11. June 2010

Das schrullige Genie aus St. Petersburg

Von Ulrich Heyden, Moskau

Der Mathematiker Grigori Perelman pfeift auf ein Preisgeld von einer Million Dollar aus den USA, aber nicht aus politischen Gründen.

Der Skandal war perfekt. Vergeblich wartete die Festgemeinde im Pariser Institut für Ozeanografie am Dienstag auf einen der größten lebenden Mathematiker: Grigori Perelman. Der 43-jährige Mathematiker aus St. Petersburg, der zu den Strukturmerkmalen dreidimensionaler Körper forscht, sollte sein Preisgeld entgegennehmen–einen Scheck in Höhe von einer Million Dollar, ausgeschrieben vom amerikanischen Clay-Institut.

Perelman erschien nicht. Das hatte keine politischen Gründe. Seit 1996 ignoriert das Mathe-Ass alle Auszeichnungen. Einem britischen Journalisten rief der Forscher kürzlich durch die geschlossene Tür zu: „Ich habe alles, was ich brauche.“ Die Zeitung Daily Telegraph hatte ihn 2007 auf der Liste lebender Genies auf Platz neun gesetzt.

Perelman hatte eine vor hundert Jahren von dem französischen Forscher Henri Poincaré angestellte Vermutung bewiesen. Entgegen der Gepflogenheiten hatte er seinen wissenschaftlichen Durchbruch 2002 aber nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, sondern eher beiläufig, auf der Internetplattform arXiv. Das amerikanische Clay Institut für Mathematik hatte ihn im März für die Lösung eines der sieben mathematischen Grundprobleme ausgezeichnet.

Mann im abgeschabten Mantel

Nach dem Nichterscheinen Perelmans in Paris äußerte sich Institutspräsident James Carlson zurückhaltend. Offenbar fürchte der Wissenschaftler eine Einmischung in sein Privatleben. Auf seine Entscheidung, was mit dem Preisgeld geschehen soll, werde man so lange warten wie nötig.

Schon seit Jahren jagen russische Paparazzi das schrullige Genie, das den Kontakt zur Öffentlichkeit ablehnt. Man filmte ihn beim Einkaufen. Da trottete ein Mann in abgeschabtem Mantel mit einer Plastiktüte und hellblauer Wollmütze in einen Supermarkt und wieder zurück zu einem Plattenbau. Das sollte das Welt-Genie Perelman sein? Kaum zu glauben. 2007 wurde er in einem Metro-Zug aufgespürt. Grigori kritzelte irgendetwas auf ein Stück Papier und starrte angestrengt vor sich hin.

Die Öffentlichkeit stand vor einem Rätsel und war doch berührt. „Ein wahres Genie“, posteten Internet-User. In seiner Heimatstadt, die sich gerne als kulturelle Hauptstadt Russlands sieht, bekam Perelman Kultstatus. Man druckte T-Shirts mit seinem Porträt.

Die Begabung von Perelman, dessen Mutter Mathematiklehrerin ist, zeigte sich früh. Ab der fünften Klasse besuchte er Kurse für begabte Kinder im Pionierpalast. Ende der 1980er-Jahre reiste er in die USA, wo er Wissenschaftlerkollegen mit seiner asketischen Lebensweise verwundert haben soll. Am liebsten ernährt er sich von Brot, Käse und Milch. Perelman forschte an den Universitäten von New York und Berkeley (Kalifornien), kehrte 1996 trotz neuer Angebote nach St. Petersburg zurück und lehrte am Steklow-Mathematik-Institut.

Auch die russischen Kommunisten finden jetzt Gefallen an dem Individualisten , dessen Vater, ein einfacher Ingenieur, bereits 1993 nach Israel ausgewandert war. Eine Bewegung mit dem Namen „Kommunisten von St. Petersburg“ erklärte ihn zum „echten sowjetischen Menschen“. Man riet ihm jedoch, das Geld anzunehmen, dann könne man davon in Russland ein Städtchen für „einfache, talentierte“ Wissenschaftler bauen.

"Sächsische Zeitung"

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