Karabach-Soldat Garik. Bild: Ulrich Heyden, Stepanakert
Videos und Fotos über schwerste Misshandlungen bekomme ich später auch von dem armenischen Zeitsoldaten Garik zu sehen. Den 27 Jahre alten Garik, lernten wir in einem Cafe kennen. Auf den Fotos und Videos, die er zeigte, sieht man wie getötete armenische Frauen in Militäruniform halbnackt am Boden liegen und von aserbaidschanischen Soldaten mit Waffen traktiert werden. Die Fotos und Videos waren nach Aussage von Garik Beute von Handys aserbaidschanischer Soldaten.
Dass der Frieden in Berg-Karabach fragil ist, zeigte sich am 27. und 11. Dezember. An beiden Tagen kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen armenischen und aserbaidschanischen Soldaten.
Das Verteidigungsministerium von Aserbaidschan meldete, dass am 27. Dezember um 15:30 eine "ungesetzliche Gruppe von sechs Armeniern" beim Dorf Agdam im Khojavend-Bezirk aserbaidschanische Soldaten angegriffen habe. Ein aserbaidschanischer Soldat sei getötet, ein zweiter verwundet worden. Die sechs Angreifer seien "vernichtet" worden.
Die Verteidigungsministerien von Armenien und Karabach wiesen den Vorwurf zurück. "Die Armee von Arzach hält sich streng an das Waffenstillstandsabkommen", heißt es in einer Erklärung des Verteidigungsministeriums von Karabach.
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Kontrollposten der russischen Friedenstruppen in Berg-Karabach: Bild: Ulrich Heyden
Es ist nicht ausgeschlossen, dass armenische Männer auf eigene Faust einen Angriff auf eine aserbaidschanische Stellung ausführten.
Bereits am 11. Dezember war es in im Gadruzki-Bezirk - südöstlich von Stepanakert zu einem schweren Zwischenfall gekommen, bei dem nicht klar ist, wer den Zwischenfall auslöste.
Nach Angaben des armenischen Verteidigungsministeriums beschoss aserbaidschanische Artillerie Stellungen von armenischen Soldaten und Freiwilligen in den Dörfern Chin Tacher und Chzaberd, die zu Berg-Karabach gehören. Die Bevölkerung wurde evakuiert. Es gab sechs verletzte armenische Soldaten.
Baku sprach von einer "Provokation" der armenischen Seite. Das russische Verteidigungsministerium meldete, man haben "den Versuch das Waffenstillstandsabkommen zu brechen, beendet" . Die Schuldigen für den Bruch des Waffenstillstandsabkommens nannte die russische Seite nicht.
Der Zwischenfall im Gadruzki-Bezirk ereignete sich exakt einen Tag nach einer großen Siegesparade in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Auf der Parade behauptete der Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, in seiner Rede, Armenien habe Aserbaidschan angreifen wollen.
Weiter behauptete Präsident Alijew, mehrere Gebiete im Zentrum der Republik Armenien seien "historisch unser Land". Unter anderem nannte Alijew die Gegend um den 74 Kilometer langen Sevan-See und die Gegend um die armenische Hauptstadt Jerewan. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan verurteilte die Behauptungen von Alijew.
Auf der Militärparade in Baku sprach auch der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan. Er erklärte, "heute freut sich der Geist von Enver Pasha". Pasha war Kriegsminister des Osmanischen Reiches und gilt als Hauptverantwortlicher für den Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915.
Zur Regelung der Sicherheitsfragen im Südkaukasus will der aserbaidschanische Präsident Alijew nun eine Gespräch-Plattform mit sechs Staaten der Region bilden. Zu der Plattform gehören sollen Aserbaidschan, Georgien, die Türkei, Armenien, Russland und der Iran. Die westlichen Staaten spielen, seitdem von Russland initiierten Waffenstillstandsabkommen, politisch nur noch eine geringe Rolle in der Region.
Ich war mit vier Journalisten aus Tschechien, Polen und Russland nach Berg-Karabach gereist. Armenier, die in Moskau leben, hatten uns eingeladen, damit wir über die Kriegsfolgen in Berg-Karabach berichten. Unsere Journalisten-Gruppe war in Stepanakert in einem einfachen Hotel untergebracht. In dem Hotel wohnt auch eine armenische Flüchtlingsfamilie aus Mardakert, einem Grenzbezirk von Karabach. Die Familie hatte zehn Kinder im Alter von drei Monaten bis 16 Jahre und wohnte in zwei Hotelzimmern.
