Die Liebe des Spatzen
Wie ein Junge aus Sibirien einem aus dem Nest gefallenen Vogel das Leben rettete – und dieser ihm dafür sein Herz schenkte.
Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau
„Privjet!“ sagt Wadim zu einem kleinen Spatzen, den er auf der Hand hält. „Hallo“ heißt das. Der Vogel dreht sein Köpfchen zur Seite und antwortet mit einem Tschilpen. Der zwölfjährige Wadim hat das Tier nicht weit vom Haus seiner Oma im südrussischen Städtchen Minusinsk gefunden und aufgezogen. Es war aus dem Nest gefallen, noch ganz ohne Federn.
Erst habe er gedacht, der Spatz sei ein Junge, erzählt Wadim dem sibirischen Fernsehkanal ctv7. Aber dann seien ihm doch Zweifel gekommen und er habe im Internet nachgeguckt. Nun wisse er, dass sein Vogel ein Mädchen ist. Denn die Spatzenweibchen haben einen dunkelbraunen Streifen, der sich von den Augen zum Körper hinzieht. Wadim nennt seine gefiederte Freundin nach seiner Lieblingsspeise Sushi mit Garnelen, „Ebbi Maki“.
Der Junge und die Spätzin verstehen sich nicht nur. Sie sind unzertrennlich. Selbst wenn Wadim mit dem Kopf nach unten an einem Klettergerüst baumelt, bleibt Ebbi bei ihm, klammert sie sich am T-Shirt des Jungen fest und schaut in der Gegend rum, so als sei Turnen mit Menschen die normalste Sache der Welt.
Wadims gefiederte Freundin macht auf dem Spielplatz geduldig alle Späße mit. Wenn der Junge das Tier auf einen Plastik-reifen setzt und diesen dreht, hält das Tier flügelschlagend die Balance, ganz wie im Zirkus. Nur wenn es Ebbi zu viel wird, fängt sie laut an zu tschilpen und zwickt ihn mit dem Schnabel.
Der Spatz sei jetzt „Teil der Familie“, sagt Wadims Oma, Irina Parfjonowa, nicht ohne Stolz dem örtlichen Fernsehkanal „Jenisej“. Erst habe sie gehofft, dass der Vogel irgendwann wegfliegt. „Doch dann tat er mir leid.“ Nun sei Ebbi überall mit dabei. „Wenn wir in die Küche gehen und ihn nicht mitgenommen haben, kommt er von selber angeflogen und setzt sich auf den Tisch“, erzählt die Großmutter.
Bald fliegt Wadim zurück nach Hause, in das nordrussische Städtchen Dudinka. Seine gefiederte Freundin will er auf jeden Fall mitnehmen. Seine Eltern haben nichts dagegen und beim örtlichen Veterinär-Amt schon eine offizielle Bescheinigung für das Mitführen des Tieres besorgt. Im Amt habe man zuerst über den Jungen gelacht. Doch die Erlaubnis wurde ausgestellt.
Natürlich wolle er Ebbi auch mit in die Schule nehmen, sagt Wadim. Ob die Lehrer sich allerdings genauso freuen, ist fraglich. Doch sollten sie es wirklich verbieten? In Russland ist Ebbi ein echter Fernsehstar.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung