6. August 2008

Die Kalaschnikow für alle Fälle

ABCHASIEN - Gibt es dieses Land überhaupt? Oder existiert es nur in den Köpfen seiner Bewohner, russischer Generäle und Touristen?

Alexa handelt mit selbstgebrautem Wein und Cognac. Der 63-jährige Rentner, der gut deutsch spricht, steht im Zentrum von Suchumi an einer Straßenkreuzung. Seine Getränke hat er in große Limonaden-Flaschen aus Plastik abgefüllt. Früher war Alexa Polizist, nun erhält er wie die meisten Pensionäre in Abchasien seine Rente aus Russland, 4.000 Rubel (110 Euro) im Monat. Ob die georgischen Flüchtlinge nach Abchasien zurückkehren könnten, frage ich ihn? Alexa hält eine Flasche Cognac und eine Flasche Wein nebeneinander und stellt die Gegenfrage: "Kann man das mischen, damit es ein Ganzes ergibt? Abchasen und Georgier können nicht in einem Staat leben, das ist vorbei."

Und dann erzählt er aufgeregt vom Beginn des Bürgerkrieges, als ob es gestern gewesen wäre. Im August 1992 seien georgische Panzer unter dem Kommando des Verteidigungsministers Tengis Kitowani in Suchumi aufgetaucht, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuschlagen. Mit Knüppeln habe man sich zur Wehr gesetzt, erst später Waffen erbeutet. "Der Westen hat weggesehen", erregt sich der alte Mann.

Zitronen und Feigen

Viele in Suchumi denken so wie der pensionierte Gendarm. In dem kleinen, von keinem UN-Mitglied anerkannten De-facto-Staat leben 200.000 Menschen, nicht nur Abchasen, auch Armenier, Russen, Griechen und Juden. Wenn die 250.000 Flüchtlinge zurückkehren - das Gros davon Georgier - würden die Abchasen in ihrem Miniaturstaat wieder zur Minderheit. Und das will keiner.

Die separatistische Bewegung hatte sich schon zu Zeiten der Perestroika Ende der achtziger Jahre formiert. Dann ging es Schlag auf Schlag - im Juli 1992 rief das abchasische Parlament die Unabhängigkeit aus, georgische Truppen marschierten ein und entfesselten einen Bürgerkrieg, in dem die Abchasen von russischen Kosaken und kaukasischen Tschetschenen unterstützt wurden. In Suchumi brannten fast alle großen Gebäude - das kleine Land hatte sich wohl behauptet, doch blieb von ihm kaum mehr als ein Schatten.

In den Jahren danach lebten die Abchasen von den Mandarinen, die sie auf Moskaus Märkten verkauften, von den Hühnern und Kühen ihrer Höfe, den Zitronen und Feigen ihrer Gärten. Erst seit kurzem treibt es wieder russische Touristen an die abchasische Schwarzmeerküste, es kehren Abchasen zurück, die in Moskau zu Geld kamen wie der Millionär Beslan Butba, der das legendäre Hotel Riza in Suchumi wieder aufbauen ließ.

Auch im nördlichen Gagra, wo die Berge bis dicht ans Meer reichen, herrscht heute touristischer Hochbetrieb wie zu Sowjetzeiten. Es gibt einen riesigen Supermarkt, komfortable Hotels, einen wunderbaren Sandstrand unter Palmen. Am 1. Juli knallte es plötzlich, und mit dem Urlaubs-Frieden war es vorbei. Zur gleichen Zeit erschütterte auch Suchumi ein Sprengstoffanschlag, und am 6. Juli flog in Gali, im Süden Abchasiens, ein Straßencafé in die Luft. Vier Menschen starben. Man habe es mit Gräueltaten georgischer Partisanen zu tun, glaubt der abchasische Präsident Sergej Bagapsch. Die Regierung in Tbilissi parierte ungerührt, die Bomben seien abchasischen Clans zu verdanken, die um ihre Pfründe kämpften.

Was tut Abchasiens Schirmherr Russland in dieser Situation? Bisher wollte oder konnte sich Moskau nicht dazu durchringen, der abtrünnigen Republik die diplomatische Absolution zu erteilen, was zum endgültigen Bruch mit Georgien führen dürfte. Doch protegiert wird Suchumi nach Kräften. Wenn die Abchasen der Unabhängigkeit nicht abschwören - so das Kalkül im Kreml -, werden dadurch Georgiens NATO-Fantasien torpediert, der Nordatlantikpakt dürfte sich diesen Konflikt nicht aufladen wollen. Ihm steckt Abchasien wie eine Fischgräte im Hals, solange Abchasien bleibt, was es ist - ein Hort der Abtrünnigen und Unbeugsamen.

So ist denn die aufsässige Republik bereits für die Winterolympiade 2014 in Sotschi fest verplant. In den Sanatorien von Gagra und Pizunda sollen die russischen Bauleute der zu errichtenden Wettkampfstätten ihr Domizil haben. Zudem erhält Abchasien Zement-Fabriken, um sich als Zulieferer nützlich zu machen. Wer kann etwas dagegen haben, dass wir Wiederaufbauhilfe leisten, argumentiert man in Moskau.

Basajew im Caféhaus

Am späten Nachmittag sitze ich bei Boris, einem Armenier, am Stadtrand von Gagra. Boris restauriert Oldtimer. Zur Zeit baut er an einem Wolga, mit dem er als "Hochzeitskutsche" in der Stadt Furore machen will. Seine Tochter Diana habe im Frühjahr einen Armenier auf der anderen Seite der Grenze, im russischen Adler, geheiratet. Es sei ein großes Fest gewesen, und er sei froh über die Wahl der Tochter, Abchasien bleibe ein unsicheres Land.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück legt Boris ein Video ein. Auf dem Bildschirm sieht man bärtige Männer mit Kalaschnikows. "Unser armenisches Bataillon", erklärt der Hausherr. "Die Erinnerungen an 1992 sind so frisch, als ob das alles gestern passiert wäre." Die meisten Bärtigen kenne er mit Namen, viele seien gefallen und würden heute als Kriegshelden verehrt: Armenier, Abchasen, Russen und Tschetschenen hätten damals den georgischen Truppen widerstanden. Zum Dank bekamen viele Tschetschenen von der Regierung in Suchumi die leeren Häuser der Georgier geschenkt.

Ich erinnere mich an einen Besuch des Künstlercafés Galereja in Suchumi vor sechs Jahren, als dort noch die Bilder von Shamil Basajew hingen, der 1992 die Tschetschenen-Einheit im georgisch-abchasischen Krieg geführt hatte. Basajew sollte später zum gefürchteten Terroristen und von der russischen Armee in Tschetschenien gejagt werden. Heute suchte man im Café Galereja sein Bild vergebens.

Abends stehe ich mit Lew an der Pier von Gagra. Es ist stockdunkel. Ein paar Flaneure angeln kleine Fischen, die als großer Schwarm im Kegel einer Lampe kreisen. "Dort draußen", erzählt Lew, "legten vor 20 Jahren große Schiffe mit Touristen an. Wegen der geringen Wassertiefe mussten die mit Booten an Land gebracht werden." Damals sei die Küste nachts hell erleuchtet gewesen. Heute blinken am Ufer nur ein paar Lichter.

Gibt es dieses Land Abchasien überhaupt? Oder existiert es nur in den Köpfen seiner Bewohner, russischer Generäle und Touristen? Und überhaupt, ist Abchasien eine Kolonie? Aus der Russischen Föderation kommen zwar Touristen, Renten, Kapital und Soldaten für das 3.000 Mann starke Friedenskorps, aber die Abchasen glauben fest daran, seit 16 Jahren in einem unabhängigen Staat zu leben.

Auch der Weinfabrikant Nikolai Achba, ein vierschrötiger Typ mit dem Porträt des verehrten Großvaters über dem Schreibtisch. 2007 habe man ihn zum abchasischen Unternehmer des Jahres gewählt, erzählt er stolz, obwohl seine Weinkelterei gerade stillstand. Die russische Gesundheitsbehörde bemängele gelegentlich die Qualität der hiesigen Weine und verbanne die seit Sowjetzeiten bekannten Marken Dioskurija, Apsny und Buket Abchasia aus den Regalen in Moskau oder St. Petersburg.