Der Familienvater Hamlet Bagajan wirkte wütend aber auch gefasst. Seine Arbeit hat er verloren. Er arbeitete im Goldbergbau und verdiente im Monat 400 Euro. Doch der Betrieb ist jetzt stillgelegt, weil Aserbaidschan die Wasserversorgung abgestellt hat.
Wie man mit so vielen Personen in zwei Zimmern leben kann?, fragte ich Hamlet. "Ich nehme drei Kinder und gehe mit ihnen in der Stadt spazieren. Wenn es dunkel wird, gehen wir nach Hause."
"Man hat unsere Erde an die Türken verkauft", schimpfte Hamlet. Hier muss ich erklären: Viele Armenier nennen die Aserbaidschaner herablassend "Türken" und sprechen ihnen ab, dass sie eine eigene Nation sind. Doch das ist noch nicht alles. Aserbaidschaner seien "keine Menschen", hörten wir von Armeniern immer wieder. Ich wandte ein, dass es wohl auch unter Aserbaidschanern vernünftige Menschen gibt. Doch mein Einwand wurde überhört. Der Krieg hat die Seelen verhärtet. Hamlet erzählte, er habe schon 1992 für die Unabhängigkeit von Karabach gekämpft. Seinem Bruder hätten Aserbaidschaner damals den Kopf abgeschnitten.
Hamlet schimpfte: "Der Präsident von Karabach hat keine Schuld. Paschinjan (der Ministerpräsident von Armenien, U.H.) hat die Schuld. Er hat nachts online unterschrieben, dass der Boden an Aserbaidschan übergeben wird."
Paschinjan habe so viel falsch gemacht. "Warum hat Paschinjan nicht rechtzeitig zwei der sieben Bezirke an Aserbaidschan zurückgegeben?", fragt Hamlet. "So hätte man vielleicht verhindern können, dass 5.000 Menschen sterben."
Diese Aussage bedarf einer Erklärung. Im Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 wurde festgelegt, dass Berg-Karabach die seit 1993 besetzten Gebiete rund um Arzach an Aserbaidschan zurückgibt. Die Gebiete wurden 1993 von den Armeniern besetzt, um Beschießungen der von Arzach zu verhindern. Sie sollten als Schutzzonen fungieren.
Hamlet äußerte sich widersprüchlich. Einmal sagte er, er wolle keinen neuen Krieg. Dann sagte er, "ich meine, man muss unser Land zurückholen. Wo du auch gräbst, stößt du auf unsere Chadschkar". Das sind uralte, in Stein gehauene Kreuze.
Wie seine Kinder auf den Krieg reagierten, fragte ich Hamlet. "Sehr schlecht. Sie haben Angst. Die kleinen Kinder schlafen nachts, aber meine 16jährige Tochter schläft nachts nicht. Sie sagt, Papa, ich habe Angst, dass nachts die Türken kommen. Ich sage ihr, solange ich hier bin, hab' keine Angst."
Die Kinder gucken bedrückt auf uns Journalisten. Nur wenn einer der Journalisten einen Witz machte, huschte ein Lachen über die Gesichter der Kinder, verstarb aber schnell wieder.
Die Familienmutter, Hemine, eine kleine Frau mit gütig-lächelndem Gesicht, erzählte uns, was am 27. September passierte. Drohnen türkischer und israelischer Produktion begannen zu schießen. Sie habe ihre Kinder versammelt und sei geflüchtet, über die Städte Latschin und Goris bis nach Jerewan. Dort wohnte die Familie bei der Schwester von Familienvater Hamlet.
Als der Krieg zu Ende war, kam die Familie zurück, aber nicht in ihr Heimatdorf, das jetzt von aserbaidschanischen Truppen besetzt ist, sondern nach Stepanakert.
Die Familie von Hamlet und Hemine lebt jetzt von 170 Euro. Das ist die Gesamtsumme, welche die Eltern an Kindergeld von der Regierung in Karabach im Monat bekommen.
Was ist mit dem heimatlichen Haus, frage ich Hamlet. "Dort sitzen jetzt Leute und trinken Tee", sagt er mit einem bitteren Gesichtsausdruck. Warum hat Paschinjan nicht unterschrieben, dass Hamlet 10.000 US-Dollar bekommt, damit er Farmer werden kann?", sagt der Familienvater in bitterem Ton.
Große Hoffnung setzt Hamlet auf Russland. "Wenn Wladimir Putin will, werden wir wieder in unserem Haus leben."
