30. July 2012

Im Abwehrkampf

Die russische Kirche spielt nicht nur im Prozess gegen Pussy Riot eine entscheidende Rolle.

Von Ulrich Heyden, MZ

Die russisch-orthodoxe Kirche sieht sich selbst als feste Säule gegen kulturelle Einflüsse des Westens und Entwicklungen, die das Staatsgefüge erschüttern. So wundert es nicht, dass Vertreter des Patriarchats nach Medienberichten das Moskauer Chamownik-Gericht mit Telefonanrufen bombardieren, um ein hartes Urteil gegen Pussy Riot zu erzwingen.

Bereits im April, einen Monat nach dem Anti-Putin-Gebet der Feministinnen hatte die Kirche in Moskau zu einer Großkundgebung gegen die „Verhöhnung von Heiligen“ aufgerufen. Die Veranstaltung stand ganz im Zeichen eines national-religiösen Abwehrkampfes.



Auch in der Kirche gibt es reformerische Kräfte. Hin und wieder erfährt man von ihnen. Da äußert sich jemand kritisch über die mangelnde Aufarbeitung des Stalin-Terrors oder warnt, wie jetzt der Diakon und Theologe Andrej Kulajew, vor dem Schaden für die Kirche, wenn die Frauen von Pussy Riot zu lange in Haft sind. Solche Stimmen dringen aber nur selten an die Öffentlichkeit.

Die Warnung von Diakon Kulajew ist begründet. Denn je länger die drei Mitglieder der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot in Haft sind, desto größer wird nach Meinungsumfragen die Zahl der Russen, welche sich für Milde gegenüber den drei jungen Frauen aussprechen. Immerhin haben zwei der Angeklagten kleine Kinder.

In einem Land, in dem fast ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze lebt, hätte die Kirche eigentlich die Aufgabe, sich als soziales Gewissen zu positionieren und sozial Benachteiligte zu schützen. Da könnte sie viel bewegen, denn die Mehrheit der Russen bekennt sich zum russisch-orthodoxen Glauben.

Doch Zweifel, dass sie sich nur von religiösen und nicht weltlichen Begehrlichkeiten nach Macht und Reichtum lenken lässt, bekommen durch das Verhalten prominenter Vertreter Nahrung. Äußerst peinlich für den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, war, als russische Blogger im April ein Foto auf der offiziellen Website der Kirche fanden, auf der sich in der blank polierten Tischplatte, an der der Patriarch saß, eine sündhaft teure Armbanduhr spiegelte, wobei am Handgelenk des Kirchenmannes keine Uhr zu sehen war. Die Pressestelle gestand daraufhin, dass eine 24-jährige, unerfahrene und weltliche Mitarbeiterin die Uhr auf eigene Initiative wegretuschiert habe.

Bedenklich muss stimmen, dass die russisch-orthodoxe Kirche nicht nur auf Pussy Riot, sondern auf jegliche Kritik und selbst Satire aggressiv reagiert. Kaum demonstrieren in Moskau Homosexuelle, sind sofort von der Polizei geduldete ultranationalistische Kosaken und Kirchenfahnenträger zur Stelle, welche die Demonstranten tätlich angreifen. Kirchen-nahe ultranationalistische Kreise zerstörten 2003 Kunstwerke auf einer kirchenkritischen Ausstellung im Moskauer Sacharow-Zentrum. 2006 klagte eine ultranationalistische Organisation gegen Andrej Jerofejew, den Kurator einer weiteren kirchenkritischen Ausstellung am selben Ort. Nur durch eine starke öffentliche Unterstützung konnte verhindert werden, dass Jerofejew nicht zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.

Die Kirche muss sich der sozialen Realität stellen, will sie nicht an Einfluss verlieren. In ultranationalistischen Kirchen-Kreisen beliebte Verschwörungstheorien, nach denen alle größeren Krisen Russlands von ausländischen Geheimdiensten organisiert wurden, nutzen sich allmählich ab. Auch mit Gerichtsprozessen und tätlicher Einschüchterung lässt sich die Modernisierung der russischen Gesellschaft nicht aufhalten.

veröffentlicht in: Mittelbayerische

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