22. June 2010

Ein kleines Moskauer Theater untersucht einen mysteriösen Todesfall.

Vor einem Jahr starb Wirtschaftsanwalt Sergej Magnitski in einem Moskauer Gefängnis. Jetzt wird sein Fall im Theater untersucht.

Sie habe vorne im Krankenwagen gesessen, das Radio lauter gestellt und sich kein einziges Mal zu dem Häftling umgedreht, sagt die blonde Schauspielerin, die eine Krankenschwester spielt. Also habe sie keine Schuld. Ihr schnippisches Lächeln wirkt zynisch.

In dem Stück „Eine Stunde und 18 Minuten“, das jetzt in dem kleinen Moskauer Experimental-Theater Dok aufgeführt wird, sprechen die Schauspieler nur Monologe. Aber die haben es in sich. Sie zeigen die Unmenschlichkeit des Gefängnissystems und die Herzlosigkeit von Richtern und Ärzten.

In dem Stück geht es um den Anwalt Magnitski. Der saß wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Höhe von elf Millionen Euro in den zwei berüchtigten Moskauer Untersuchungsgefängnissen Butyrka und Matrosenstille. Dort wurde er elf Monate gequält. Dann war er tot. „Er wurde gefoltert“, meint der Anwalt des Verstorbenen.

Magnitski, der an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse litt, wurde eine medizinische Behandlung versagt. Medikamente wurden ihm vorenthalten. Als Magnitski im Gerichtssaal um ein Glas heißes Wasser bittet, antwortet der Richter kühl, „es gibt keine Anordnung, dass der Häftling eine besondere Ernährung bekommt.“

Die Wände des Theaters Dok sind schwarz gestrichen. Der Kellerraum hat nur ein Fenster, die Luft ist stickig. Aber die Stuhlreihen sind mit 50 Zuschauern alle gefüllt. Der Tod des 37-Jährigen hat in Moskau hohe Wellen geschlagen. Dass die ungenügende medizinische Versorgung der Grund seines Todes war, hat jetzt sogar der Rechtsexperte der russischen Generalstaatsanwaltschaft eingestanden. Nach dem Tod des Anwalts entließ Präsident Medwedew 20 Beamte der Gefängnisverwaltung.

Aber im Fall Magnitzki geht es nicht nur um die übliche schlechte Versorgung in russischen Gefängnissen. Indem man Magnitski Medikamente vorenthielt, wollte man ihn zu einer Aussage gegen William Browder, den Chef der Investmentfirma Hermitage Capital Managment zwingen. Das sagt zumindest der Anwalt des Verstorbenen. Magnitski hatte für Browder angeblich ein System zur Steuerhinterziehung entwickelt. Da Browder sich bereits 2005 nach London abgesetzt hatte, war Magnitski der Einzige, dessen die russischen Justizorgane im Fall der Steuerhinterziehung von Hermitage Capital noch habhaft werden konnten. „Ich fühle mich wie eine Geisel“, erklärte der Häftling. „Eine Stunde und 18 Minuten“ heißt das Stück, denn die Gefängnisärztin diagnostizierte bei dem Häftling eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, ließ Magnitski dann aber eine Stunde und 18 Minuten allein. Die Ärztin konnte dann nur noch den Tod durch Herzstillstand diagnostizieren.

Die Schauspieler, die Richter, Gefängnisärzte und Krankenschwestern spielen, zeigen eindrucksvoll die weit verbreitete Herzlosigkeit in Gefängnissen und im Gesundheitswesen. Und sie zeigen die Verachtung, die viele Russen gegenüber Oligarchen und Steuerhinterziehern empfinden. Menschenrechte gelten nicht für Leute, die das Volk ausrauben, so eine weit verbreitete Meinung. „Er ist selbst schuld, dass er im Gefängnis sitzt. Er war Rechtsanwalt von Dieben“, sagt der Schauspieler, der den Ermittler spielt. Auf der Bühne liegt Magnitski in Embryo-Haltung. Er stöhnt vor Schmerzen. Die Ärztin überlässt Magnitski acht Gefängniswärtern, die den Häftling in eine gestreckte Position bringen und ihm Handschellen anlegen. In dieser Position stirbt der Häftling an Herzversagen.

Heikel ist, dass die Schauspieler unter den Namen von noch lebenden Personen auftreten. Doch Michail Ugarow, der Regisseur des Stückes, hat keine Angst vor einer Klage. Man lade die Richter und Ärzte ins Theater ein. „Sie könnten ja Anzeigen erstatten.“ Doch Regisseur und Schauspieler fürchten offenbar keine Anzeige, weil der gesamte Text, den die Schauspieler sprechen, auf Vernehmungsprotokollen basiert.

Das Stück endet mit einer brutalen Racheaktion. Der Richter ist gestorben – eine Fiktion. Nun bittet er um heißes Wasser. Es wird ihm in einem Teekessel gebracht, allerdings ohne Becher. Der Richter hält die Hände auf, um das Wasser zu trinken, schreit dann jedoch vor Schmerz. Das Ende sei „hart, aber verdient“, mein Regisseur Ugarow.

"Südkurier"

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