Zu den Flüchtlingen, die im Hotel wohnen, gehört auch Hasmek Babekjan, eine Frau aus Schuschi. Die nur ein paar Kilometer von Stepanakert gelegene Stadt ist seit Anfang November in der Hand der aserbaidschanischen Armee.
Es ist schon die zweite Katastrophe im Leben von Hasmek. Die etwa 50 Jahre alte Frau stammt eigentlich aus Guymri, wo es 1988 ein schweres Erdbeben gab. Nach dem Krieg zwischen Aserbaidschan und Karabach Anfang der 1990er Jahre zog Hasmek in die nicht weit von Stepanakert gelegene Stadt Schuschi. Dort arbeitete sie als Buchhalterin in einem Museum.
Hasmek erzählte, als Ende September 2020 die Angriffe der aserbaidschanischen Armee begannen, "habe ich erst gar nicht verstanden was los ist. Wir dachten das ist ein Feuerwerk. Dann kam mein Mann. Er sagte, man hat Stepanakert bombardiert und wir müssen in den Keller umziehen. Die Stadtverwaltung brachte uns zu Essen. Die Drohnen flogen unaufhörlich. Ende Oktober entschied ich dann mit meinem Mann, dass wir nach Stepanakert fliehen. Später haben wir dann gehört, dass man Schuschi aufgegeben hat". Ihr Stimme bricht ab und Hasmek weint. "Wer trägt die Verantwortung: Ich weiß nicht. Vielleicht die Regierung, der Präsident? Ich weiß nur dass ich alles verloren habe. Und die Regierung hat vermutlich Alles, ein Haus eine Wohnung. Immerhin können wir kostenlos im Hotel wohnen. Das bedeutet sehr viel für uns."
Ich fragte, hätte man den Krieg ohne die russischen Friedenstruppen stoppen können? Nein, meinte Hasmek. "Wir hatten nur noch wenig Waffen. Auf unsere Seite kämpften junge Soldaten mit wenig Erfahrung. Die Aserbaidschaner wurden von Israel und der Türkei unterstützt."
Ob Russland Verantwortung trägt, für das passiert ist? "Das kann ich nicht sagen. Russland ist ein anderer Staat." Schuschi werden wir zurückgewinnen." Warum? "Ich weiß nicht. Ich warte, dass ich mein Haus wiederbekomme." Wie sie zu den Aserbaidschanern stehe? Das seien "keine Menschen, das seien Tiere", antwortete Hasmek. "Sie haben schwangere Frauen getötet und Köpfe abgeschnitten."
Die russische Friedenstruppe ist seit dem Waffenstillstand Anfang November mit 2.000 Soldaten in Nagorni-Karabach - die Armenier sagen "Arzach" - präsent. Als wir von Jerewan durch den Latschin-Korridor nach Stepanakert fuhren, sahen wir, dass die Friedenstruppe alle paar Kilometer Stellungen aus mit Sand gefüllten Kisten und Schützenpanzerwagen aufgebaut hat. Über schwere Waffen verfügt die Friedenstruppe nicht.
Zu den Aufgaben der meist jungen russischen Soldaten gehört unter anderem der Schutz des fünf Kilometer breiten Latschin-Korridors, der einzigen Verbindung, die es noch zwischen der Republik Armenien und Arzach gibt.
Die jungen russischen Soldaten, hatten eine Kalaschnikow umgehängt. Wegen der Kälte im Gebirge, trugen sie eine Gesichtsmaske. Sie fragten, wohin wir fahren und wie viele wir sind. Dann notierten sie die Nummer unseres Minibusses und weiter ging es.
Kurz hinter einem der Kontrollpunkte sahen wir am Straßenrand einen ausgebrannten Schützenpanzer, der offenbar von einer Drohne getroffen worden war. Der Panzerturm war 30 Meter weiter ins Gras geschleudert worden. Die Besatzung hatte wohl nichts von der Bedrohung aus dem Himmel geahnt.
Die Drohnen erkennt man am surrenden Geräusch. Aber nur, wenn es still ist. Im Stadtlärm hört man die Drohnen oft nicht, erzählt mir später die junge armenische Dokumentarfilmerin Silva KhnKanosian, die während des Krieges in Stepanakert gefilmt hat. "Wenn man eine Drohne sieht, hat man drei Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen", sagt die 25 Jahre alte Filmerin, die in Jerewan wohnt. Ihre Mutter habe sie ins Kriegsgebiet fahren lassen unter der Bedingung, dass sie sich regelmäßig meldet und nach drei Tagen wiederkommt.
Im Stadtzentrum von Stepanakert wollten wir im Regierungshaus, einem im Stalin-Stil gebauten, hohen Gebäude, den Pressesprecher des Arzach-Präsidenten treffen. Weil wir noch etwas Zeit hatten, gingen wir in das Hotel Armenija, dass direkt gegenüber vom Regierungsgebäude liegt, um Kaffee zu trinken. In der Kaffee-Bar saßen viele Männer und auch einige Frauen in weichen Sofas und unterhielten sich. Niemand trug eine Maske. Ich fragte eine junge Frau hinter der Theke, warum Niemand eine Maske trägt? Die junge Dame meinte, vor dem Krieg seien Masken noch Pflicht gewesen. Aber jetzt gäbe es eine solche Anordnung nicht. Mir schien, die Menschen in Karabach haben jetzt andere Probleme, als den Corona-Virus.
Was die Menschen sorgt, erfuhren wir, als wir das Hotel verließen. Wir stießen auf eine aufgebracht diskutierende Menge meist bärtiger Männer. Es ging um die vermissten Soldaten. Was sie forderten blieb unklar. Man muss wissen: Bis heute gibt es keine offizielle Zahl wie viele armenische Soldaten getötet wurden und wie viele vermissts werden.
Als ich später im Regierungsgebäude Vahram Poghosyan, den Pressesprecher des Präsidenten von Karabach nach der Opferzahl fragte, wich er aus. Ob es mehr als 2.500 tote Soldaten seien, fragte ich. Der Pressesprecher sagte nur ein einziges Wort. "Ja".
Karabachs Präsidenten-Sprecher Vahram Poghasyan (li.) mit Autor Ulrich Heyden (re.). Bild: Ulrich Heyden, Stepanakert
Als ich unseren Bekannten, den jungen Arzach-Zeitsoldaten Garik, später nach der Zahl der toten armenischen Soldaten frage, nennt er die Zahl von 7.500 Gefallenen. Allein in dem im Süden von Karabach gelegenen Dschebrailski-Bezirk, wo es die heftigsten Kämpfe gab, werden angeblich 700 armenische Soldaten vermisst.
Das Verteidigungsministerium von Aserbaidschan gab am 28. Dezember bekannt, dass 2.823 Soldaten der aserbaidschanischen Streitkräfte im jüngsten Krieg gefallen sind.
Um den verlorenen Krieg kreisen in Arzach und Armenien alle möglichen Gerüchte. Der 27 Jahre Garik, meint, das armenische Verteidigungsministerium in Jerewan habe aus unerfindlichen Gründen dringend benötigte Munitionslieferung zurückgehalten. Die Stadt Schuschi sei noch in der Hand der Armenier gewesen, aber auf Befehl aus Jerewan "aufgegeben" worden. Nachdem armenische Militärs eine Lücke in der Lenkung der in Israel produzierten Drohnen gefunden hatten, seien diese in kurzer Zeit umprogrammiert worden. Das hätten nur israelische Spezialisten vor Ort machen können.
Dem Zeitsoldaten Garik war anzumerken, dass der Krieg ihn hart mitgenommen hat. Er wirkte nervös, als ob er gerade aus einer Schlacht kommt. Garik hat im Latschin-Bezirk gekämpft, im strategisch wichtigen Gebiet, das Karabach und Armenien verbindet. "Wir holen uns unsere Erde zurück", sagt er. "Wenn die Türkei Aserbaidschan nicht unterstützen würde, wären wir schon in Baku." Mehrmals sagt Garik, "wir haben gesiegt. Drei Millionen Armenier haben 90 Millionen standgehalten." Mit den 90 Millionen sind die Einwohner von Aserbaidschan – zehn Millionen – und der Türkei – 82 Millionen – gemeint.
Auf dem Markt von Stepanakert sprach ich mit der Händlerin Karina. Sie war etwa 55 Jahre alt, trug einen schwarz-weißen Wollmantel und eine dunkle Wollmütze. Karina erzählte, sie komme aus Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Dort habe sie in der Jugend-Handball-Auswahl gespielt. Wegen der anti-armenischen Pogrome in Baku und Sumgait flüchtete sie vor 30 Jahren mit ihrem Mann nach Stepanakert, wo sie bis heute lebt.
