8. August 1995

Der Mensch kann ohne Hoffnung nicht leben. Besuch bei der von Kiewer Müttern gegründeten Organisation "Mama ´86" (DeutschlandRadio)

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und der teilweise Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in der Ukraine wirken sich insbesondere auf die Gesundheit von Kindern aus. Die 1993 gegründete Selbsthilfeorganisation Mama ´86 versucht mit einem Urin-Test und guter fachlicher Beratung Familien mit kranken Kindern weiterzuhelfen. Ein Besuch in der Beratungsstelle der Mütterorganisation in der Kiewer Michailowskaja-Straße.

Deutschlandradio, Programm Weltzeit, 8. August 1995

Autor: Ulrich Heyden

Sprecher A:

Die Michailowskaja Straße liegt im Zentrum Kiew's. Sie führt auf einen der sieben Hügel, auf denen die über 1000 Jahre alte Stadt gebaut wurde. Vor einer unscheinbaren Tür sammeln sich hier jeden zweiten Tag in der Woche Mütter, manchmal auch Väter, die ihr Kind zu einer medizinischen Untersuchung anmelden wollen. Hinter der unscheinbaren Eingangstür liegt das Büro von Mama 86. Die Organisation wurde 1990 von Müttern gegründet, die sich dafür einsetzen, dass ihre Kinder in der von Radioaktivität belasteten Stadt Kiew besser geschützt und versorgt werden. Seit eineinhalb Jahren führt Mama 86 jetzt ein computergestütztes medizinisches Untersuchungsprogramm für die Kinder in Kiew durch.

Eine Mutter, die vor dem Büro wartet, meint, ihr sechsjähriger Sohn sei im Prinzip gesund. Wegen der Vorsorge wolle sie ihn aber zur Untersuchung anmelden.

O-Ton / Sprecherin C:

"Es gibt eine neue Methode der Untersuchung und jede Mutter will wissen was mit ihrem Kind ist. Prinzipiell ist alles normal aber es gibt bestimmte Probleme. Mich beunruhigt jetzt, wie er sich hält, weil er in die erste Klasse geht. Er hat einen Leistenbruch. Außerdem beeinflusst ihn die ökologische Situation. Und ich denke hier gibt es neue Methoden welche helfen zu erkennen wie die gesundheitliche Situation ist."

Sprecher A:

Tschernobyl liegt 80 km von Kiew entfernt. Die Stadt selbst ist von der Radioaktivität belastet. Haben sie die Möglichkeit in andere Gebiete zu fahren?

O-Ton / Sprecherin C:

"Wir fuhren jedes Jahr auf die Krim. Jetzt haben wir diese Möglichkeit nicht. Wir können nur ins Umland fahren. Wir haben eine Datscha in einer Gegend, die zur vierten Zone gehört. Die Menschen leben dort in der vierten Zone und wir haben dort unsere Datscha. Das ist am Fluss Djesna, 20 Kilometer nördlich von Kiew."

Sprecher A:

Die Gegend um Tschernobyl teilt sich je nach dem Grad der radioaktiven Belastung in vier Zonen auf. Warum wird die Datscha benutzt, die in einer verseuchten Zone liegt?

O-Ton / Sprecherin C:

"Was kann man machen? Wir prüften nach der Havarie mit einem Gerät die Strahlung. Es war ein sauberer Flecken. Aber jetzt hat sich alles gemischt. Selbst in Kiew, wo wir wohnen.

Sprecher A:

Ihre Kinder sind praktisch gesund aber welche spezifischen Krankheiten haben die Kinder ihrer Nachbarn und Verwandten?

