Begehrte Orden: In Russland leben Veteranen gefährlich
Alte Männer werden in Moskau und anderen Städten immer häufiger Opfer gewalttätiger Andenken-Jäger.
MOSKAU. Von Ulrich Heyden, MZ
„Leg’ das Messer hin“, sagte jemand hinter Michail Schmelew. Der alte Mann, ein Kriegsveteran, der mit seiner Frau in einem Haus nicht weit von der südrussischen Stadt Pensa wohnt, saß beim Kartoffelschälen. Zwei Einbrecher hatten sich Zutritt zur Wohnung des Rentners verschafft. Mitten in der Nacht hatte der alte Mann Hunger verspürt, aber die Einbrecher nicht bemerkt.
Sie waren betrunken und kamen in der verhängnisvollen Nacht Ende Februar gleich zweimal durch ein Fenster in die Wohnung. Beim ersten Mal nahmen sie ein Blutdruckmessgerät und zwei Weltkrieg-Jubiläums-Medaillen mit. Beim zweiten Mal, ein paar Stunden später, die beiden alten Herrschaften waren inzwischen wach, stahlen die Diebe zwei Damenhandtaschen mit Geld und Ausweisen. „Wir können froh sein, dass wir noch leben“, sagt die Frau von Michail Schmelew.
Aus allen Teilen Russlands kamen in den vergangenen Wochen Meldungen von Überfällen auf Kriegsveteranen. „Über das Land rollt eine Welle von Diebstählen“, schrieb die Zeitung Iswestija angesichts der Vorfälle. Ein besonders gewalttätiger Überfall ereignete sich am 10. Februar in der südrussischen Stadt Lipezk. Der 92-jährige Kriegs-Veteran Wasili Poltawtsew wurde von zwei Einbrechern mit mehreren Schlägen auf den Kopf niedergestreckt. Die Tochter des Überfallenen fand ihren Vater am nächsten Tag in einer Blutlache liegend. Zwei Wochen später starb Poltawtsew in einem Krankenhaus der Stadt.
Der 29-jährige Einbrecher suchte angeblich nach einer Pistole, mit der der Veteran ausgezeichnet worden war. Die Waffe fand er nicht, trotzdem machte er reiche Beute: Zwei Orden „Roter Stern“, ein Orden „Großer Vaterländischer Krieg zweite Stufe“, 16 Jubiläumsmedaillen, 7000 Rubel Rente (170 Euro) und ein Handy fielen ihm in die Hände. Der Einbrecher wurde nach drei Tagen, für russische Verhältnisse ungewöhnlich schnell, gefasst. Möglicherweise strengte sich die Polizei einmal an, denn der Beraubte war elf Jahre lang Leiter der Justizvollzugsanstalt in Lipezk gewesen. Die Orden hatte der Einbrecher für 6000 Rubel (145 Euro) an einen Hehler verkauft.
Militaria-Händler reißen sich um die Erinnerungsstücke, die auf Flohmärkten auch an Touristen verkauft werden. Der Orden „Vaterländischer Krieg“ mit dem fünfzackigen roten Stern und dem Hammer und Sichel-Symbol wird auf dem Schwarzmarkt für bis zu 600 Euro gehandelt. Die Tapferkeitsmedaille „Otwagu“ ist 490 Euro wert. Nun naht das 65. Jubiläum des Sieges über die Hitler-Wehrmacht. Deshalb steigen die Preise noch.
Von den Kriegsveteranen sind nur noch wenige am Leben. Und eh die Orden in den sicheren Besitz der Nachkommen übergehen, schlagen die Diebe bei den wehrlosen Rentnern zu. Dabei geben sie sich als Mitarbeiter der Gasversorgung oder des Sozialamtes aus. Auch als Museums-Mitarbeiter verschaffen sich Betrüger Zutritt zu Wohnungen. Wenn die Diebe erst einmal in der Wohnung sind, führt der direkte Weg zum Kleiderschrank. Dort hängt die „Ordensjacke“ des Veteranen, ein Jackett, das mit bis zu 20 Orden und Medaillen geschmückt ist. Es wird nur zu Festtagen getragen.
Die Veteranen leben meist ärmlich und werden von der Öffentlichkeit im Alltag kaum noch wahrgenommen. Das ändert sich jedoch in diesen Wochen. Das 65. Jubiläum des Sieges über die Hitler-Truppen will der Kreml groß mit Militärparaden feiern. Präsident Dmitri Medwedew hat den noch lebenden Veteranen zum Feiertag am 9. Mai Wohnungen und eine bessere soziale Versorgung versprochen.
Ob der Festtag die Bestohlenen wieder aufrichtet? „Mit aller Kraft versuchen wir ihn aus dem Schockzustand zu befreien“, sagt Olga, die Tochter von Jewegni Rogow. Dem 85-Jährigen aus Wolgograd wurde im November 2008 die Ordensjacke gestohlen. „Man hat das Teuerste beleidigt, was er hatte. Die Erinnerung!“, meint Olga.
Angesichts der Welle von Überfällen hat die Stadtverwaltung von Moskau den Veteranen inzwischen vorgeschlagen, ihre Jacken dem örtlichen Streitkräfte-Museum zur zeitweiligen Aufbewahrung zu übergeben.
"Mittelbayrische Zeitung"