Marktfrau Karina. Bild: Ulrich Heyden, Stepanakert
Ob es in Arzach gemischte Ehen gibt? "Ja, aber reine Aserbaidschaner können hier jetzt nicht mehr leben", sagte Karina. Der Krieg habe zu lange gedauert. Und sie sagt - ähnlich wie Familienvater Hamlet - "wenn wir den Boden, den die Aserbaidschaner sich jetzt genommen haben, eher abgegeben hätten, wären nicht so viele armenische Soldaten gestorben." Ob es Gas und Elektrizität in Stepanakert gibt? Gas gäbe es in ihrem Haus zurzeit nicht. Elektrizität gäbe es. Die Regierung von Karabach unterstütze die Bevölkerung. Für die Wohnungsnebenkosten brauche man im Dezember nichts zu zahlen. Im Januar soll es 500 Kilowatt Strom kostenlos geben.
Karina erzählte, sie habe Cousinen in Los Angeles und in Frankreich. Die hätten gegen den aserbaidschanischen Angriff demonstriert. Aber Frankreich und die USA hätten nicht reagiert. Nur Russland helfe. Ich frage, wie viele Menschen russische Pässe beantragen werden? Alle!, sagt Karina.
Die USA beobachten Russlands Aktivitäten im Friedensprozess mit Argusaugen. Der Berater des US-Außenministeriums für militärisch-politische Fragen Clark Cooper erklärte, die Anwesenheit der russischen Streitkräfte in der Konfliktregion bedeute "das Risiko einer Destabilisierung der Situation". Die russische Präsenz sei "eine Herausforderung für alle Parteien und Staaten, die mit der Region zu tun haben."
Im dritten Stock des Regierungsgebäudes von Karabach saß Vahram Poghosyan, der junge Pressesprecher des Arzach-Präsidenten, vor einer rot-blau-gelben Fahne der international nicht anerkannten Republik.
Ich wollte von ihm wissen, wie er die Rolle der Nato beurteilt. Pogosyan antwortete, "wenn das Nato-Mitglied Türkei vor den Augen der ganzen Welt Terroristen aus Syrien hierherbringt und die Führung der Türkei jeden Tag ihre Unterstützung für die Aggression gegen Karabach erklärt, während Aserbaidschan zivile Objekte bombardiert und unsere Kirche mit Geschossen der Nato angegriffen wurde, haben wir das Recht, die Nato zu kritisieren. Alle Mitgliedsländer der Nato machen sich mitschuldig, wenn sie schweigen und zusehen, wie das Nato-Mitglied Türkei beim Angriff auf Karabach hilft."
Dass tatsächlich auch armenische Kirchen von den aserbaidschanischen Streitkräften angegriffen wurden, bestätigt "Vater Andreas", den wir in der "Kirche der Heiligen Anna" in Stepanakert trafen. "Vater Andreas" war Kirchenvorsteher der "Heiliger-Retter-Kirche" von Schuschi und Augenzeuge von zwei aserbaidschanischen Luftschlägen auf seine Kirche am 8. Oktober 2020. Die Kirche wurde beschädigt. "Vater Andreas" musste flüchten.
Berg-Karabach war bis 1991 ein vorwiegend von Armeniern bewohntes autonomes Gebiet innerhalb der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbeidschan. Ab 1991 wurde Berg-Karabach zur international nicht anerkannten Republik Arzach. Durch den verlorenen Krieg hat sich das Territorium von Arzach verkleinert.
Berg-Karabach hat nicht nur die im Krieg 1991 bis 1994 eroberten "Schutzzonen" verloren, sondern auch Teile seines angestammten Gebietes. Die Grenze von Arzach ist durch die Vorstöße der Aserbaidschaner stark ausgefranst, wie man auf der Karte der russischen Friedenstruppe sehen kann.
An einem Abend in Jerewan – kurz vor meinem Abflug nach Moskau – traf ich einen armenischen Militär-Berater. Er erzählte, was er bei der Festlegung der neuen Grenze in den Bergen von Karabach erlebte. Bei einer dieser Grenz-Festlegungen war ein Offizier der russischen Friedenstruppe und ein Offizier Aserbeidschans zugegen. Im Hintergrund wartete eine Kolonne aserbaidschanischer Militärlaster. Die Laster hätten alle aufgeklebte türkische Flaggen gehabt. Er habe als Vertreter Armeniens gefordert, dass die türkischen Flaggen abgenommen werden, erzählte der Militär-Berater, sonst müsse er dem armenischen Generalstab melden, dass sich eine türkische Militär-Einheit auf die armenische Grenze zubewegt.
Die türkischen Flaggen wurden abgenommen. Nach der vernichtenden Niederlage der armenischen Streitkräfte war der Militärberater sichtlich stolz auf seinen kleinen Erfolg.
veröffentlicht in: Telepolis