19. May 2025

Bericht - Kursk zwischen Trotz und Angst (Globalbridge.ch)

Hier in Kursk stehen nur die Namen der gefallenen russischen Soldaten, leider ohne Altersangabe, sonst sähe man, dass es vor allem auch junge Männer getroffen hat. (Foto Ulrich Heyden)
Foto: Hier in Kursk stehen nur die Namen der gefallenen russischen Soldaten, leider ohne Altersangabe, sonst sähe man, dass es vor allem auch junge Männer getroffen hat. (Foto Ulrich Heyden)

19. Mai 2025 Von:  in Militär

(Red.) Kursk! Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ein wenig auskennt, weiss: Nach der Schlacht bei Stalingrad im Winter 1942/43 mit zusammen über zwei Millionen Toten war die gigantische Schlacht bei Kursk im Juli 1943 – die sogenannte Operation Zitadelle – die zweite und entscheidende Niederlage der deutschen Wehrmacht in ihrem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Auf sowjetischer Seite kamen dabei um die 180’000, auf deutscher Seite um die 55’000 Soldaten ums Leben. Aber es war der definitive Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Das ist in Kursk nicht vergessen! In falscher Einschätzung der Situation gelang es im August 2024 der ukrainischen Armee in einem Überraschungsangriff, einige russische Städte und Dörfer der Region Kursk zu erobern, aber nur für einige Monate. Ulrich Heyden – die Globalbridge-Leser kennen ihn von einigen anderen Berichten – hatte Gelegenheit, dorthin zu gehen und sich mit dortigen Menschen zu unterhalten. (cm)

Das russische Gebiet Kursk, das direkt an die Ukraine grenzt, ist trotz der Zurückschlagung der ukrainischen Truppen, die Teile des Gebiets von August 2024 bis April 2025 besetzt hielten, immer noch Kriegsgebiet. Seit dem 5. Mai versuchen ukrainische Truppen erneut über die russische Grenze in das Gebiet Kursk vorzudringen, diesmal im Gluschkowski Rayon. Ziel  der ukrainischen Raketen-Angriffe ist jetzt das in einem russischen Grenzbogen gelegene Dorf Tetkino (1). Am Vormittag des 15. Mai, unmittelbar vor dem Beginn der russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul, feuerten die ukrainischen Streitkräfte vier HIMARS-Raketen (2) auf Tetkino. Eine Brücke wurde zerstört (3). Eine Kirche brannte aus (4). Ich war Anfang Mai in der Region Kursk und wurde Zeuge anhaltender kriegerischer Handlungen.

Es war am 8. Mai 2025. Die vom russischen Präsidenten einseitig ausgerufene Waffenruhe war bereits in Kraft. Doch als ich morgens um sieben Uhr in meinem Hotel aufwache, höre ich von der Straße Sirenengeheul. Es ist wieder Luftalarm. Bis zur ukrainischen Grenze sind es nur 150 Kilometer.

Das Sirenengeheul hörte ich in Kursk mehrmals am Tag. Manchmal hörte man parallel über Lautsprecher auch die Ansage, „bitte gehen Sie in die Schutzräume“. An den Bus-Haltstellen hatte die Stadtverwaltung kleine, zweieinhalb Meter hohe Kästen aus Beton aufgestellt. Sie bieten bei Gefahr Schutz vor Bombensplittern. Doch als die Sirenen heulten, sah ich nie jemanden in die Bunker eilen. 

In Kursk war ich als Teilnehmer einer von der russischen Gesellschaftskammer und der Journalisten-Union von Kursk organisierten Reise. In dem Gebiet herrscht, wegen der fortwährenden ukrainischen Angriffe, erhöhte Sicherheitsstufe. Als ausländischer Journalist ohne Begleitung durch das Gebiet zu reisen, ist nicht möglich. An den Eingängen der Städte kontrollieren schwerbewaffnete Polizisten in Kampfanzügen stichprobenartig Autos.  

Meine Begleiter zeigten mir Stellen in Kursk, wo bei Angriffen ukrainischer Drohnen in der Nacht auf den 15. April schwere Beschädigungen entstanden. In der Wespremskaja Straße, westlich des Stadtzentrums von Kursk, sah ich ein schwer zerstörtes, achtstöckiges Mehrfamilienhaus. Die Explosion einer Drohne hatte ein Loch in das Gebäude gerissen, das sich über die fünf oberen Etagen erstreckte. Teile des Lochs waren verkohlt. Viele Fenster des Hauses waren durch die Druckwelle entglast oder nur notdürftig mit Plastikfolie verschlossen. Vor dem Haus standen Container mit Schutt. In dem Gebäude wohnt niemand mehr, erzählten Nachbarn.

Oleg, ein etwa 60 Jahre alter Anwohner aus einem benachbarten Mehrfamilienhaus, erzählte, der Drohnenangriff sei „schrecklich“ gewesen. „Wir lebten friedlich, aber jetzt werden wir von Nazis bedroht“. Seine Frau guckte argwöhnisch in meine Richtung und versuchte ihren Mann ins Haus zu ziehen, aber Oleg hatte sich in Rage geredet. „Wer sind die Feinde? Die Deutschen!“ Dabei lächelte er. Offenbar ahnte er, dass wir aus der EU kamen …

Ob er Verwandte in der Ukraine habe, frage ich Oleg. „Natürlich. Wir haben zusammen in der Armee gedient.“ Aber jetzt habe er zu niemandem mehr Kontakt. Mit den Bekannten in der Ukraine sei das so eine Sache, „entweder sie sind eingeschüchtert oder sie leben in einer anderen Welt.“

„Die Wände sind feucht, es riecht nach Brand“

Wir besichtigten noch ein zweites, schwer beschädigtes Mehrfamilienhaus. Es liegt ebenfalls am Westrand von Kursk in der Orlowskaja Straße Nr. 34. Wir stiegen die Treppen hoch und klingelten an einer Tür. Eine 52 Jahre alte Frau im Morgenmantel öffnete uns. Sie hieß Irina Awtochowa. Sie erzählte, sie arbeite in einer Fabrik, sei aber krankgeschrieben. Offenbar weil ich von einer Russin begleitet wurde, redete sie ohne Angst. Sie sagte, dass sie in der Nacht auf den 15. April aufwachte, weil sie das Surren einer Drohne hörte, die lange über dem Haus kreiste. 

„Nach der Explosion habe ich zunächst gar nicht verstanden, was los war. Bei mir fielen Blumentöpfe vom Fensterbrett. Bei den Nachbarn, die auf der anderen Seite des Hauses wohnen, wo die Sprengladung explodierte, sind die Fensterrahmen rausgeflogen. Die Gardinen verhinderten, dass gesplittertes Glas in ihre Wohnung flog. Sie wurden von der Explosion im Schlaf überrascht. Die Nachbarn schrien, es brennt.“ Sie habe dann schnell mit ihrem Mann ein paar Sachen und Ausweise zusammengesucht, die Katze in eine Tasche gepackt und die Wohnung verlassen. Ob es Panik gab?, frage ich. „Nein, eine Panik gab es nicht. Es lief alles organisiert. Die Bewohner unseres Hauses konnten in einer Schule etwas essen. Ich habe dann erstmal bei Verwandten gewohnt.“ Nun sei sie dabei, alles zu waschen, denn es rieche immer noch nach Brand. Von dem Löschwasser und weil durch die Explosion ein Heißwasserrohr platzte, seien die Wände und Decken noch feucht. Die Hausverwaltung habe versprochen, die Wohnungen zu renovieren. 

Tulpenbeete und feine Restaurants

Kursk ist eine sehr schöne, saubere Stadt. Überall blühen jetzt die Kastanienbäume und die Fliederbüsche. Es gibt nicht viel Verkehr, aber Leben in der Stadt gibt es schon. Offiziell leben hier 430.000 Menschen. Die Lenin-Straße im Zentrum ist so etwas wie das Herz der Stadt. Dort sieht man die Gebäude der Stadt- und Gebietsverwaltung im Stalin-Stil, der an Neo-Klassizismus erinnert. 

Entlang der mit Tulpenbeeten verzierten Straße reihen sich Geschäfte und Restaurants im italienischen Stil und in modernem Design mit großen Sälen und hohen Decken. Abends versammeln sich Jugendliche auf einem Platz, nahe der Straße. Ein junger Mann singt zu einer elektrisch verstärkten Gitarre. Alles scheint normal, wie immer. 

