22. June 2021

Flucht nach Moskau (der Freitag)

Ulrich Heyden
Foto: Ulrich Heyden

Ulrich Heyden | der Freitag, Ausgabe 24/2021 

Flucht nach Moskau

Nadjeschda Dmitrijewa 1941 im Alter von acht Jahren Foto: Ulrich Heyden

Am 22. Juni 1941 war ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter auf der Datscha“, erzählt Nadjeschda Dmitrijewa, die damals acht Jahre alt war. Ich sitze der heute 88-Jährigen in ihrer kleinen Wohnung im Kunzewo-Quartier, westlich des Moskauer Zentrums, gegenüber und höre zu. Nadjeschda erzählt, wie sie den Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion vor 80 Jahren erlebte und mit ihrer Familie schließlich im Treck nach Moskau landete.

Das Wochenendhäuschen der Dmitrijewas lag im Dorf Wolkowitsch, nicht weit von Minsk entfernt. „Ich weiß noch, meine Mutter lag auf einer Liege im Garten und las in einem Lehrbuch. Sie war Primaballerina am Minsker Opern- und Balletttheater, hatte aber die Schule nur bis zur achten Klasse besucht, weshalb sie Abendkurse belegt. Ich spielte im Gras, als sie plötzlich meiner Großmutter zurief: ‚Schau doch mal, ein Luftkampf von Flugzeugen, was ist da passiert?‘ Wenig später kam unser Nachbar und sagte völlig entgeistert, es sei Krieg, die Deutschen hätten angegriffen.“

Nadjeschdas Mutter entscheidet, mit dem Vorortzug nach Minsk zu fahren, um sich zu erkundigen, was jetzt zu tun ist. „Am nächsten Tag sah ich im Dorf die ersten Deutschen. Sie waren mit dem Fallschirm abgesprungen und wurden von unseren Leuten abgeführt. Es gab große Aufregung, denn es hieß, sie hätten die Brunnen vergiftet. Meine Großmutter packte bereits unsere Sachen – Bettzeug, Kleidung, Lebensmittel.

Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, sah ständig aus dem Fenster und überlegte, wohin ich fliehen könnte. Großmutter hatte gesagt, wenn etwas passiert, geh zu der großen Eiche und warte auf mich.“ Nadjeschda erinnert sich an Doppeldecker-Flugzeuge mit einem roten Stern auf der Tragfläche. Sie flogen nach Minsk und warfen dort Bomben ab. Die alte Dame ist sich sicher, dass es deutsche Maschinen mit gefälschten Hoheitszeichen waren. „Oder die Deutschen hatten unsere Flugzeuge erbeutet, wer weiß.“ Sie habe noch heute einen Piloten vor Augen, der ganz niedrig flog und durch eine Brille, die ihr riesig erschien, auf das Dorf blickte.

„Am 24. Juni kam meine Mutter aus Minsk zurück, um mich und meine Großmutter zu holen. Sie hatte ein Auto organisiert, ich glaube, mithilfe einer Flasche Wodka. Minsk brannte schon. Auf der Fahrt dorthin kamen wir an einen Bahnübergang, sahen einen Zug kommen, haben jedoch den Übergang noch schnell überquert. Ein Flugzeug hatte Bomben auf den Zug abgeworfen, und ich war neugierig, was geschehen würde. Aber meine Mutter drehte meinen Kopf weg, sodass ich nichts sehen konnte. Es krachte ständig, ich weiß noch, die Geschosse flogen mit einem Pfeifen herab, dass es einem die Seele zerriss. Diesen Ton werde ich nie vergessen.“

Ameisen zählen gegen Angst

Minsk sei damals eine alte Stadt gewesen, mit kleinen Gassen wie Riga und Häusern dicht an dicht. In der Wohnung von Nadjeschdas Eltern treffen sich Schauspieler und Tänzer aus dem Theater, um zu beraten, was man tun sollte. Alle sind der Meinung, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als eine Stadt zu verlassen, die ständig Luftangriffen ausgesetzt ist. Das Zentrum liegt bereits in Trümmern, der Bahnhof ist getroffen, ebenso der Loschizki-Flughafen. Die dort stationierten Kampfflugzeuge können nicht mehr aufsteigen, schon am 23. Juni sind sie von deutschen Jägern am Boden zerstört worden.

Am 25. Juni ziehen die letzten Militäreinheiten ab, auch die städtische Verwaltung tritt den Rückzug an. Wer bleibt, ist sich selbst überlassen. Die Leute vom Minsker Theater, unter ihnen Nadjeschda, ihre Mutter Nina, die Großmutter und der Hund Deska, wollen nicht länger warten. Mit Tausenden von Flüchtlingen verschlägt es sie auf die Chaussee Richtung Moskau. Unterwegs schließen sich Litauer und Bewohner umliegender Dörfern dem Marsch an, geführt von der Opernsängerin Larissa Pompejewna Alexandrowskaja. „Das war eine wunderschöne Weißrussin mit dunklen, lockigen Haaren. Sie kannte eine Route, die durch dichten Wald führte und Deckung versprach“, berichtet Nadjeschda.

„Meine Großmutter trug einen Emaille-Eimer, in dem sie ein Brot, Marmelade und eine Flasche Sonnenblumenöl verstaut hatte. Meine Mutter hatte die Aktentasche meines Vaters dabei mit Familienpapieren und den damals üblichen Anleihescheinen, die besagten, dass ein Teil des Gehalts vom Staat einbehalten und später ausgezahlt wurde. Die Chaussee war voller Menschen, einige zogen Karren, andere waren mit Schubkarren unterwegs, auf denen sie Koffer mit Wertsachen transportierten, von denen man glaubte, sie würden zum Tausch gegen Nahrungsmittel gebraucht. Viele konnten ihr Gepäck nicht mehr schleppen und ließen es im Chausseegraben einfach liegen.“

Immer wieder werden sie von deutschen Flugzeugen angegriffen. Jemand schreit „Wosduch“ (Luft) und umgehend werfen sich alle auf den Boden. „Als ich so dalag, sah ich eine stattliche Frau, die ein Kind bei sich hatte. Plötzlich rief sie: ‚Was legt ihr euch hin? Die Deutschen brauchen euch nicht. Steht auf!‘ Sie hatte sich getäuscht, wurde aus einem Flugzeug beschossen und starb in wenigen Minuten.“ Wie hat Nadjeschda das erlebt. Hat sie geweint? „Nein, aber ich hatte furchtbare Angst und immer das Gefühl, auf die Toilette zu müssen. Einmal lag ich auf dem Boden und habe versucht, die Ameisen zu zählen. Nicht weit von mir sah ich meine Mutter und unseren Hund, der hin und her lief und nicht wusste, was er machen sollte. Und dann hatten wir Glück, weil Soldaten mich und meine Mutter auf ihrem Lastwagen mitnehmen wollten. Ich weiß noch, dass Großmutter fragte – ‚Was wird jetzt mit mir?‘ – und meine Mutter antwortete: ‚Mach dir keine Sorgen, wir treffen uns in Moskau‘.“

Wozu es tatsächlich gekommen ist. Die Großmutter hat die 700 Kilometer nach Moskau überlebt, manchmal kann sie in ein Auto steigen, manchmal geht sie tagelang zu Fuß mit dem Hund Deska nebenher, für den ihr Bauern Brot schenken, wenn er „Walzer tanzt“.

Nadjeschda und ihre Mutter erreichen das 330 Kilometer östlich von Minsk gelegene Smolensk. „Im Bahnhof war gerade ein Zug aus Moskau eingefahren. Meine Mutter sagte: ‚Vielleicht sitzt dein Vater im Zug.‘ Und wirklich, so war es. Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als er sich gerade heißes Wasser für den Tee holte. Meine Mutter rief: ,Wolodja!‘, mein Vater fragte gleich: ‚Wo ist meine Mutter?‘ Wir haben ihm dann erklärt, dass wir uns trennen mussten.“

Abenteuerlich wird das allerletzte Stück bis Moskau. In Wjasma, 230 Kilometer vor der sowjetischen Hauptstadt, kann Nina einen Lkw-Fahrer überreden, sie in sein Führerhaus zu setzen. Um durch die strengen Kontrollen zu kommen, schlägt sie vor, sich als dessen Frau und Nadjeschda als Tochter auszugeben. Es hat sich herumgesprochen, dass es vor Moskau wegen des Krieges strenge Zuzugskontrollen gibt. „Das bedeutete, mein Vater musste sich selbst nach Moskau durchschlagen, sonst wäre die Geschichte geplatzt. Damit der Fahrer unterwegs nicht einschlief, erzählte ihm meine Mutter ein Theaterstück nach dem anderen. Er hat uns dann in Moskau sogar bis zu meiner Tante gefahren, die im Viertel Marina Rostscha ein Zimmer mit Plumpsklo auf dem Hof bewohnte, da kamen wir unter.“

In Moskau kann Nadjeschda bald wieder zur Schule gehen, während ihre Mutter häufig unterwegs ist. Sie gehört zu einem Fronttheater, das vor Soldaten der Roten Armee spielt, zumeist auf der als Bühne genutzten Ladefläche eines Militärtrucks.

Stolz erzählt Nadjeschda, dass sowohl sie als auch ihre Mutter nach dem Krieg Stalin begegnet seien. Nadjeschda nahm als Gymnastik-Sportlerin an einer künstlerischen Darbietung auf dem Roten Platz teil. „Während unserer Vorstellung liefen wir mit farbigen Bändern vom Kaufhaus GUM zum Lenin-Mausoleum, auf dem Stalin stand. Alle Sportler raunten Stalin, Stalin. Als der Auftritt zu Ende war, nahmen wir uns als Andenken ein Stückchen von dem extra für die Sportler ausgelegten, zentimeterdicken Teppich mit nach Hause.“

Stalin sei nicht besonders groß gewesen, erinnert sich Nadjeschda. Der Eindruck des Oberkommandierenden aber war so stark, dass sie die Begegnung später als Thema für einen Schulaufsatz wählte. Der alten Dame ist diese Anekdote absolut nicht peinlich. Stalin ließ die Herzen der Menschen damals höherschlagen. Immerhin wurden unter seiner Führung die deutschen Faschisten geschlagen. Auch ihre Mutter war Stalin einmal ganz nah als Gast eines Banketts, das im Kreml für Künstler aus Weißrussland gegeben wurde. Nina war weitsichtig und als Stalin den Saal betrat, kletterte sie auf einen Stuhl, um ihn besser sehen zu können. Ein Sicherheitsbeamter raunte ihr zu: „Mütterchen, steigen Sie herunter!“

Nadjeschda Dmitrijewa kehrte nach dem Krieg nicht nach Minsk zurück, da ihre Mutter ein Engagement in Gorki, dem heutigen Nischni-Nowgorod, bekam. 1960 heiratete sie einen Ingenieur, der bald darauf auf einen sowjetischen Luftwaffenstützpunkt nahe der Stadt Finsterwalde in der DDR versetzt wurde. Ihr ist noch die gespannte Situation im August 1961 gegenwärtig, die Zeit des „Mauerbaus“. Damals seien zum Schutz der Garnison gegen „westdeutsche Provokationen“ Panzer der DDR-Volksarmee aufgefahren.

Die sowjetischen Soldaten hätten gescherzt, man hoffe, dass die Richtschützen ihre Rohre nicht irgendwann in Richtung ihrer Kasernen drehen. Sie selbst habe nach der Rückkehr in die Sowjetunion als Geografielehrerin gearbeitet, später an wissenschaftlichen Instituten, die sich mit der Erkundung von Gold- und Silbervorkommen beschäftigten. Ihr Wunsch sei es gewesen, wie ihre Mutter ans Theater zu gehen, aber dieser Traum habe sich leider nicht erfüllt. „Mein liebster Feiertag ist der 9. Mai, ein Tag des Frühlings und des Sieges.“

veröffentlicht in: der Freitag

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