostukraine kann auch nicht als Produkt russischer Geheimdienstarbeit abqualifiziert werden. Er ist vielmehr ein relativ spontaner und selbstorganisierter Protest. Wie auch der prowestliche Aufstand auf dem Maidanplatz in Kiew hat die Protestbewegung in der Ostukraine vor allem soziale Ursachen.

Woher sollen die vielen russischen Agenten und getarnten Soldaten denn auch kommen? Die russisch-ukrainische Grenze ist für russische Männer so gut wie dicht. Wie das ukrainische Internetportal Korrespondent.net berichtete, hat der ukrainische Grenzschutz in den letzten Wochen 12 000 BürgerInnen der Russischen Föderation die Einreise verweigert. Die Abgewiesenen wurden verdächtigt, dass sie die Situation in der Ukraine destabilisieren wollen. Die russische Regierungszeitung «Rossiskaja Gaseta» berichtete zudem, dass viele russische JournalistInnen nur unter Vorwänden in die Ukraine einreisen können, etwa getarnt als angebliche TeilnehmerInnen einer Schulung für Wirtschaftsfachkräfte.
Turtschinow kommt zu spät

Am Montag, eineinhalb Monate nach dem Machtwechsel in Kiew, ging Übergangspräsident Olexandr Turtschinow nun das erste Mal einen Schritt auf die Ostukraine zu. Er signalisierte Verständigungsbereitschaft gegenüber der Protestbewegung, die eine Volksabstimmung über die Föderalisierung des Landes fordert, und sprach sich nun auch für ein Referendum aus. Das Angebot des Übergangspräsidenten kam jedoch zu spät und wirkte für die Protestbewegung unglaubwürdig, da es zu wenig konkret ist und nicht genau definierte, was bei einem Referendum gefragt werden soll. Die AktivistInnen der Protestbewegung lehnten den Vorschlag aus Kiew auch deshalb ab, weil sie das Referendum noch vor den Präsidentschaftswahlen abhalten wollen und nicht zeitgleich mit den Wahlen am 25. Mai, wie von Turtschinow geplant.

Sehr ernst hatte es Turtschinow mit seinem Versöhnungsangebot offenbar auch nicht gemeint. Denn am Dienstag schickte der Übergangspräsident Armeeeinheiten, Panzer, Kampfhelikopter und Kampfflugzeuge in die Konfliktgebiete. Dort hatte die prorussische Protestbewegung am Wochenende in zehn Städten Gebietsverwaltungen, Polizei- und Geheimdienstzentralen besetzt. Im ostukrainischen Ort Kramatorsk eroberte die ukrainische Armee einen von prorussischen Kräften besetzten Militärflughafen zurück. Dabei sollen mindestens vier prorussische Aktivisten getötet worden sein. Nach der Aktion des ukrainischen Militärs besetzten Hunderte empörte AnwohnerInnen die Landebahn des Flughafens.

Ob die Offensive des ukrainischen Militärs die Besetzungen beenden kann, ist allerdings fraglich. Die westlich orientierte russische Zeitung «Kommersant» kommentierte, Kiew habe «weder einen klaren Plan noch das nötige Militärpotenzial» dazu. Am Mittwoch berichtete ein Korrespondent von «Spiegel Online» von sechs Panzerbesatzungen in Kramatorsk, die die Seite gewechselt hätten und nun mit russischen Fahnen durch die Stadt fahren würden.

Bis Redaktionsschluss blieb unklar, wie sich die Situation weiterentwickelt. Klar ist jedoch, dass mit der Militäroffensive die Gefahr von grösseren bewaffneten Konflikten innerhalb der Ukraine gestiegen ist.

veröffentlicht in: Die Wochenzeitung

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