Zwei Meter hohe fünfzackige Sterne stehen am Rande der breiten Fußgängerwege. Sie demonstrieren so etwas wie Zuversicht. Die kommt nicht von ungefähr. Im Zweiten Weltkrieg gelang es der Roten Armee in einer 49 Tage dauernden Schlacht um den sowjetischen Frontbogen, der sich um die Stadt Kursk legte, die letzte deutsche Großoffensive auf dem Boden der UdSSR zurückzuschlagen. Beide Seiten hatten gewaltige Mengen an Panzern in die Schlacht geworfen, die Sowjetunion 3.400, die deutsche Seite 2.700.

Die Erinnerung hat sich in das Gebiet Kursk eingebrannt. Später besuchten wir zwei große Denkmäler, die an die Schlacht um den „Kursker Bogen“ erinnern, auf der Teplowski-Höhe und vor der Stadt Ponyri, wo es eine Entscheidungsschlacht um einen Eisenbahnknotenpunkt gab. 

Mit der „Operation Zitadelle“ versuchte die Wehrmachtsführung, den russischen Frontbogen um die Stadt Kursk mit Angriffen von Norden und Süden abzuschneiden und die sowjetischen Verbände einzukesseln. Der deutsche Angriff wurde wegen technischer Vorbereitungen lange hinausgezögert. Die Rote Armee nutzte die Verzögerung für den Bau von Verteidigungsanlagen. Aus einem geplanten deutschen Überraschungsangriff wurde nichts. Ein deutscher Kriegsgefangener gab der Roten Armee den Angriffszeitpunkt bekannt. Die deutsche Offensive konnte unter hohen Verlusten zurückgeschlagen werden.

Besuch in Rylsk – 35 Kilometer vor der ukrainischen Grenze

Am 5. Mai fuhren wir in das Städtchen Rylsk. Es liegt 35 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In diesen Tagen ist die Stadt mit ihren 15.000 Einwohnern (5) wieder akut gefährdet. Am 16. Mai wurde bei einer ukrainischen Drohnenattacke auf ein Umspannwerk ein Transformator zerstört, wodurch die Stromversorgung in der Stadt und den umliegenden Dörfern ausfiel, meldete der geschäftsführende Gouverneur von Kursk, Aleksandr Chinstein, auf seinem Telegram-Kanal (6).

Rylsk ist auf den ersten Blick mit seinen alten, einstöckigen Kaufmannshäusern, den vielen Bäumen und dem quadratisch angelegten Straßennetz ein ruhiges und sehr schönes Städtchen mitten im Schwarzerde-Gebiet. Doch auch hier tönten die Sirenen. 

Am 20. Dezember 2014 gingen mehrere ukrainische HIMARS-Raketen auf die soziale Infrastruktur des Städtchens nieder. Getroffen und schwer beschädigt wurden das städtische Kulturhaus, die Schule Nr. 7 und das Pädagogische College. Es brachen Brände aus (7, siehe das Video). 

Vor dem städtischen Kulturhaus, dessen Dach, Fassaden und alle Fenster zerstört wurden, kamen wir mit Maria Kenschewa, einer Pädagogin, ins Gespräch. Sie erzählte, dass wenn die Sirenen heulen, die Bevölkerung administrative und große Gebäude meide, da sie Ziel eines Angriffs sein könnten. Sechs Personen seien in Rylsk in Folge des Krieges gestorben. 

Die Pädagogin erzählte, dass sie seit 2024 Kinder online unterrichte. Nach der ukrainischen Invasion 2024 hätten viele Leute die Stadt verlassen. Die Front verlief damals 15 Kilometer von der Stadt entfernt. 

„Unsere Regierung macht gegen die einfachen Ukrainer keine Stimmung“, so die Pädagogin. „Wir waren und sind Brüder und Schwestern. Ja, es ist schwer, aber in jeder Familie gibt es Streit. Früher oder später endet der Streit, und in der Familie kehrt der Friede zurück.“ Ob sie Verwandte in der Ukraine habe? „Ja ich habe dort Verwandte, wir sind im Kontakt, über Telegram oder wir rufen an. Aber bei ihnen ist es schwieriger. Man rät ihnen, die russischen Telefonnummern zu Löschen.“

Ein Siebzehnjähriger: „Ich hoffe, das alles ist bald vorbei“

Wir machten einen Rundgang durch Rylsk. Vor dem am 20. Dezember ausgebrannten Pädagogischen College trafen wir einen 17-jährigen im schwarzen Sport-Dress. Sein Name: Danil. Er erzählte, dass das College am frühen Nachmittag bombardiert wurde, sich wegen dem Online-Unterricht aber nur die stellvertretende Direktorin im Gebäude befand. Sie wurde verletzt. 

