14. January 2008

Demografie: Boom-Staat Russland schrumpft weiter

Die Lebenserwartung der russischen Bevölkerung liegt heute auf einem vorrevolutionären Niveau.

Die Freude war groß. Am Abend des 26. Dezember wurden in Moskau zehn Babys geboren. Damit wurde in der Hauptstadt eine Schallgrenze durchbrochen. Das erste Mal seit 1989 gab es in Moskau wieder ein Jahr mit mehr als 100.000 Neugeborenen. Alle zehn Mütter bekamen eine Auszeichnung.

Auch landesweit haben sich die Zahlen verbessert. In den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres wurden 1,3 Millionen Babys geboren. Das war gegenüber dem Vorjahr ein Plus von acht Prozent. Dmitrij Medwedjew, der wahrscheinliche Putin-Nachfolger, unter dem eine Reihe von Sozialprogrammen starteten, sprach von „ermutigenden Statistiken“.

Rückgang nicht aufzuhalten

Doch dass jetzt wieder mehr Kinder geboren werden, kann nach Einschätzung russischer Experten den rapiden Bevölkerungsrückgang nicht aufhalten. Es sterben mehr Menschen als geboren werden. Die russischen Männer sterben 17 Jahre früher als die Männer in Deutschland. Die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer liegt bei 58,9, die der russischen Frauen bei 72,4 Jahren. Seit 1989 ist die Einwohner-Zahl in der Russischen Föderation um fünf Millionen Menschen auf 142 Millionen gesunken. Bis 2030 wird sie weiter auf 135 Millionen sinken, meint der Direktor für Makroökonomische Prognosen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung, Andrej Klepatsch.
Die negative Bevölkerungsentwicklung ist eines der größten Hemmnisse für die ehrgeizigen Wirtschaftspläne des Kremls. Die Zahlen passen auch schlecht zu einem Land, das sich als wiedererstarkte Führungsmacht präsentiert. Russland verdient als weltweit größter Gasexporteur und zweitgrößter Waffenhändler nicht schlecht. Doch das Leben der Russen verbessert sich nur in Trippelschritten, in manchen Bereichen ändert sich überhaupt nichts. So ist die Wodka-Flasche immer noch ein beliebter Problemlöser.
An der hohen Sterblichkeit hat sich seit den Zeiten der untergegangenen Sowjetunion kaum etwas geändert. Die Sterblichkeit der Bevölkerung ab dem 30. Lebensjahr, „blieb praktisch auf vorrevolutionärem Niveau“, heißt es in einer Analyse, die auf der Website der russischen Statistikbehörde steht. Hauptgrund der hohen Sterblichkeit von Männern im erwerbsfähigem Alter ist der hohe Alkoholkonsum.

Selbstmord-Rekord in Sibirien

Dass es einen Zusammenhang zwischen Hoffnung, Lebenswillen und den politischen Verhältnissen gibt, zeigt die Selbstmordstatistik. „Während der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow war die Selbstmordrate nicht sehr hoch und entsprach europäischen Werten“, so die Gesundheits-Experten Jakow Gilinskij und Galina Rumjanzewa in einer Analyse. 1984, auf dem Höhepunkt der „Sastoja“ (Stagnationsperiode), erreichte die Selbstmord-Rate mit 38.700 Fällen einen Höhepunkt.
Nachdem Gorbatschow 1985 Glasnost und Reformen verkündet hatte, schöpften die Menschen Hoffnung. 1986 wurden nur 21.100 Suizid-Fälle registriert. 1994, auf dem Höhepunkt von Jelzins chaotischer Wirtschaftspolitik, wies die Suizid-Statistik den Rekord-Wert von 41.700 Selbstmord-Fällen aus. Heute ist die Tendenz rückläufig. 2007 wurden 30.000 Selbstmorde gezählt. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass es die höchsten Selbstmord-Raten in den abgelegenen Gebieten Sibiriens gibt, wo die Fabriken stillstehen und im Winter die Heizungen einfrieren.
Angesichts dieser Daten ist es kein Wunder, dass Russland im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. In dem letzten UN-Bericht über die menschliche Entwicklung („Human Development Report“) rangiert Russland auf Platz 67 unter 175 erfassten Ländern. Gemessen wurden die Lebenserwartung, der Zugang zu Bildung und der Lebensstandard.

Risikoreicher Lebensstil

Schuld an der hohen Sterblichkeit in Russland ist nicht nur der Staat, der nicht in der Lage ist, seinen Bürgern einen minimalen sozialen Schutz zu gewähren. Ohne Schmiergeld wird heute in einem russischen Krankenhaus niemand behandelt. Die Pensionen liegen bei 100 Euro, die Verbraucher-Preise aber liegen in weiten Bereichen auf europäischem Niveau.
Schuld an der geringen Lebenserwartung ist auch der Lebensstil. Die Russen achten zu wenig auf ihre Gesundheit und ihr Leben. Man fährt riskant, trinkt, raucht und treibt ab. Nur in der großstädtischen Mittelschicht setzen sich langsam neue Werte durch. Man trinkt Wein, liest die Gesundheits-Tipps in den Frauenzeitschriften und besucht Fitness-Zentren.

"Die Presse"

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