O-Ton/ Sprecherin C:

"Ich hatte Freunde, Bekannte, die sind nach Deutschland gereist. Dort fühlen sich die Kinder natürlich besser. Wie macht sich die ökologische Situation hier bemerkbar? Erkältungskrankheiten und Magenkrankheiten. Sie sind jetzt ein Jahr weggefahren und haben diese Krankheiten nicht. Eine andere Luft eine andere Ernährung. Eine saubere Ernährung, die wir nicht haben. Es ist nicht das Probleme, dass wir das nicht kaufen können, das Problem ist, dass wir Produkte kaufen müssen, die man auf den Märkten und in den Geschäften ohne die nötige Kontrolle verkauft. Wir sind nicht sicher was die Sauberkeit dieser Produkte angeht, welche wir kaufen. Nicht nur Radioaktivität, sondern auch Nitrate, Schwermetalle und alles andere."

Sprecher A:

Welche Hoffnung haben sie?

O-Ton / Sprecherin C:

"Mir scheint ich habe hier jetzt keine Perspektiven. Natürlich, der Mensch kann ohne Hoffnung nicht leben und vielleicht in der Tiefe gibt es eine Hoffnung, aber die unterstützt einen nicht."

Sprecher A:

Was für ein Ziel haben sie im Leben? Wollen sie versuchen in eine andere Stadt oder ein anderes Land zu ziehen?

O-Ton / Sprecherin C:

"Diese Frage kommt bei mir nicht auf. Ich habe nicht diese Möglichkeit. Von einem Land in ein anderes zu ziehen ist doch sehr schwer. Das Ziel in meinem Leben ist, meinen Kindern eine gute Ausbildung zu geben, ein Ziel im Leben ist es auch die Gesundheit nicht zu verlieren. Wir warten und warten auf bessere Zeiten."

Sprecher A:

Der Ansturm der Eltern, die ihre Kinder zur Untersuchung bei Mama 86 anmelden wollen, ist groß. Dabei macht die Organisation keine Reklame. Die neue Untersuchungsmethode, die kostenlos durchgeführt wird, hat sich herumgesprochen. Zurzeit stehen 500 Kinder auf der Warteliste. Das heißt, man muss einige Monate warten bis man drankommt. Manchmal stehen wartende Mütter schon frühmorgens vor dem Büro von Mama 86. Jeden Tag werden 12 Kinder untersucht.

In der Drei-Millionen-Stadt Kiew gibt es kaum noch gesunde Kinder. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und deren Folgen haben auch die Stadt Kiew in Mitleidenschaft gezogen. Verseuchte Nahrungsmittel und eine von den zahlreichen Fa­briken verschmutzte Luft haben das Immunsystem der Kinder zer­stört. Die Organisation Mama 86 spricht deshalb von Tschernobyl-Aids. Kopfschmerzen, Allergien, Erkältungskrankheiten und Krankheiten im Bereich der Verdauungsorgane sind die Folge der ökologischen Misere.

Sprecherin B:

Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist die Ukraine zwar ein unabhängiger Staat. Das Land gehört jetzt aber zu den ärmsten Gegenden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Das soziale Versorgungssystem funktioniert kaum noch. Der Staat hat kein Geld und die Betriebe, die für einen Teil der Sozialversorgung verantwortlich waren, stehen still oder arbeiten nur mit halber Kraft. Das hat für die Gesundheitssituation und das Leben insgesamt einschneidende Folgen. Die Armut und die radikale Umstellung der Lebensverhältnisse hat zu einem Rückgang der Geburten geführt. Seit 1991 sterben mehr Menschen als geboren werden. Die Zahl der Kinder in der Ukraine, die mit körperlichen Defekten auf die Welt kommen, hat sich von 1986 bis 1992 um 8 Prozent erhöht. Von den Kindern, die eine Zeitlang in der durch Tschernobyl radioaktiv verschmutzten Zone gelebt haben oder immer noch leben, haben 2,5 Prozent Anomalitäten der Chromosomen in den somatischen Körperzellen.

Die Zahl der Infektionskrankheiten hat ungeheuer zugenommen. Die Zahl der Diphterie-Fälle hat sich um den Faktor 100 erhöht. In den letzten vier Jahren starben an dieser Krankheit 150 Menschen. An Cholera erkrankten im Oktober letzten Jahres 800 Menschen, 20 von ihnen sind gestorben. Verstärkt treten außerdem noch auf: Salmonellen, Hepatitis, Masern, Gehirnhautentzündung, Keuchhusten, Syphilis und Malaria.