Danil, 17-jährig, vor dem aufgrund von ukrainischen Bomben ausgebrannten Pädagogischen College in Rylsk (Foto Ulrich Heyden)

Danil erzählte weiter, die Situation in der Stadt sei traurig. Wegen dem Online-Unterricht und der Gefahr des Beschusses gäbe es keine Begegnungen mit Gleichaltrigen mehr. Sein Freund lebe jetzt in Kursk. Ich frage den jungen Mann, ob er nachts schlafen könne. „Es ist schrecklich, die Drohnen fliegen. Ich hoffe, dass alles bald vorbei ist.“ 

Seitdem die ukrainische Armee aus dem Kursker Gebiet wieder verdrängt wurde, habe sich die Situation für Rylsk nicht verbessert, erzählt Danil. Ob er ein Ziel habe? Ja, er wolle Psychologe und Spezialist für Lügendetektoren werden. Er wirkt ernst und  entschlossen.

Die Hilfe aus dem Hinterland

Mehrmals konnten wir uns davon überzeugen, dass die russischen Soldaten nicht nur vom russischen Verteidigungsministerium mit Material unterstützt werden. In der russischen Gesellschaft haben sich – ohne Kommando des Kreml – Hilfsstrukturen entwickelt, welche die russischen Soldaten mit allem unterstützen, was schnell verschleißt und nicht immer schnell genug in neuer Ausfertigung an der Front ist, Schlafsäcke, Unterhosen, Medikamente, Drohnen-Ortungsgeräte.

In Rylsk trafen wir in einem Nebengebäude der Kirche „Uspenski Sobor“ Ksenia Charina. Sie leitet die Wohltätigkeitsorganisation „Sicheres Hinterland“. Ich frage sie, warum die Armee nicht all das liefern kann, was die Soldaten täglich brauchen. Sie sagt, „nur wir Frauen können das liefern. Wir haben den engsten Kontakt. Und die Soldaten wollen diese Dinge gerade von uns haben. Wir bringen alles schnell an die Front. Wir kennen die Wege. Wir haben die nötigen Kontakte“, erklärt Charina. Offenbar hat sie Vertrauenspersonen beim Militär. Bürokratische Hürden scheint sie nicht zu kennen. 

Garten-Idylle und verängstigte Rentner

Kurz hinter Rylsk liegt das Dörfchen Borowskoje. Wir besuchten das Dorf, weil es dort einen Drohnenangriff gegeben haben soll. Wir parkten vor einer mit Fichten umgebenen Siedlung mit einem einstöckigen Arbeiter-Wohnheim und Betriebswohnungen eines Reparatur-Unternehmens und schauten uns hier um. 

Die Atmosphäre in dieser Siedlung war romantisch und dramatisch zugleich. Die Häuser waren von frisch angelegten Beeten umgeben, auf den Tulpen wuchsen. Eine ältere Frau arbeitete gebückt in den Beeten. Auf einer Bank vor dem Wohnheim saßen Rentnerinnen, die uns – wohl wegen unserer Kameras – schon von weitem neugierig aber auch ängstlich beäugten. Einige standen von der Bank auf, als wir näherkamen. Die, welche auf der Bank sitzenblieben, erzählten, was in dieser Siedlung vorgefallen war: Am 29. April 2025 wurde das Wohnheim mit einer Drohne beschossen. 

Um Mitternacht, so erzählte eine der Frauen, hätten die Bewohner das Surren einer Drohne gehört. Die Leute hätten versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich löste die Drohne eine Explosion aus, in deren Folge eine Hauswand teilweise einstürzte, Fenster entglast und das Dach zur Hälfte zerstört wurde.

Natürlich stellten wir uns als Journalisten vor. Aber das beruhigte die alten Leute in keiner Weise. Einige unserer Gesprächspartner vor dem Arbeiter-Wohnheim fragten uns, warum es immer dann Beschuss gäbe, nachdem Fremde da waren. Man hielt es offenbar nicht für ausgeschlossen, dass wir Spione im Auftrag der Ukraine sind.

Als wir schließlich nach Kursk zurückfuhren, staunte ich über die Masse von militärischem Gerät, dass uns entgegenkam. Lastwagen, gepanzerte Fahrzeuge und vereinzelt auch Panzer auf Lafetten. Auffällig war, dass alle Fahrzeuge – vom Jeep bis zum Lastwagen – runde Boxen auf dem Dach hatten. Das sind sogennante REP´s, Apparate zur Warnung vor Drohnen. 

Eine Grundschullehrerin: „Die Kinder verstehen alles“

Zurück in Kursk treffen zwei Tage später Mitarbeiterinnen einer weiteren humanitären Organisation. Ihre Aufgabe ist die Beschaffung von medizinischem Material und deren Lieferung an die Front. 

Die Leiterin der Organisation ist eine Kinderärztin mittleren Alters. Die Lagerräume sind bis oben hin gefüllt mit Desinfektionsapparaten für chirurgisches Besteck und anderem medizinischen Gerät. Es sind ausschließlich Frauen, die in dem Lager arbeiten. Wir sehen, wie sie kleine Päckchen mit Medikamenten packen.

An den Wänden hängen zwei Flaggen russischer Marineinfanteristen. Darauf stehen die Unterschriften von Soldaten. Hinter einigen Namen steht ein Kreuz, weil der Soldat gefallen ist. 

Die Leiterin der Hilfsorganisation erzählt uns von einer russischen Einheit, die vom ersten Tag der ukrainischen Invasion an in der Stadt Sudscha gekämpft hat. Von 366 Soldaten dieser Einheit seien 150 gefallen. Leider seien es vor allem junge Soldaten, die zwar sehr motiviert kämpften, aber nicht die Erfahrung hätten, wie die über 50-jährigen. 

Die Einheit, von der sie erzählte, hatte auch die Aufgabe, beim Austritt an die Erdoberfläche die Operation „Potok“ (Strom) zu schützen, bei der 150 russische Soldaten durch eine Gaspipeline in die Stadt Sudscha hinter die ukrainischen Linien gebracht wurden.  

Die Kinderärztin zeigt uns verformte Aluminium-Splitter von ukrainischen Geschossen, die russische Soldaten mitgebracht haben. „Einige Splitter heben wir auf, damit die Leute verstehen, was für eine Situation bei uns herrscht. Nicht alle verstehen es. Die anderen Splitter geben wir an das „Museum Posten Nr. 1“. Es befindet sich in Kursk am Denkmal für die Gefallenen des „Großen Vaterländischen Krieges“.

Vertriebene aus Sudscha berichten

Wir wären gerne nach Sudscha gefahren, in das Gebiet also, dass die ukrainischen Truppen vom August 2024 bis zum März 2025 besetzt hatten. Aber unsere Begleiter rieten uns dringend von diesem Vorhaben ab. Über der Straße nach Sudscha, so erklärten sie, würden ständig Drohnen kreisen. Eine Reise dorthin sei lebensgefährlich.

In Kursk trafen wir in dem Lager für medizinische Hilfe Natalja, eine Grundschullehrerin, die mit ihren beiden Töchtern am 6. August 2024, dem Tag der ukrainischen Invasion, aus Sudscha nach Kursk flüchtete. Zwei Monate vor der Invasion hätten die Ukrainer die Einwohner von Sudscha „mit Drohnen gequält“, erzählte sie. „Man wusste nicht, wann man zur Arbeit gehen konnte. Aufklärungsdrohnen schwebten direkt vor unseren Fenstern.“ Die Flucht aus Sudscha sei nur über Feldwege möglich gewesen, denn „überall wurde geschossen.“ 

Auch in der Stadt Kursk selber hat der sogenannte Gegenangriff der ukrainischen Armee seine Spuren hinterlassen. Hier ein von einer ukrainischen Drohne beschädigtes Haus an der Wespremskaja-Straße. Foto Ulrich Heyden.

