Erdhöhlen als Unterkunft
Fotos: Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten/Dokumentationsstelle Celle
Die Personalkarten der sowjetischen Gefangenen aus dem Lager Oerbke wurden 1945 von der Roten Armee in ein südlich von Moskau gelegenes Archiv gebracht und lange unter Verschluss gehalten. Erst um das Jahr 2000 herum richtete das russische Verteidigungsministerium mit Hilfe deutscher Historiker eine Datenbank ein und stellte die Dokumente der Gefangenen ins Internet. So fanden Lena und Swetlana vor anderthalb Jahren den Hinweis auf ihren Großvater.
Als wir die Schule verlassen, hören wir das Wummern von Geschützen. Das Dorf Oerbke und der Friedhof der Kriegsgefangenen liegen am Rand des Manövergeländes Bergen, einem der größten Übungsplätze Westeuropas für Panzer und Drohnen. Bei einem Besuch im Rathaus von Oerbke hält Bezirksvorsteher Andreas Ege einen kleinen Vortrag über die Geschichte des 1936 eingerichteten Militärgeländes. Ege erwähnt, „auf dem Gelände wurde der Überfall auf Russland geübt.“ 1945 dann sei alles von britischen Truppen übernommen worden – bis 2015, da zogen sie ab. Danach wurden Geflüchtete aus Syrien in den Kasernen einquartiert. Derzeit werde der Übungsplatz „von der Bundeswehr, Belgiern und Holländern genutzt“, so Ege. Demnächst erwarte man für eine Übung 5.000 US-Soldaten, erklärt der Bezirksvorsteher sichtlich ohne Begeisterung. „Wir sind Spielball der Weltgeschichte.“
Bis in die 1980er Jahre hinein versuchte man in Bad Fallingbostel, die Schrecken des Kriegsgefangenenlagers zu verdrängen und herunterzuspielen. Wenn der Leidensort überhaupt in offiziellen Stellungnahmen auftauchte, dann hieß es, dort seien Gefangene „an Fleckfieber verstorben“. Es wurde konsequent vermieden, das gezielte Töten durch Unterernährung zu erwähnen. Der damalige Oberkreisdirektor bestellte Kreisjugendpfleger Wolfgang Dobbrick ein, nachdem dieser Jugendliche aufgefordert hatte, nach Spuren von Kriegsgefangenen zu suchen und die Geschichte des Friedhofs zu erforschen. Niemand werde mehr in der Gegend Urlaub machen, würden die Ergebnisse der Forschungen öffentlich. Nach Auschwitz fahre ja auch niemand in Urlaub.
Da konnte es nicht weiter verwundern, dass die Verantwortlichen der Stadt Bad Fallingbostel ein Versprechen brachen, das sie am 3. Juli 1945 bei der Einweihung des von der sowjetischen Militärmission gestalteten Friedhofs bei Oerbke gegeben hatten, nämlich den Friedhof mit dem sowjetische Denkmal zu bewahren und in Ehren zu halten. Tatsächlich ließ man das Areal verwildern. Die Behörden schoben sich gegenseitig die Verantwortung für die Grabpflege zu. 1964 fiel das sowjetische Denkmal dem Abriss zum Opfer, angeblich wegen Baufälligkeit. Kurze Zeit später wurde eine neue, zehn Meter hohe Beton-Skulptur auf dem Friedhof aufgestellt. Architekt des Monuments, das keine erkennbare Aussage hatte, war Klaus Seelenmeyer, im Zweiten Weltkrieg als Jagdflieger schwer verwundet und Schöpfer zweier Fliegerehrenmale für das Kampfgeschwader 26 der deutschen Luftwaffe. Einen Architekten mit humanistisch-antifaschistischer Gesinnung wollte man in Oerbke offenkundig nicht mit einem Gestaltungsauftrag bedenken.
Mit dem sowjetischen Denkmal verschwand auch dessen Inschrift. Bis 1964 hatte man die Worte lesen können: „Ihr seid umgekommen, aber wir lebenden Zeugen werden unser ganzes Leben lang an die Folter der Henker erinnern und unserem großen Volk über den Zorn der von den Faschisten gequälten Menschen berichten.“ Am Fundament des auf Seelenmeyer zurückgehenden Denkmals gibt es nun eine Inschrift, die kaum mehr erahnen lässt, welche Gräuel sich im Lager XI D 321 abgespielt haben, und welche Ideologie dafür zuständig war. Jetzt heißt es auf einer Bronzeplatte: „Zum Gedenken an die vielen tausend sowjetischen Soldaten, die in der Kriegsgefangenschaft starben.“
Jahrzehntelang wollte man in Oerbke lieber nicht mit der ganzen Wahrheit konfrontiert sein. Als der DGB-Kreisverband am 8. Mai 1985 auf dem „Friedhof der Namenlosen“ zu einem Gedenkmeeting aufrufen wollte, gab es dafür keine Erlaubnis. Begründet wurde dies mit einem Manöver der Bundeswehr, welches angeblich an diesem Tag in der Gegend stattfand. Erst 1996 tauchte das Kriegsgefangenenlager in einer öffentlichen Chronik von Bad Fallingbostel auf. Es sei hilfreich für das Geschichtsbewusstsein gewesen – so der Lehrer Egon Hilbich –, „dass damals viele junge Lehrer kamen, die keine Einheimischen waren und deshalb die Versuchung nicht kannten, eigener Geschichte aus dem Weg zu gehen.“
Trotz alledem: Lena und Swetlana, die beiden Moskauerinnen, werden beeindruckt in ihre Heimat zurückkehren. An ihre Verwandten schreibt Lena: „Die Deutschen stellen das Andenken an Unsere wieder her und schützen es. Sie folgen dem Ruf ihres Herzens. Sie erzählen es ihren Kindern. Und – Entschuldigung – sie schützen es, wie es bei uns nicht immer geschützt wird ...“
Ulrich Heyden
Mehr dazu: Der Friedhof der Namenlosen in Oerbke. Lokale Erinnerung und Auseinandersetzung nach Kriegsende Vera Hilbich Wallstein-Verlag, Göttingen 2017
veröffentlich in der Freitag