In Kiew gab es zudem einige Fälle von Kinderlähmung.

Sprecher A:

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Arbeit von neuen sozialen Initiativen, die das staatliche Gesundheitssystem ergänzen und ihm neue Impulse geben, besondere Bedeutung.

Im Büro von Mama 86 gibt es zwei Tätigkeitsbereiche. Ein Büro, in dem man sich um ökologische Erziehung, juristische Fragen und ökologisch-politische Information kümmert und einen medizinischen Teil mit einem Laboratorium und einem Untersuchungszimmer.

In dem Laboratorium wird die Urinprobe eines Kindes auf 20 Reagenzgläser verteilt, mit einem Antigen ergänzt und dann mittels einer automatisch gesteuerten Apparatur analysiert. Jedes Reagenzglas dient zur Untersuchung von verschiedenen Körperorganen und Körperfunktionen. Da die verschiedenen Körperorgane Stoffe ausscheiden, die über das Blut irgendwann auch ins Urin gelangen, lässt sich über den Gesundheitszustand eines Menschen schon mittels einer Urinprobe eine verlässliche Auskunft geben, meint die Ärztin Alla Petrowna Laritschkina.

Die Werte werden dann von einem Computer weiter ausgewertet und sind dann im Untersuchungszimmer auf einem Bildschirm in Form von Kurven erkennbar. Die behandelnde Ärztin urteilt aufgrund verschiedener Angaben. Sie hat die Angaben des Computers, der 20 verschiedene Parameter anzeigt. Außerdem befragt Alla Petrowna die Eltern des Kindes und untersucht das Kind selbst noch einmal. Schon anhand der auf dem Bildschirm sichtbaren Kurven und Werte erkennt die Ärztin, ob ein Organ krank war, ob es gerade krank ist oder ob es bald erkranken wird. Das Computerprogramm wurde in Kiew am Institut für Onkologie entwickelt und ist einzigartig in der Ukraine. Die Methode ist bereits patentiert.

Die Diagnose der behandelnden Ärztin basiert also auf drei Untersuchungsprozessen: Erstens einem Fragenkatalog, den die Eltern bei der Abgabe der Urinprobe beantworten müssen, zum Zweiten auf der Analyse der Urinprobe und zum Dritten auf der persönlichen Untersuchung des Kindes durch die Ärztin.

Eine Mutter kommt mit ihrem achtjährigen Sohn. Er hat gerade die erste Klasse beendet. Sascha sieht blass aus. Die Mutter sagt, daб die Harnwege und der Magen schlecht arbeiten. Früher war er oft krank. Jetzt hat sie ihn mit kaltem Wasser abgehärtet. Die Ärztin Alla Petrowna Laritschkina beginnt mit der Untersuchung des Jungen. Sie liest nochmal in der Krankengeschichte des Jungen. Die Angaben stehen in einem Buch welches die Polikliniken bisher für jeden Patienten führen.

O-Ton / Sprecherin B

"Schmerzen nach dem Essen, Übelkeit manchmal, oft Pinkeln, er trinkt viel, erhöhter Appetit. Das hat die Großmutter gesagt. Es gibt eine Ultraschalluntersuchung der Milz. Sie ist ein bisschen vergrößert. Schwere Schmerzen in einem Teil vom Magen. Jetzt muss ich ihn mit den Händen abtasten. Zum Glück gibt es keine Dysbakterie. Wir müssen uns jetzt angucken seine Bauchspeicheldrüse angucken. Sie ist reaktiv entzündet. Er hat erhöhte Magensäure. Jetzt gucke ich ob er eine Gastritis hat oder nicht. Und man muss die Leber angucken. Sanjitschka lege dich dort hin. Zeig mir dein Bäuchlein. Erinnerst Du dich nicht, wo dir der Bauch wehtut."