„Wie nehmen die Kinder das alles auf?“, fragte ich Natalja. „Die haben alles gesehen und verstehen alles“, antwortet die Lehrerin mit ernstem Gesicht. Ihre Töchter wollten nicht zurück in die inzwischen befreite Stadt. Die Stimmung unter den Kindern sei gedrückt. „Mein Enkel, er ist sieben Jahre alt, wollte zur Neujahrsfeier keine Geschenke“. Als sie diesen Satz sagt, rinnen Tränen über Gesicht.

Im Lager für Evakuierte

Am Rande von Kursk befindet sich das Sport-Lager „Olimpiez“, in dem Flüchtlinge aus Sudscha und anderen von der ukrainischen Armee zeitweise eroberten Dörfern untergebracht sind. Mit Erlaubnis der Lager-Leitung klopften wir an einigen Zimmertüren an und sprachen mit Evakuierten. 

Da war zum Beispiel eine dreiköpfige Familie, Jelena Vitaljewna, die Großmutter, Jekaterina, die 36 Jahre alte Tochter und der sieben Jahre alte Enkel. „Die ukrainischen Soldaten behandelten uns gut“, sagte Jelena. In Sudscha sei erzählt worden, dass ukrainische Soldaten Frauen vergewaltigen, aber sie hätten nichts Derartiges erlebt. „Vielleicht waren es Söldner aus Polen“, sagt Jelena.

Im März dieses Jahres seien sie von ukrainischen Soldaten gewarnt worden, bald würden die Russen und auch Nordkoreaner in Sudscha sein. Es werde gefährlich. Deshalb hätten sie sich am 14. März 2025 entschlossen, zu flüchten. Sie hatten einen Tip erhalten, dass „in einem roten Haus“ russische Freiwillige wohnen, die helfen. Mit Hilfe von drei dieser Freiwilligen, die „Jesus-Christus-T-Shirts“ trugen, seien sie aus Sudscha geflüchtet. „Es ging über ein Moor und mit einem Gummiboot über ein Gewässer.“ Nein, Nordkoreaner hätten sie nicht gesehen.  

Trauriger war die Geschichte, die uns zwei ältere Frauen, Mutter und Großmutter, erzählten. Nachdem ihr Haus durch die Kriegshandlungen zerstört wurde, lebten sie in Sudscha in einem Internat. Nachdem auch das Internat bombardiert worden war und Menschen verletzt wurden, hätten ukrainische Soldaten gesagt, „es wird gefährlich“. 

Die Soldaten begannen mit der zwangsweisen Evakuierung des Internats in die ukrainische Stadt Sumy. Die Mutter erzählte, 51 Menschen – darunter auch ihre Tochter – seien nun dort. Sie stehe mit ihrer Tochter in Kontakt. Angeblich laufen Verhandlungen darüber, dass die zwangsweise Evakuierten über Weißrussland nach Russland zurückgebracht werden. Die Tochter sei anfänglich gut ernährt worden, doch jetzt sei die Ernährung schlecht. Auch habe die Tochter erzählt, dass ihre Psyche angeschlagen sei. Sie wolle nach Hause. 

Als wir das Lager für die Evakuierten verlassen, bin ich froh, dass ich über „die Ukrainer“ nicht nur Schauergeschichten gehört habe, wie bei einigen anderen Gesprächen, wo sogar erzählt wurde, in der Ukraine würden russische Soldaten kastriert, die dann in Russland Selbstmord begehen. Die Stimmung im Frontgebiet Kursk schwankt zwischen Trotz und Angst. Aber wie sollte es auch anders sein?

Aber das Leben geht weiter. In Kursk wissen die Menschen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, dass auch der schlimmste Angriff überlebt werden kann. Hier ein Blick auf die abendliche Lenin-Straße. (Foto Ulrich Heyden)

Anmerkungen:
(1) https://dzen.ru/a/aCcHzZi9JEYV0LmF?ysclid=mas1pkj083866213910
(2) https://life.ru/p/1752315?ysclid=mapbsscmyz878821525
(3) https://lenta.ru/news/2025/05/15/posledstviya-udara-himars-po-kurskoy-oblasti-snyali-na-video/?ysclid=mapawhmerk969801403
(4) https://www.rbc.ru/rbcfreenews/6825be379a79477f0cd81e37
(5) Zahlen von 2021
(6) https://www.interfax.ru/russia/1026136
(7) https://ngs.ru/text/incidents/2024/12/20/74905796/?ysclid=mas2fpg47u366022269

veröffentlicht in: Globalbridge.ch

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