Seit Anfang des Jahres jedoch sei der Bann gebrochen, Achbas Fabrik mit ihren 110 Mitarbeitern, die zur Hälfte russischen Investoren gehört, produziert wieder. Die Rot- und Weißweinflaschen schlingern und klirren durch die Abfüllanlage, wo sie auch gleich ein Sichtvermerk der russischen Steuerbehörde erhalten. Verschnittene Wein, die nur zum Teil auf abchasischen Gütern gereift sind und durch Zusätze aus der Ukraine und dem südrussischen Krasnodar-Gebiet angereichert werden. Michail Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne und der Bürgerkrieg hätten dem Wein Abchasiens fast den Garaus gemacht, erzählt Achba. Jetzt arbeite man mit französischen Winzern zusammen und wolle sich auf ein "europäisches Niveau" begeben, mit Jahrgangsweinen aus bestimmten Anbauregionen.

Deshalb auch hat Said Achba, der 28-jährige Cousin des Chefs, ein einjähriges Praktikum in einem Anbaugebiet bei Bordeaux hinter sich. Stolz zeigt er mir die neuen Eichenfässer aus Frankreich. Darin würden derzeit französische und italienische Weinsorten reifen, die man als Test in kleinen Mengen anbaue. "Hätte Europa uns anerkannt, würden wir jetzt schon leben wie in Monte Carlo", scherzt der Wein-Experte, der wie sein Vetter eine sündhaft teure Uhr trägt.

Er hasse die Georgier nicht, meint Nikolai Achba noch, als er mich aus seinem Kontor hinaus begleitet, doch sollten sie erst zurückkehren, wenn Abchasien international anerkannt sei. Er habe "für alle Fälle" eine Kalaschnikow im Haus. Das sei normal. "Jeder Mann hat eine Waffe. Wir haben gewissermaßen das System der Schweiz. Gibt es wieder Krieg, weiß jeder, wohin er gehen muss."

Panzer im Gebüsch

Offiziell hält die abchasische Armee 5.000 Mann unter Waffen, im Ernstfall könnten 25.000 Reservisten mobilisiert werden, heißt es aus dem Verteidigungsministerium, das in einem früheren Sanatorium für sowjetische Komponisten direkt am Meer residiert. Das Gebäude wirkt heruntergekommen, ganz anders als die UN-Mission, die in direkter Nachbarschaft für ihre 135 Militär-Beo­bachter ein Refugium fand und einen Fuhrpark aus Jeeps und Sanitätswagen sowie Sendemaste und Satelliten-Antennen vorweisen kann.

Der stellvertretende Verteidigungsminister Garri Kupalba, den ich in seinem Büro aufsuche, glaubt nicht, dass die georgische Armee wirklich stark ist. Sollte sie wieder angreifen, werde man sie zurückschlagen. Die Amerikaner hätten Präsident Saakaschwili Hubschrauber verkauft, die noch aus der Zeit des Vietnam-Krieges stammten. Die Ukraine hätte Panzer geliefert, die bei Manövern einfach stehen blieben. Die eigenen Streitkräfte seien dagegen voll einsatzfähig. Zum Beweis legt Kupalba eine DVD ein. Man sieht uralte sowjetische Panzer in einer gewaltigen Qualmwolke aus dem Unterholz hervorbrechen. Sieben georgische Drohnen, sprich: unbemannte Aufklärungsflugzeuge, habe man bereits abgeschossen, brüstet sich der Minister. Ob die in einem Dossier seines Ministeriums aufgelistet seien, frage ich. Eine Liste habe er nicht, aber er könne sie beschaffen, meint Garri Kupalba. Da das Telefon gerade nicht funktioniert, eilt der Minister auf den Balkon und ruft nach einem Mitarbeiter, irgendwo eine Etage tiefer. Antwort erhält er keine, und ein Vorzimmer mit Sekretärin hat er auch nicht.

An der Siegesgewissheit des Ministers ändert das freilich nichts. Die Sowjetarmee habe in Abchasien haufenweise Waffen zurückgelassen, "unter anderem mehrere Millionen Patronen.", aber ebenso Mi-Hubschrauber und Suchoi-Kampfflugzeuge, zusammen etwa 14 Stück. Genaue Zahlen will Kupalba nicht nennen, aber die "etwa 200 T 55-Panzer" dann doch erwähnen. Ob er sich erinnere, frage ich ihn, wie schnell 2003 die irakische Armee zerschlagen wurde? - "Ja, aber der Krieg dort dauert immer noch."

veröffentlicht in: der Freitag

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