31. January 2023

»Die Lektion von 1917 gelernt« (Junge Welt) Teil 3

ALEXANDER MANZYUK/REUTERS, Vom Ausland unabhängige Wirtschaftszweige aufbauen: Stahlwerke in Magnitogorsk (21.10.2022)
Foto: ALEXANDER MANZYUK/REUTERS, Vom Ausland unabhängige Wirtschaftszweige aufbauen: Stahlwerke in Magnitogorsk (21.10.2022)

Mitsprache, aber keine Verstaatlichung, Wachstum ohne den Westen. Stimmen aus Russland. Teil 3 und Schluss

Von Ulrich Heyden, Moskau

Teil 1: https://www.jungewelt.de/artikel/443719.reportage-aus-russland-wir-vergessen-nicht.html

Teil 2: https://www.jungewelt.de/artikel/443794.reportage-aus-russland-weitere-rote-linien.html

Waleri Gerassimow, der Chef des russischen Generalstabs, erklärte am Mittwoch in einem Interview zur militärischen Lage in der Ukraine: »So ein Niveau von intensiven Kriegshandlungen hat das moderne Russland noch nicht erlebt.« Und auch »eine Mobilisierung von Soldaten in diesem Ausmaß« habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Selbstkritisch gestand Gerassimow ein, das System der Mobilisierung sei »nicht vollständig an die wirtschaftliche Situation des heutigen Russlands angepasst gewesen«. Vieles habe improvisiert werden müssen.

Finnland und Schweden als mögliche neue NATO-Mitglieder würden wie auch die Ukraine selbst von der NATO in einem Hybridkrieg eingesetzt. Deshalb hätten die russischen Streitkräfte sich jetzt neu aufzustellen. Es werden ein Moskauer und ein Leningrader Militärbezirk geschaffen sowie drei Motorschützendivisionen für die neuen russischen Gebiete Cherson und Saporischschja gebildet. Außerdem ein Armeekorps im nordrussischen Karelien.

Verschiedene russische Politiker haben in den vergangenen Monaten eine Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg in der Ukraine gefordert. Absehbar ist, dass der Staat eine wichtigere Rolle in der russischen Wirtschaft spielen wird. Das wurde deutlich unter anderem an einer Personalie. Alexej Kudrin, der letzte einflussreiche Politiker, der die Ideale der Jelzin-Zeit hochhielt (das Zurückdrängen des staatlichen Einflusses in der Wirtschaft), räumte Ende letzten Jahres seinen Posten als Leiter des russischen Rechnungshofs.

Russland versucht seit einiger Zeit, vom Ausland unabhängige Wirtschaftszweige aufzubauen. Im Moskauer Renault-Werk – wo früher der »­Moskwitsch« vom Band lief – wird jetzt wieder ein russisches Auto produziert. Die Flugzeugwerke in Kasan bereiten sich vor auf die Herstellung des sowjetischen Passagierflugzeugs Tupolew »Tu-214«, das Ende der 1980er Jahre als »Tu-204« entwickelt worden war und keine westlichen Bauteile benötigt.

Der Vorsitzende der Duma, Wja­tscheslaw Wolodin, forderte die Beschlagnahmung von Eigentum derjenigen Russen, die ihr Land nach Beginn der »Spezialoperation« verlassen haben, um es »von außen zu beschimpfen«. Wladimir Potanin, Inhaber der weltweit größten Nickelhütte – Nornickel im Norden Sibiriens – konterte in einem Interview auf dem russischen Business-Portal RBK, man müsse gegenüber den Auswanderern, die als IT-Experten weiter für russische Firmen arbeiteten, »Toleranz zeigen«. Russland sei auf diese Experten angewiesen. Mit einem Vermögen von 17 Milliarden US-Dollar ist Potanin (Stand 2022) die zweitreichste Person in Russland. In dem Gespräch erklärte der Großunternehmer, er sei gegen jegliche Renationalisierung und Beschlagnahmung von Eigentum. Russland habe »seine Lektion von 1917 gelernt«, was wohl heißen soll, Russland habe die Schädlichkeit von Verstaatlichungen verstanden. Die »schaden dem Investitionsklima in Russland«. Man solle nicht den »Fehler des Westens« reproduzieren, der russisches Eigentum beschlagnahme.

Seine eigene Situation beschreibt Potanin als schwierig. Er habe Aktiva verloren. Als Großunternehmer lebe er in Unsicherheit. Durch die Sanktionen seien die Logistik und das internationale Rechnungswesen zerstört. Er versuche innerhalb Russlands zu investieren, allerdings brauche er für die Entwicklung neuer Produkte den globalen Markt und Technologien aus anderen Ländern. Zur Zeit knüpfe er Kontakte in Marokko, in der Türkei, in arabischen Ländern und vor allem in China.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Westen mit seinen Sanktionen darauf zielt, einen Teil der russischen Wirtschaftselite gegen Putin aufzubringen, um einen Regime-Change zu provozieren. Bislang aber sieht es so aus, dass Russland sich um Putin schart. Eigentlich hätte der Westen diese Entwicklung voraussehen müssen. Um so absurder erscheint der militärische Druck, der jetzt vom Westen aufgebaut wird.

veröffentlicht in: Junge Welt

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