Gregor Alfredowitsch - der Mann mit dem Lautsprecher
Wie aus einem Deutschen ein Sowjetbürger wurde, der Wehrmachtssoldaten zum Aufgeben überredete
Wo er am 9. Mai gewesen sei? Gregor Alfredowitsch Kurella überlegt einen Augenblick. Dann werden die Erinnerungen wach und aus dem 89-Jährigen sprudelt es heraus. »Ich war in Mittel-Österreich. Genau gesagt an der Grenze zwischen Österreich und Tschechien. Ich war alleine. Ich hatte keine Waffe, nur einen Lautsprecher. Aber die Akkus waren schon leer.«
Er habe den Auftrag bekommen, mit seinem Pferdewagen von Bauernhof zu Bauernhof zu fahren und auszukundschaften, »ob sich da jemand der Kriegsgefangenschaft entzieht«. Um nicht aufzufallen, trug er eine zivile Jacke. Während der gleichen Zeit hatten seine Genossen von der »7. Abteilung « der Roten Armee, die sich sich mit der »Zersetzung der feindlichen Reihen« beschäftigte, ihren Lautsprecher mit Hilfe französischer Kriegsgefangener auf ein deutsches Feuerwehrauto umgeladen, weil das eigene Auto schlappgemacht hatte, und waren schon weiter Richtung Westen gefahren. »Sie wollten die ersten sein, die die Amerikaner treffen.
« In Österreich ging es im Mai 1945 »so schnell vorwärts, dass die Front zerfiel«. Einmal fuhren die Genossen Gregors nachts durch Zufall an einer marschierenden Kolonne von SS-Soldaten vorbei. Auch die hofften, so schnell wie möglich die Amerikaner zu treffen. Die SS-Männer riefen den Rotarmisten zu, »ihr Arschlöcher, nehmt uns mit«. Aber die sowjetischen Soldaten mit ihrem deutschen Feuerwehrwagen fuhren weiter.
Sie hatten nicht genug Leute, um es mit der SS-Kolonne aufzunehmen. Gregors Zeit in der Roten Armee begann im Januar 1943 an der Südwestfront, der späteren »3. Ukrainischen Front«. Die Fahrt von Moskau an die Front dauerte geschlagene drei Wochen. Es gab organisatorische Schwierigkeiten. An der Front wurde der 17-jährige Gregor als Dolmetscher eingesetzt. Ja, er habe unbedingt zur Armee gewollt, aber man habe ihn nicht gelassen, weil er Deutscher war.
Doch Gregors Vater, Alfred Kurella, der damals als Redakteur für verschiedene sowjetische Frontzeitungen arbeitete, setzte sich für seinen Sohn ein. Die Armee brauche dringend Dolmetscher, so das Argument des Vaters. Was die »moralnoje rasloschenije «, die moralische Zersetzung des Feindes betraf, habe die »7. Abteilung « noch »keinerlei Erfahrungen« gehabt, erinnert sich Gregor.
Aber man habe schnell gelernt. Später wurde die Abteilung durch desertierte deutsche Soldaten verstärkt, so wie durch Eberhard Charisius, dessen Heinkel-Kampfflugzeug am 22. Juni 1941 über Lviv (Lemberg) abgeschossen wurde. Charisius wurde 1945 Polizeidirektor von Gera. Gregors Aufgabe war das Abfassen von Flugblättern und Lautsprecherdurchsagen an die gegnerischen Soldaten. Die Flugblätter wurden von Kurieren hinter die feindlichen Linien gebracht. Übergelaufene deutsche Soldaten, die im Krieg zu Antifaschisten wurden, hielten sich, so Gregor, monatelang in dem von Deutschen besetzten Odessa versteckt, druckten dort Flugblätter und steckten sie in die Briefkästen. Mit der 46. Armee zog Gregor weiter über Odessa, Belgrad und Budapest bis nach Wien.
Wichtige Hinweise bekam Gregor durch anscheinend belanglose Gespräche mit deutschen Kriegsgefangenen. Er erfuhr etwas über die Stimmung unter den deutschen Soldaten und auch etwas über ihre Anekdoten. Mit diesem Wissen konnte Gregor die Flugblätter und die Lautsprecherdurchsagen ausschmücken, so dass sie sich nicht so anhörten, wie die Reden eines sowjetischen Polit-Kommissars. »Unser wichtigstes Argument gegenüber den deutschen Soldaten war, dass nicht die Sowjetunion, sondern Deutschland den Krieg angefangen hat.« Außerdem wurde den Soldaten auf der anderen Seite der Front versprochen, dass deutsche Kriegsgefangene nicht erschossen werden, dass sie zu essen bekommen und dass man sie nach dem Krieg nach Hause entlassen werde.
Wie kam Gregor überhaupt in die Sowjetunion? 1934 folgte der damals Achtjährige mit seiner Mutter Margret dem Vater, einem Komintern- Funktionär, nach Moskau. Alfred und seine spätere Frau Margret gehörten dem linken Flügel der Wandervögel an. Angesichts des Grauens des Ersten Weltkrieges wandten sie sich der Politik zu. Alfred, der aus einer Familie von Psychiatern kam, wurde Mitglied der KPD. Als Parteikurier kam er 1919 nach Moskau, wo er auch Lenin traf. Von 1934 bis 1935 war er persönlicher Sekretär des späteren Komintern-Chefs, des Bulgaren Georgi Dmitroff. Die Familie Kurella wurde nicht vom Terror unter Stalin verschont. 1937 wurde Arturs jüngerer Bruder, der Journalist Heinrich Kurella, erschossen. Erst 1954 durfte Gregors Vater, Alfred Kurella, in die DDR ausreisen, wo er schnell Karriere machte. 1963 wurde er Mitglied der Ideologischen Kommission des Politbüros der SED. Alfred Kurella, der in seiner Jugendzeit in der Partei Probleme wegen »Linksabweichung« bekam, machte sich in der DDR für den sozialistischen Realismus in der Kunst stark.
Ob er an Stalin geglaubt habe? »Zum großen Teil ja. Nicht alles. Es herrschte auch Unkenntnis europäischer Gewohnheiten. Im Oberkommando gab es auch Leute, die noch nicht mal mit einer Kompanie umgehen konnten.« Und die Vergewaltigung von Frauen durch sowjetische Soldaten, wurde dagegen etwas unternommen? »Wir haben sehr energisch dagegen gekämpft.« Wie er sich heute fühle, als Deutscher, als Sowjetbürger oder als Russe? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. »Als Sowjetbürger.« Nach einer kurzen Pause korrigiert sich Gregor. »Als Russe.« Als der Krieg vorbei war, wollte Gregor nichts sehnlicher, als nach Moskau zurückzukehren. Doch als erfahrenen Dolmetscher brauchte man ihn in der Sowjetischen Besatzungszone, wo er bei der sowjetischen Militärverwaltung arbeitete. Viel Zeit steckte er in die Jugendarbeit.
Als Dolmetscher war er außerdem dabei, wenn den befreiten Deutschen erklärt wurde, wie die Menschen im Sowjetsystem leben. Eine häufig gestellte Frage der Deutschen war, ob es in der Sowjetunion überhaupt Privateigentum gebe. Ein Kamerad Gregors erklärte den Deutschen in einer wortreichen Rede, er hätte in seiner Wohnung alles, auch »ein Geflügel«. Das Gelächter war groß. Der Vortragende, in dessen Rede sich manchmal Worte aus dem Jiddischen mischten, wollte eigentlich damit prahlen, dass er einen Flügel habe. 1949 konnte Gregor ein Biologiestudium in Moskau aufnehmen. Daran schloss sich eine wissenschaftliche Karriere an. Warum Biologie? Schon als ganz kleiner Junge habe er Tiere geliebt. Gregors Großvater mütterlicherseits war der Immobilienmakler William Hahlo aus dem Dorf Möser bei Magdeburg. Er weckte damals Gregors Liebe zu Tieren. Im Frühjahr 1946 besuchte Gregor die Villa seines Großvaters. Seine Militärjacke hatte er vorsichtshalber ausgezogen. In dem Gebäude wohnten Diakonissen.
»Als ich denen erzählte, dass ich in dem Haus geboren wurde, machten sie große Augen.« Die ehemaligen Besitzer des Hauses, seine Großeltern, endeten tragisch im KZ Theresienstadt. Gregors Großmutter Wilhelmine war »nach Auffassung der Nazis Jüdin«. Gregor ist einer der letzten Kriegsveteranen in Moskau. Insgesamt leben noch 22 788 Veteranen in der Hauptstadt. Eigentlich wollte Gregor kein Interview geben. Denn seine Frau Soja Titowa, mit der er 59 Jahre zusammen lebte, ist vor zwei Wochen gestorben. Doch er hat sich durchgerungen. An den öffentlichen Feierlichkeiten am 9. Mai wird Gregor nicht teilnehmen, da ihm das Laufen schwerfällt. Er wird den Siegestag mit seinen beiden Töchtern Marina und Katerina, für Naturwissenschaften begeistert wie der Vater, Zuhause feiern. Seine Medaille zum 70. Jahrestag des Sieges hat Gregor schon bekommen. Am 26. Mai kommt schon der nächste Feiertag. Dann wird Gregor 90 Jahre alt.
Ulrich Heyden
veröffentlicht in Neues Deutschland