Sprecher A:

Die Ärztin diktiert der Sprechstundenhilfe.

O-Ton / Sprecherin B:

"Vergrößerung der Milz, Vergrößerung der Leber. Setz dich, ich höre dich jetzt ab. Jetzt höre ich das Kind ab. Es gibt dort einen unsauberen Ton. Öffne den Mund. Erkältet er sich oft?"

Sprecherin C:

"Ja, er hat eine chronische Kieferhöhlenentzündung."

Sprecher A:

Die Ärztin Alla Petrowna schaut auf den Computerbildschirm und kommentiert was sie dort aus den Kurven und Daten ablesen kann:

O-Ton / Sprecherin B:

"Schauen sie, was wir hier sehen. Seine persönliche Immunität gegen Streptokokken ist sechsmal niedriger als seine allgemeine Immunität. Die oberen Atemwege sind schon lange von Streptokokken befallen. Die Mandeln sind vergrößert. Die Schilddrüse hat eine erhöhte Funktion. Darum ist er wohl unausgeglichen."

Sprecherin C:

"Natürlich bei seinem Temperament. Er ist ein Choleriker."

Sprecherin B:

"Er hat eine konstant vergrößerte Funktion der Schilddrüse. Wir haben eine chronische Nasenrachenentzündung. Das Herz arbeitet nicht normal. Er hat eine angespannte Immunität der Harnwege. Eine Entzündung gibt es dort zurzeit nicht aber die Organe arbeiten mit großer Anspannung. Die Funktion der Rinde der Nebenniere ist erhöht. Was hat das zu bedeuten? Das heißt, es gab einen gewissen Stress. Das heißt aber, seine Schutzmechanismen sind gut."

Sprecher A:

Er hat prinzipiell alle Chancen der Gesundung meint die Ärztin Alla Petrowna. Dann rät sie der Mutter, was zu tun ist.

O-Ton / Sprecherin B:

"Er hat eine Entzündung der Gallenblase und der Bauchspeicheldrüse. Deswegen die Vergrößerung der Leber und die Schmerzen der Gallenblase. Diese beiden Organe hängen zusammen. Deshalb ist es schwer zu sagen, welches stärker erkrankt ist. Was muss man machen? Er braucht eine Diät. Man darf keine Kompromisse machen. Kein Fett und Gebratenes und Scharfes. Er hat im Übrigen eine erhöhte Magensäure. Keine Fleischbouillon. Keine Schokolade und Apfelsine, kein Kaugummi, keine Pepsi, kein süßes Wasser."

O-Ton / Sprecher A:

Die Ärztin empfiehlt nicht industriell hergestellte Medizin, sondern ausschließlich Kräuter. Dies entspricht einer Tradition in der Ukraine. Die Menschen wissen seit langem welche Kräuter sie als Heilmittel nutzen können. Die Heilkräuter kann man in jeder Apotheke kaufen. Alla Petrowna empfiehlt die Wurzel der Klette wegen der entzündeten Bauchspeicheldrüse, Johanniskraut gegen die hohe Magensäure, Pfefferminze um die Krämpfe des Magens zu dämpfen, Brennnessel, damit sich die Zahl der roten Blutkörperchen erhöht, die Wurzel Echinazei zur Erhöhung der Immunität und Baldrian zur Regulierung der Schilddrüse.

Der Gesundheitszustand des achtjährigen Sascha ist typisch für die Kinder in Kiew. Am häufigsten ist die Erkrankung der Bauchspeicheldrüse und der Leber. Häufig ist auch die Disbakteriose, die Zerstörung der Flora der Verdauungsorgane. Sehr häufig ist auch die Schwächung des Immunsystems. Die Immunität ist bei den Kindern vermindert. Die Folgen sind: Erkältungskrankheiten, Bronchitis und Allergien, insbesondere Hautallergien aber auch asthmatische Allergien. Ein Teil der Kinder hat auch Schilddrüsenerkrankungen.

Die Krankheiten der Kinder sind verbunden mit der ökologischen und der Ernährungssituation. Für die Kinder gibt es keine ausgewogene Ernährung. Die Organisation Mama 86 kann nun über den Fragebogen, den die Eltern der Kinder ausfüllen müssen herausfinden, wo das Kind wohnt. Die Mütterorganisation hat eine Karte von Kiew, wo die gesundheitsschädlichen Betriebe eingezeichnet sind. Daraus können dann Schlussfolgerungen gezogen werden, wie die Schadstoffe, die diese Betriebe abgeben, die Gesundheit der Kinder im Rayon beeinflussen. Der Fragebogen lässt auch Rückschlüsse darauf zu, welche Krankheiten durch die ökologischen Bedingungen hervorgerufen werden und welche Krankheiten daher rühren, dass die Eltern die Kinder nicht normal versorgen können. 

Das medizinische Untersuchungsprogramm ist ziemlich teuer. Mama 86 kann es nicht aus eigenen Mitteln finanzieren und sucht deshalb Sponsoren. Doch das ist nicht einfach, denn die neuen sozialen Organisationen in der Ukraine arbeiten in einem rechtsfreien Raum. Für die wenigen neuen Bisnesmeni, die bereit waren, für wohltätige Zwecke Geld zu geben, gibt es keinerlei steuerliche Vergünstigungen. Die 31jährige Gründerin der Organisation, Anna Sjomina, selbst Mutter eines Kindes, berichtet über die Schwierigkeit in der Ukraine selbst Geldmittel zu mobilisieren.

O-Ton / Sprecherin B:

"Wir erhalten kein Geld vom Staat. Die ersten zwei Jahre als wir anfingen zu arbeiten, suchten wir Sponsoren. Dann haben wir davon Abstand genommen, weil man uns vorschlug in verschiedenen Formen Geld zu waschen oder als Vermittler von Handelsoperationen zu agieren. Die Situation der Gesellschaft ist so, dass die erste Generation der reichen Leute, unsere jungen reichen Bisnesleute, absolut nicht die Verantwortlichkeit fühlen, der Gesellschaft etwas zu abzugeben. Sie sind ausschließlich Individualisten, die nur Geld für sich machen. Sie helfen nur ihrem Nächsten, damit der reich wird. Nur sehr selten fühlt einer der jungen Bisnesleute soziale Verantwortung."

Sprecher A:

Wie schützen denn die neuen Bisnesmeni ihre eigenen Kinder vor den Gefahren der Umwelt?

O-Ton / Sprecherin B:

"Deren Kinder fühlen sich gut, weil sie eine vollwertige Ernährung erhalten, weil sie die Möglichkeit haben von dem schmutzigen Territorium wegzufahren, für eine lange Zeit, und sich in ausländischen Kurorten zu erholen, oder in guten Kurorten der ehemaligen Sowjetunion. Sie haben die Möglichkeit täglich ausreichend Vitamine zu erhalten, eine ausgewogene Ernährung zu bekommen und vieles andere wie eine medizinische Untersuchung auf gutem Niveau. Sie leiden nicht unter dem täglichen Stress, das ist auch sehr wichtig."

Sprecher A:

Anna Sjomina meint, dass es Zeit braucht, bis sich die Gesetze ändern.

O-Ton / Sprecherin B:

"Die Gesetzgebung kann keine andere sein, weil alle Prozesse in der Gesellschaft sehr jung sind, der Prozess der Demokratisierung - ich wieß nicht ob man das so sagen kann - begann wahrscheinlich, verläuft schrittweise, das ist verbunden mit der Veränderung der Mentalität. Schnell geht es nicht. Drei Generationen wuchsen im Kommandosystem auf. Darum verkehren die Leute im Alltag untereinander in der Mehrheit der Fälle nach Stereotypen. Das alte System setzt sich fort. In der Tiefe des ukrainischen Ministerrates erscheint eine Liste von Organisationen, welche ausreichend loyal sind in der Beziehung zur Macht. Oder Mitglieder dieser Organisationen haben Verwandte in den staatlichen Organen oder sie haben sich umbenannt arbeiten aber wie die alten sowjetischen Organisationen. Diese Organisationen auf den besonderen Listen, werden der Steuerinspektion gegeben. Wenn dann ein Betrieb, der mit Gewinn arbeitet diesen Organisationen Geld gibt, wird dieses Geld nicht der Steuerprüfung unterworfen."

Sprecher A:

Das heißt es gibt in der Ukraine heute schon Steuervergünstigungen für soziale Zuwendungen. Aber alles läuft informell über die undurchsichtigen Kanäle der staatlichen Verwaltung. Natürlich wäre es besser, wenn es einen gesetzlichen Rahmen für die neuen sozialen Organisationen gäbe, meint Anna Sjomina.

O-Ton / Sprecherin B:

"Aber bis zum heutigen Tag gibt es dieses System nicht. Wenn es so einen gesetzlichen Rahmen für Sponsoren gäbe, würde unsere Arbeit erleichtert. Außerdem würde die Situation mehr stabilisiert. Denn man kann auf der einen Seite viele gute Worte über die Vertreter der westlichen Stiftungen sagen, auf der anderen Seite hat diese Hilfe ihre Grenzen und nur auf dieser Basis eine Nichtregierungsorganisation aufzubauen ist nicht möglich. Es muss Zeit vergehen. Diese fünf Jahre sind noch keine lange Zeit. Es muss noch Zeit vergehen, damit diese Tätigkeit im Bewusstsein der Menschen überhaupt anerkannt wird. In der Mehrheit der Fälle ruft unsere Tätigkeit eine verneinende Reaktion hervor, zum ersten weil man unsere Arbeit nicht schätzt, und weil Wohltätigkeit und humanitäre Hilfe im gesellschaftlichen Bewusstsein immer noch mit kommunistischen Organisationen in Verbindung gebracht wird. Es muss Zeit vergehen, damit bei den Leuten diese psychologische Barriere verschwindet. Außerdem spekulierten viele Organisationen, die sich mit den Opfern von Tschernobyl beschäftigen mit diesem Problem. Da gab es Korruption bei den Auslandsbeziehungen. Hilfsgüter aus dem Ausland wurden verkauft. Die Krankheit der totalitären Gesellschaft dauert sehr lange."  

Sprecher A:

Viele Tschernobyl-Organisationen verloren bei den Leuten hier ihre Autorität, berichtet die Gründerin der Mütterorganisation.

Mama 86 orientierte seit Gründung der Organisation, weniger auf Hilfe aus dem Ausland, sondern auf die Mobilisierung eigener Ressourcen. So organisierte man von dem wenigen Geld, was man hatte, Ferienlager für die Kinder Kiews in den Karpaten in der Westukraine. So konnte man im Endeffekt mehr Kindern zu einem Erholungsurlaub verhelfen, als wenn man die Kinder auf teure Erholungsreisen nach Westeuropa geschickt hätte.

Doch ohne Unterstützung aus dem Ausland könnte Mama 86 nicht ihre breitangelegte Arbeit finanzieren. Vor allem könnte man sich nicht das relativ teure medizinische Untersuchungsprogramm leisten.

Zurzeit wird Mama 86 von Stiftungen aus den Niederlanden gesponsert, von Milieukontakt-Osteuropa, Öko-Gesundheit und anderen. Die Zusammenarbeit mit den westlichen Geldgebern ist aber nicht immer einfach, meint Anna Sjomina.

O-Ton / Sprecherin B:

"Das Modell wie es im Westen existiert, ist hier nicht anwendbar. Deshalb ist es sehr schwierig mit Vertretern amerikanischer Organisationen zusammenzuarbeiten. Weil sie uns lehren wollen und selber nicht lernen wollen, weil sie die reale Situation nicht analysieren wollen. Sie begreifen nicht den spezifischen Zustand in dem sich das Land jetzt befindet. Sie wissen zu wenig Über die Psychologie der Leute und die Geschichte. 70 Jahre Sowjetmacht beeinflussen die Psychologie der Menschen und ihre sozialen Beziehungen. Mit den Holländern ist es am einfachsten zu arbeiten. Sie haben einen sehr zivilisierten Zugang zur Ukraine. Sie sind sehr selbstkritisch, sie arbeiten mit uns gleichberechtigt zusammen."

Sprecher A:

Die wesentliche Unterstützung für die Arbeit von Mama 86 muss natürlich von den Einwohnern Kiews kommen. Doch wegen dem harten Alltag in der Stadt haben nur sehr wenig Menschen noch Energie für eine gesellschaftliche Tätigkeit.

O-Ton / Sprecherin B:

"Man kann nicht sagen, dass es mehr Menschen geworden sind, die die Notwendigkeit der Gründung neuer gesellschaftlicher Organisationen verstehen. Einer der Gründe dafür ist, dass ein Teil der Bevölkerung unter dem Druck des Alltags leidet, unter dem chronischen Stress. Das ist stärker als früher. Früher gab es den Kampf gegen das Defizit. Das war die einzige Art des Kampfes. Es gab natürlich auch einen ideologischen Kampf. Aber der beeinflusste den Prozess des Lebens nur wenig. Es gab den Kampf um die Ware, an der es mangelte. Es wurde irgendwo etwas für kurze Zeit angeboten und die Menschen standen Schlange. Es gab diesen Kampf doch die Leute wussten, dass sie einen Lohn bekommen werden und für diesen Lohn konnte man nicht nur Essen kaufen, sondern auch andere Dinge. Jetzt hat dieser Kampf einen härteren und intensiveren Charakter. Nun gibt es den Kampf für ein Frühstück, das Mittagessen und das Abendbrot. Dann gibt es den Kampf für eine Fahrt im öffentlichen Nahverkehr. Die Verkehrsmittel sind veraltet. Man muss heute an verschiedenen Fronten kämpfen. Bis heute muss man darum kämpfen, wenn man in ein Büro der staatlichen Verwaltung gelangen will,  wenn man dort Jemanden treffen muss, ein Dokument oder eine Information erhalten will. Der Kampf um die Information ist bis heute hart. Was die besonderen Informationen über die Tschernobyl-Katastrophe angeht, sind sie bis heute sehr oft nur "Für den Dienstgebrauch". Das heißt, das können nur Leute lesen. die von den höheren Instanzen ausgewählt sind. Die Übrigen dürfen das nicht wissen."

Sprecher A:

Bei Mama 86 arbeiten jetzt zwei Laborantinnen, eine Ärztin, eine Buchhalterin und dann noch eine ganze Reihe von Freiwilligen. Die Arbeit bei Mama 86 hat gegenüber anderen Arbeitsplätzen den Vorzug, dass man monatlich bezahlt wird. Das ist in der Ukraine keine Selbstverständlichkeit. Anna Sjomina, die Gründerin und Leiterin von Mama 86 meint, dass es immer wieder Leute gibt, die bei der Organisation nur aus materiellen Gründen arbeiten wollen. Wegen der regelmäßigen Lohnzahlung oder wegen den guten Auslandsverbindungen, die Mama 86 hat und von denen man sich irgendetwas für die Verbesserung der persönlichen Lage verspricht. Doch dies ist nicht das einzige Problem bei der Suche nach geeigneten Mitarbeitern. Einige Leute sehen ihre Tätigkeit bei Mama 86 nur als Job nicht aber als umfassende, eigenverantwortliche Tätigkeit. Das heißt, man braucht eine ganze Zeit um geeignete Mitarbeiter zu finden. 

Mama 86 leistet als neue nichtstaatliche Organisation Pionierarbeit. Diese Arbeit ist ein kleiner Baustein für eine demokratische Gesellschaft. Hoffen wir, dass dieses Beispiel Schule macht.        

Text und Interview: Ulrich Heyden, August 1995

gesendet von: DeutschlandRadio

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto