AKW Kernkraftwerk_Saporischschja. Bild: Ralf1969/CC-BY-SA-3.0
Nach einem Alarmbrief der atompolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, zeigten sich auch Außenminister Franz-Walter Steinmeier und Umweltministerin Barbara Hendricks besorgt. In einem Brief vom 3. Juni, aus dem die ARD zitierte, äußern die beiden Minister ihre Sorge um die Unabhängigkeit der ukrainischen Atomaufsicht.
Um das größte Risiko für die atomare Sicherheit in der Ukraine macht die Bundesregierung jedoch nach wie vor einen Bogen. Es werden nicht alle Hebel eingesetzt, damit die Ukraine die "antiterroristische Operation" gegen die eigene Bevölkerung in der Ostukraine stoppt. Die Ukraine hat vier Atomkraftwerke mit 15 Atomreaktoren. Das Land bezieht über die Hälfte des Stroms aus den AKWs. Weitere Atomkraftwerke sollen gebaut und Laufzeiten verlängert werden.
Weil der ukrainische Staat kein Geld hat, kann er die Sicherheit der Atomanlagen nur eingeschränkt gewährleisten. Das zeigte sich Ende April 2015, als in der 30-Kilometer-Sicherheitszone um das Atomkraftwerk Tschernobyl tagelang ein Waldbrand wütete. Die unzureichende Finanzierung der Feuerwehr sei eine der Ursachen für den Waldbrand gewesen, erklärte der Leiter der Feuerwehr-Gewerkschaft von Tschernobyl, Nikolai Teterin, auf einer Pressekonferenz. Die Behörden in Kiew hatten die Bevölkerung beruhigt und erklärt, wegen des Brandes sei die Radioaktivität in der Region nicht "über die Norm" gestiegen.
Probleme mit der atomaren Sicherheit gibt es auch durch das Gesetz mit dem "Vertreter der alten Macht" aus staatlichen Institutionen gekündigt werden, genannt auch "Lustration". Im Oktober letzten Jahres wurde auf Grundlage dieses neuen Gesetzes der Leiter der staatlichen Aufsicht für nukleare Sicherheit, Michail Gaschew, entlassen.
Es war wohl kein Zufall, dass es ausgerechnet Gaschew traf. Er hatte die Bestückung ukrainischer Atomkraftwerke mit Brennstäben des amerikanischen Unternehmens Westinghouse in der Ukraine verboten. Vorausgegangen waren Probleme mit Westinghouse-Brennstäben, die im Juni 2012 wegen Konstruktionsfehlern aus zwei Reaktoren des südukrainischen Atomkraftwerkes entnommen werden mussten.
Nach der Entlassung von Gaschew wurde die Zusammenarbeit mit Westinghouse wieder ausgebaut. Nach einem Ende Dezember 2014 geschlossenen Vertrag soll der US-Konzern bis 2020 Brennstäbe für ukrainische Atomkraftwerke liefern. Premierminister Jazenjuk begründet diese Entscheidung damit, dass die Ukraine sich von russischen Brennstäben unabhängiger machen müsse.
Ein weiteres US-Unternehmen, Holtec International, bekam Ende Januar 2015 den Zuschlag für den Bau eines zentralen ukrainischen Lagers für abgebrannte Brennstäbe aus Atomkraftwerken. Der Bau der Anlage soll in diesem Jahr beginnen. Die Brennstäbe sollen "trocken" in doppelwandigen Edelstahlbehältern gelagert werden. Auch dieses Projekt soll der Unabhängigkeit von Russland dienen. Bisher hatte die Ukraine über die Hälfte seiner abgebrannten Brennstäbe zur Wiederaufbereitung nach Russland transportiert.
Es werden eifrig neue Partner für einen Ausbau der ukrainischen Atom-Energie gesucht, dabei ist die Atomruine Tschernobyl immer noch nicht gesichert. Es fehlen noch 85 Millionen Euro der westlichen Geberländer für den Bau der fahrbaren Schutzhülle (New Safe Confinement), welche über den löchrigen Tschernobyl-Sarkophag gefahren werden soll. Deshalb wird mit der Fertigstellung de Schutzhülle erst für November 2017 gerechnet. Der Sarkophag war 1986 in aller Eile um den geborstenen Reaktor gebaut worden.
Nach Angaben des Internetportals golos.ua gibt es im Sarkophag bereits Risse mit einer Gesamtfläche von 1.000 Quadratmetern. Sollte der Sarkophag einstürzen, wobei radioaktiver Staub entweichen würde, wären auch andere Staaten betroffen, erklärte Staatssekretär Jochen Flasbarth vom deutschen Bundesumweltministerium.
Die ukrainischen Nationalisten haben ganz andere Probleme. Sie träumen davon, die Ukraine wieder atomar zu bewaffnen. Das Land am Dnjepr hatte seine Atomwaffen 1994 an Russland abgegeben. Im Budapester Memorandum war zwischen der Ukraine, den USA, Russland und Großbritannien vereinbart worden, dass die Ukraine im Gegenzug zur Abgabe der Atomwaffen von den USA, Großbritannien und Russland Garantien für seine Unabhängigkeit und Souveränität bekommt.
Die Ukraine mit Atomwaffen, diese Vorstellung ist auch für den ehemaligen Nato-Generalsekretär, George Robertson, ein Gedankenspiel wert. Gegenüber dem Herald Scotland erklärte er im Februar 2015: "Would Crimea have been grabbed and Eastern Ukraine occupied if the Ukrainians had kept some of their nukes?"
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat sich zwar im Dezember 2014 gegen eine Atombewaffnung seines Landes ausgesprochen. Aber der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates und frühere Interims-Präsident, Aleksandr Turtschinow, erklärte im April: "Für den Schutz werden wir alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen, auch für die Schaffung effektiver Waffen." Das Wichtigste sei, "dass die Waffe effektiv ist, um was für eine Waffe es sich handelt - 'schmutzig' oder 'rein' - das ist eine gesonderte technische Frage." Man werde "nicht-öffentliche militärtechnische Programme" realisieren. Die ukrainische Industrie sei ausreichend leistungsstark,um "moderne, effektive Waffen eigener Produktion" herzustellen.
Das russische Außenministerium erklärte nach dieser Äußerung, Turtschinow spreche offenbar vom Bau einer "schmutzigen Bombe, einer Art Atombombe". Man hoffe, dass derartige Pläne nur in den "entzündeten Vorstellungen von Herrn Turtschinow" existieren. Die Verwirklichung derartiger Pläne würden die Ukraine zu "einem Schurkenstaat" machen und entsprechende Maßnahmen der UNO zur Folge haben.
Die Drohung von Turtschinow, notfalls auch "schmutzige" Waffen einzusetzen, könnte der Versuch sein, gegenüber Russland Stärke zu demonstrieren, die man eigentlich nicht hat. So sagte der Direktor des ukrainischen Nationalen Instituts für strategische Forschungen, Präsidentenberater Wladimir Gorbulin, die Ukraine habe für den Bau von Atomwaffen nicht die "industrielle Basis". In der Ukraine gäbe es "keine nuklear-chemische Industrie". Es gäbe weder die nötigen Experten für die Entwicklung noch Testmöglichkeiten für derartige Waffen.
Ähnlich äußerte sich auch der erste nachsowjetische Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, der erklärte, die Ukraine solle nicht über eine Rückkehr zu einem Land mit Atomwaffen nachdenken. Falls die Ukraine diesen Schritt gehe, verletze man den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen, den die Ukraine unterschrieben habe. Man könne "Wege suchen", das Problem mit den Atomwaffen "schnell zu lösen". Aber nach Berechnungen von 1995 bräuchte man dafür 55 Milliarden Dollar. Heute werde das "doppelt so viel kosten". Krawtschuk forderte von den Staaten, welche der Ukraine 1994 Schutz versprochen hatten, jetzt "Position zu beziehen".
In russischen Internetmedien hält man es nicht für ausgeschlossen, dass die Ukraine eine Atomrakete bauen könnte. Zu Zeiten der Sowjetunion seien in den ukrainischen Städten Dnjepropetrowsk, Kiew und Charkow Raketen und die dazugehörige Ausrüstung gebaut worden, schreibt das Internet-Portal Argumenty.ru. Die Ukraine sei heute in der Lage, eine einstufige ballistische Rakete mit einer Reichweite von bis zu 5.000 Kilometern zu bauen. Als Sprengkopf wäre ein "schmutzige Bombe" mit Abfällen aus einem Atomkraftwerk vorstellbar.
Vermutlich wird von russischen und ukrainischen Internetmedien mit dem Begriff "schmutzige Bombe" absichtlich spekuliert. Das gehört offenbar zu einem medial geführten Krieg. Auffällig ist allerdings, dass Spekulationen über "schmutzige Bomben" der Ukraine bisher nur in russischen Internetmedien, nicht aber in russischen Zeitungen auftauchen. Auch russische Politiker meiden das Thema.
Veröffentlicht in: Telepolis