Ulrich Heyden, Abriss eine Chruschtschowka genannten Plattenbaus
Beim Abriss der Häuser setzte man zuerst noch Wassersprinkler ein, um den Staub zu binden. Doch auf diese Maßnahme verzichtet man mittlerweile. Ich bekam Panik. Man muss wissen: In den Plattenbauten gab es neben dem Herd in der Küche oft noch eine Asbestplatte, die Hitze von den Küchenschränken abhält.
Der Boden in Moskau ist zwar Gold wert, aber immerhin – dank einer Entscheidung des sowjetischen Parlaments von 1991 – lebt ein Großteil der Russen heute in Wohnungen, die ihnen selbst gehören. Und das kam so: 1991 – kurz vor der Auflösung der Sowjetunion – wurde ein Gesetz erlassen, nachdem die in einer staatlichen Wohnung gemeldeten Bewohner durch einen einfachen Antrag Besitzer dieser Wohnung werden konnten.
Der russische Staat blieb weiterhin für die Bewirtschaftung zuständig, die über eine Umlage durch die Wohnungseigentümer finanziert wird. Das Geld reichte aber offenbar nicht für das Auswechseln verrotteter Rohre und Leitungen, oder es versackte in der Bürokratie. Denn die »Chruschtschowkas« sind heute oft in einem erbärmlichen Zustand. Wasserleitungen sind alt und Außenwände seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen. Dies wiederum nutzt die Moskauer Stadtverwaltung als starkes Argument, die Plattenbauten, die in Ostdeutschland in den 1990er Jahren noch erfolgreich renoviert wurden, allesamt abzureißen. Die Reparaturarbeiten seien teurer als ein Neubau, heißt es.
Im Zuge der Baumaßnahmen änderte sich die soziale Struktur in unserem Bezirk radikal. Aus Angst vor Lärm und Staub vermieteten viele Russen ihre vier Wände an Arbeitsmigranten aus Tadschikistan und Usbekistan. Während sich die Eigentümer an ruhigeren Orten der Stadt eine Bleibe zur Miete suchten, waren die Wohnungen für Migranten wegen der niedrigen Preise interessant. Der Anteil der Tadschiken und anderer Menschen aus Zentralasien hat sich auf unserer »grünen Insel« vervielfacht. Auf den beiden etwas abgeschabten Kinderspielplätzen trifft man nun sehr viele tadschikische Frauen mit und ohne Kopftuch, die ihre in Moskau geborenen Kleinkinder auf den Armen tragen. Ein Nachbar erzählt, dass die russischen Kinder alle auf einem moderneren Spielplatz 500 Meter weiter weg spielten. Viele Eltern würden sich beschweren, dass in den Klassen ihrer Zöglinge zu viele Kinder zentralasiatischer Migranten sind. Sie fürchteten, dass sich dadurch die Qualität des Unterrichts an den Schulen verschlechtert.
Das Verhältnis zwischen Russen und Arbeitsmigranten ist in Moskau schon seit Jahrzehnten angespannt. Die Zugezogenen würden Löhne drücken und russische Beamte sich beim Einsatz der ausländischen Arbeitskräfte bereichern, so eine weitverbreitete Meinung in der Mehrheitsbevölkerung. Während tadschikische Männer auf den Neubaustellen arbeiten, bereiten die Frauen in ihren Wohnungen Mahlzeiten zu, die mit Hilfe eigener Kurierfahrer auf chinesischen E-Bikes an die Landsleute der umliegenden Neubaustellen ausgeliefert werden. Oft zieht schon am Morgen Fettgeruch um unser Haus.
Auch an den E-Bikes entzündet sich Streit. Im Winter werden sie im Hausflur abgestellt, obwohl dafür kein Platz ist. Da es anscheinend umständlich ist, die Haustür mit einem Kontaktschlüssel zu öffnen, steht sie auch bei kalten Temperaturen häufig weit offen. Die Sitten verwilderten, murrten alte Bewohner. Der Hausfrieden war ernstlich gestört, doch die Verwaltung des Komplexes interessierte sich – trotz zahlreicher Hinweise – nicht für diese Probleme.
Arbeitsmigranten leben schon viele Jahre in unserem Rajon. Im Hof beginnt ein tadschikischer Hofarbeiter jeden Morgen um Punkt sieben Uhr die Flächen um die Müllcontainer und die Bänke am Kinderspielplatz zu fegen. Kirgisinnen wischen einmal in der Woche den Treppenflur. Und wenn im Bad oder der Küche ein Wasserhahn ausgewechselt werden muss, schickt die staatliche Hausverwaltung einen tadschikischen Klempner, der das Problem gegen ein gutes Trinkgeld löst. Moskauer Politiker versicherten schon vor zehn Jahren, migrantische Viertel werde man »niemals zulassen«. Doch unser Rajon scheint das Gegenteil zu beweisen: Etwa ein Fünftel der Einwohner hat ihre Wurzeln in Zentralasien und dem Kaukasus.
Ulrich Heyden, Neubau von »Renovazija«-Wohnhäusern in Moskau (27.3.2024)
Abends wird das grüne Areal zu einer einzigen großen Telefonzentrale. Dann sitzen viele auf Bänken oder hocken auf den Rasenflächen und unterhalten sich per Video mit Angehörigen in 3.000 Kilometer Entfernung. Bei diesem Anblick wird mir jedes Mal schwer ums Herz. Wie hart muss es für einen Familienvater sein, so weit und so lange von der Familie entfernt zu wohnen?
Überraschend ist die Tatsache, dass die Russen in meinem Wohnbezirk zwar nicht besonders gut über die Migranten reden, es aber keinen Hass oder gar Gewalt gibt. Ende der 2000er Jahre konnten russische Skinheads und Ultrarechte in einer Welle des Hasses noch ungehindert Mordanschläge auf Menschen mit nichtslawischem Äußeren verüben. Doch seit die russische Justiz begann, Mörder aus der rechten Szene zu verfolgen und hinter Gitter zu bringen, sind die Gewalttaten gestoppt.
Das Neubauprogramm »Renovazija« startete mit einer von der Stadtverwaltung organisierten Abstimmung unter den Anwohnern. Die meisten stimmten für den Abriss ihrer Häuser. Diejenigen, die nicht wollten, dass ihr Haus abgerissen wird, konnten dies ganz legal verhindern. Doch es scheint, als würden nicht wenige Anwohner ihre Jastimme inzwischen bereuen. Die ununterbrochene Bautätigkeit ist den Menschen lästig. Es kam schon vor, dass verzweifelte Anwohnerinnen nachts auf dem Balkon standen und schrien: »Wann hört ihr endlich auf?« Man hört oft die Meinung, dass »die Arbeitsmigranten« nicht gut ausgebildet seien und es auf den Neubaustellen »nur Pfusch« gebe. Manch einer beginnt von den 60 Zentimeter dicken Wänden in den »Chruschtschowka«-Häusern zu schwärmen. Die Neubauten seien mit ihren 25 Zentimeter dicken Wänden »sehr hellhörig«.
Die Probleme nahmen im vergangenen Winter noch zu. Wegen der Baumaßnahmen konnten im Dezember die Wege in unserem Rajon nicht mehr vom Schnee gereinigt werden, weshalb keine Müllschlucker mehr anfahren konnten. Vor den Müllcontainern türmten sich Berge von Abfall in Tüten. Es entstand eine Protestbewegung.
Über eine Messenger-Gruppe wurden Informationen ausgetauscht. Auf Versammlungen unter freiem Himmel berichteten Mitbürger, sie hätten auf allen möglichen Behördenwebsites Beschwerden eingereicht, aber keine Antwort erhalten oder seien nur vertröstet worden. Als Wladimir Putin im Dezember 2023 seine traditionelle Jahrespressekonferenz für Journalisten durchführte, wurden auch aus unserem Rajon viele Anfragen und Videos an den russischen Präsidenten geschickt. Doch leider griff er das Thema nicht auf.
Ab und zu spreche ich mit den Bauarbeitern, die bei uns die neuen Wohntürme hochziehen. Sie verdienen zwischen 700 und 1.200 Euro im Monat. Das ist mehr als das Dreifache, das sie in Tadschikistan verdienen würden. Die Arbeit ist hart. Die Migranten arbeiten in Zwölfstundenschichten, egal bei welchem Wetter – ob bei 30 Grad Celsius Hitze oder 15 Grad Celsius minus. Sie leben in ziemlich abgeschabten Containern, die schon auf vielen Baustellen gestanden haben.
Ein Mann aus dem Kaukasus, der sein Geld mit Reparaturen verdient und schon lange in Moskau lebt, antwortet auf die Frage, ob das nicht unwürdige Wohn- und Arbeitsbedingungen seien: »Die Arbeiter wollen es so. Sie müssen ja Wohnung und Essen bezahlen. Deshalb wollen sie schnell und viel arbeiten.« Solche Bedingungen wie in Katar, »wo für die Arbeitsmigranten eine Wohnsiedlung gebaut wurde«, gäbe es »in Russland leider nicht«.
Eigentlich bringt das Moskauer Neubauprogramm einige Probleme, die gelöst werden müssten. Auch bräuchte es in den Ländern Zentralasiens einen wirtschaftlichen Aufschwung, damit Millionen Einwohner nicht konstant im Ausland arbeiten müssen, um ihre Familien zu ernähren. In Moskau wäre eine öffentliche Debatte über die Erfahrungen mit dem Programm »Renovazija« wünschenswert. Doch in Kriegszeiten scheint für solche Debatten kein Platz zu sein.
veröffentlicht in: Junge Welt