14. March 2020

"Die Kinder müssen wissen, was Krieg bedeutet und warum Krieg schlecht ist"

Besuch einer Schule in der "Volksrepublik Lugansk", Ukrainisch sei "keine Sprache des Feindes", erklärt die stellvertretende Leiterin - Telepolis berichtet aus dem Donbass, Teil 4

Zu den Orten, die ich in Lugansk besuchte, gehörten auch ein Park für Kinder und eine Schule. Der Park heißt Schors-Park. Im Juli 2014 schlugen in dem Rasen des Parks ukrainische Geschosse ein.

Seit Juni 2017 steht in diesem Park ein Denkmal für im Krieg getötete Kinder. Man sieht stilisierte weiße Engel, die in den Himmel zu fliegen scheinen. So ein Denkmal habe ich noch nie gesehen und ich bleibe ungläubig davor stehen.

Telepolis berichtet aus dem Donbass

Teil 1: An der Frontlinie in Lugansk
Teil 2: "Wir haben uns an den Krieg schon gewöhnt"
Teil 3: Ist ein Kompromiss zwischen "Volksrepubliken" und Kiew möglich?

Was ist falsch, was ist richtig?

Mein Begleiter vom Lugansker Außenministerium erklärt, dass zu diesem Denkmal auch Schulklassen kommen. Ich frage, ob denn für Kinder so ein Denkmal nicht zu schrecklich ist? Die Antwort lautet: "Die Kinder müssen wissen, was Krieg bedeutet und warum Krieg schlecht ist."

So richtig überzeugt mich die Antwort nicht. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe gelernt, dass Kinder vom Krieg ferngehalten werden müssen. Jetzt aber bin ich in Lugansk und erlebe, dass Krieg hier etwas Alltägliches ist, und das schon seit sechs Jahren. Was ist nun richtig und was falsch?

"Die Kinder müssen wissen, was Krieg bedeutet und warum Krieg schlecht ist"

Blick in den Luftschutzkeller der Schule Nr 13 in Lugansk. Bild Ulrich Heyden

Für Deutsche ungewöhnlich ist auch, dass der 1936 eingerichtete Park den Namen eines Revolutionärs trägt. Nikolai Schors war Offizier der zaristischen Armee. 1919, im russischen Bürgerkrieg, kämpfte er auf der Seite der Roten. In der Sowjetunion wurde Schors, der im Alter von 24 Jahren fiel, wegen seines Mutes verehrt.

Allmählich begreife ich. Revolution und Krieg sind im Gebiet Lugansk Teil der örtlichen Geschichte und gehörten immer zum Schulunterricht. Und heute sind die Kinder in der "Volksrepublik Lugansk" gezwungen, im Krieg zu überleben. Die Kinder lernen schnell. Sie wissen bei Beschießungen schon, von wo geschossen wird und welche Geschosse fliegen.

Schulleiterin: "Für die Kleinen ist es schrecklich"

Als ich die Schule Nr. 13 in der Altstadt von Lugansk besuche, frage ich die stellvertretende Schulleiterin Veronika Anatoljewna nach dem Denkmal im Schors-Park. Sie antwortete: "Man muss den Kindern erklären, dass auch Kinder sterben. Die Kinder müssen es wissen, damit es nicht wieder passiert. Viele Kinder haben selbst den Krieg erlebt. Sie kennen das schon."

Und die Engel, die in den Himmel fliegen, ob das für Kinder nicht furchtbar ist? "Nun ja, für die kleinen Kinder ist das natürlich schrecklich." Aber die wichtigste Aufgabe liege bei den Journalisten, über die Grausamkeiten des Krieges zu berichten.

In der patriotischen Erziehung erzähle man den Kindern, "wie schrecklich es für ihre Großväter und Großmütter im Krieg war, damit sich solch ein Krieg nicht wiederholt. Wir wollen die Kinder vor dem Krieg schützen. Nein, wir bilden die Kinder nicht zum Schießen aus. Die Kinder lernen hier nur sportliche Betätigung."

Im Unterricht versuche man den Kindern den Konflikt im Donbass mit historischen Parallelen näherzubringen. "Im Geschichtsunterricht behandeln wir zum Beispiel den Konflikt zwischen Großbritannien und Irland, den es in bestimmten historischen Perioden immer wieder gab. Wir beschäftigen uns mit Jugoslawien und der Abspaltung des Kosovo. Wir besprechen mit den Kindern, wo es Ähnlichkeiten mit unserem Konflikt gibt und was anders ist."

Der etwa 40 Jahre alte Schulleiter Oleg Wladimirowitsch berichtet, die Schule Nr. 13 habe 625 Schüler und 65 Mitarbeiter, darunter 47 Lehrer. Während der heißen Phase des Krieges 2014, als in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen war und die Menschen in Kellern Schutz suchten, seien nur 200 Schüler zum Unterricht gekommen. Doch inzwischen seien viele Eltern mit ihren Kindern wieder in die Stadt zurückgekehrt.

Die Schule feiere im Herbst ihr 95. Jubiläum. 1982 wurde ein modernes neues Schulgebäude im schlichten Stil ohne Schnörkel und Verzierungen gebaut. Dort findet jetzt der Unterricht statt. In dem alten Gebäude befindet sich nur noch die Bibliothek.

In der Eingangshalle des Schulgebäudes steht eine weiße Büste des sowjetischen Piloten Aleksandr Molodtschi. Er hat die Schule Nr. 13 absolviert. Die Schule wurde nach dem Piloten benannt. Molodtschi wurde im Zweiten Weltkrieg zweifacher "Held der Sowjetunion". Im August 1941 bombardierte er im Alter von 21 Jahren Berlin.

Drei Stunden Ukrainisch-Unterricht in der Woche

Ich besuche eine Klasse, in der gerade die ukrainische Sprache unterrichtet wird. Der Unterricht in ukrainischer Sprache und Literatur wurde seit 2014 von fünf auf drei Stunden gekürzt, berichtet der Schulleiter.

Alles in dieser Klasse erinnert an die Ukraine, ein großes Wandgemälde mit ukrainischen Hirten, die Brot schneiden und Laute spielen, und Porträts ukrainischer Schriftsteller.

In der Klasse sitzen 25 Schüler. Sie wirken wie ganz normale Schüler und haben keine Angst Fragen zu beantworten. Die Kinder sind 13 Jahre alt. Meine Frage, ob sie Russen und Ukrainer seien, bejahen die Schüler. Auf die Frage, ob sie ihre Verwandten in der Ukraine besuchen, antworten sie fast wie aus einem Munde mit "ja". Ob die Reisen in die Ukraine interessant seien? Die Antwort ist erneut ein kollektives "ja".

Ukrainisch-Unterricht in Schule Nr 13 Lugansk. Bild Ulrich Heyden

Schnell kommen auch die Antworten auf die Frage, welche Berufe sie einmal ergreifen wollen. "Rechtsanwalt, Koch, Erzieherin." Ein Junge sagt, er wolle Programmierer werden und besuche schon Kurse. Als ich nach den Hobbys frage, antworten die Schüler: "moderne Tänze und Judo". Die Beschießungen 2014 und 2015 hätten sie schon vergessen, erzählen die Schüler. Ein Mädchen sagt: "Wir wollen das nicht hören."

Ich frage die stellvertretende Schulleiterin Veronika Anatoljewna, ob die ukrainische Sprache überhaupt noch gesprochen wird? Die Schulleiterin sagt, es gäbe "keinerlei Verbot gegen die ukrainische Sprache. Aber die Schüler sind schon mehr zur russischen Sprache übergegangen." Ukrainisch sei aber "keine Sprache des Feindes" geworden.

Die Schulleiterin: "Studiert habe ich auf Russisch, aber das Examen war auf Ukrainisch"

Die Familienverhältnisse der Schulleiterin sind durchaus typisch für den Donbass. Die Mutter von Veronika Anatolijewna ist Mutter Russin der Vater ist Ukrainer. Die Ausbildung an der Universität sei bei ihr auf Russisch gewesen, erzählt die Schulleiterin. Doch wegen der Ukrainisierung im Bildungsbereich, die nach 2005 verstärkt einsetzte, habe sie ihr Examen 2008 in ukrainischer Sprache ablegen müssen. Das sei nicht einfach gewesen. Viele Begriffe - vor allem Fachausdrücke aus der ukrainischen Sprache - habe sie erst lernen müssen.

Im Museum der Schule Nr 13 zeigt Schulleiterin Veronika Anatoljewna die Abteilung zum bäuerlichen Leben vor der Industrialisierung. Bild Ulrich Heyden

Die Schule hat ein kleines Museum. An der Wand hängt eine rote Hose, wie sie die Bauern vor 100 Jahren zu festlichen Anlässen trugen. In dem Museum erfährt man etwas über die Geschichte der Stadt Lugansk. "Hier gab es früher eine Kosakensiedlung", erzählt die Schulleiterin. "Dann gab die Zarin Jekaterina II. den Befehl, hier eine Fabrik zu bauen. Die Fabrik hatte die Aufgabe, die russische Front im Krieg gegen die Türken mit Geschützen zu versorgen." Ukrainer, Russen und Weißrussen hätten in der Gegend um Lugansk immer friedlich zusammengelebt, meint mein Begleiter Sergej Below.

In dem Schulmuseum gibt es auch eine Ausstellung über die sowjetischen Jungen Pioniere. Mit der Ausstellung wolle man "die Selbstorganisation der Kinder" zeigen, sagt die Schulleiterin. Die Jungen Pioniere gäbe es heute nicht mehr. Die Organisation für Jugendliche heiße heute "Junge Garde". Die Mitgliedschaft sei aber freiwillig und eröffne die Möglichkeit an Jugend-Wettbewerben in Russland teilzunehmen.

Gasmasken im Luftschutzkeller

Zum Abschluss meines Besuches in der Schule zeigt man mir einen 2014 provisorisch eingerichteten Luftschutzkeller. Im Keller sehe ich Matratzen, Gasmasken und viele Stühle. 200 Kinder fänden in dem Keller Platz, erklärt der Schulleiter. Zweimal im Jahr gäbe es Katastrophen-Übungen. Der Keller schütze nur vor Geschosssplittern, nicht vor dem Einschlag von Geschossen. Im Sommer 2014 diente der Keller der örtlichen Bevölkerung als Schutzraum, denn die Schulkinder hatten Ferien.

Die Schule Nr. 13 wurde in der heißen Phase des Krieges nicht von einem Geschoss getroffen Anders war es mit der Schule Nr. 7, die im Stadtzentrum liegt. In dieser Schule gab es noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges einen gut ausgerüsteten Luftschutzkeller, erzählt Segej Below, mein Begleiter vom Außenministerium. "Die Schule wurde im August 2014 zielgerichtet beschossen. Das wiederspricht internationalen Normen. Bei der ersten Beschießung wurden die Fenster zerstört. Die Menschen schafften es, ins Innere zu flüchten. Die Leute dachten, eine zweite Beschießung wird es nicht geben. Aber am nächsten Tag wurde die Schule noch einmal beschossen und es wurden zwei Menschen getötet und vier verletzt, die den Luftschutzkeller wegen der Sommerhitze verlassen hatten."

Am gleichen Tag habe es dann noch eine dritte Beschießung - diesmal mit Brandgranaten - gegeben und die Schule brannte komplett aus. Wasser zum Löschen gab es damals nicht.

Denkmal des ukrainischen Nationaldichters im Stadtzentrum

Die Situation in Lugansk scheint aussichtslos. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Doch einen Hass auf alles Ukrainische gibt es nicht.

An vielen öffentlichen Gebäuden, Schulen und Instituten hängen immer noch die kleinen Metalltafeln, auf denen in ukrainischer Sprache der Name der Einrichtung oder des Denkmals steht.

Im Stadtzentrum von Lugansk steht nicht nur Lenin, sondern auch ein großes Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. Diese beiden Denkmäler symbolisieren die Ukraine, wie es sie bis 2013 gab. Das war ein Land mit verschiedenen Kulturen und Helden. Doch diese Zeit scheint unwiederbringlich vorbei. (Ulrich Heyden)

veröffentlicht in: Telepolis

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