Viele trugen das schwarz-orangefarbene Sankt-Georgs-Bändchen an der Jacke oder der Tasche, das an den Sieg, vor allem aber an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges erinnert, wie die Heimsuchung eines ganzes Landes und seiner Völker zwischen 1941 und 1945 bis heute genannt wird.
Nun stand ich also in einer tausendköpfigen Kolonne, die von der Polizei zum vier Kilometer entfernten Kiewer Bahnhof – dem Kreuzungspunkt mehrerer Metro-Linien – gelenkt und eskortiert wurde. Zwei U-Bahn-Stationen auf dem Weg dorthin hatten die Ordnungshüter aus Sicherheitsgründen geschlossen. Trotz des kilometerlangen Fußmarsches waren die Leute diszipliniert und gelassen, wenn auch etwas ungeduldig, weil viele mit ihren Kindern nach Hause wollten.
Kurz vor dem Kiewer-Bahnhof fragte ich einen jungen Russen, der neben mir ging, „ob die uns jetzt wohl in die U-Bahn reinlassen?“ – „Glaube ich schon“, meinte der Angesprochene. Und schon kam die Gegenfrage: „Woher kommen Sie?“ – „Aus Hamburg, lebe aber schon Jahre in Moskau“. Der schätzungsweise 18- oder 19-Jährige schien meine Antwort nicht zu verstehen, so fügte ich scherzhaft hinzu: „Ich bin ein Feind“. Das russische Wort Wrag verstand er sofort. „Wieso Feind?“ – „Ich komme aus Deutschland“. So kamen wir ins Gespräch. Dass Deutschland ein Feind oder Gegner sei, wollte er nur für den internationalen Sport gelten lassen.
Über die Njemzy, die Deutschen, fiel bei dem Geplauder kein böses Wort. Irgendwie wunderte mich das schon. Einen ganzen Tag lang feiern die Russen am 9. Mai mit Militärparaden, Konzerten und Feuerwerken den Sieg über Hitler-Deutschland, aber mit den Deutschen von heute hat das alles scheinbar nichts zu tun. Die werden in Russland oft geschätzt oder bewundert wegen ihrer zuverlässigen Autos, perfekten Fußballer und geordneten Verhältnisse, die keine ausufernde Korruption erlauben.
Am 22. Juni 1941, vor genau 70 Jahren, glaubte die deutsche Wehrmacht, mit einem Blitzkrieg die Sowjetunion bis Moskau überrennen zu können, Territorien und Ressourcen zu erobern, die nie wieder preisgegeben werden sollten. Bis heute gibt es bei Deutschen und Russen teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen, warum dieser Feldzug eigentlich begann und wie er in den ersten Wochen genau verlief. Im vertrauten Gespräch erregt sich mancher meiner Moskauer Freunde schon mal, dass die Deutschen für „die Juden“ mehr Mitgefühl hätten als für die Russen, von denen doch 30 Millionen oder mehr durch den Überfall und die Folgen umgekommen seien. Und dass die Deutschen gegenüber den Juden einen Schuldkomplex hätten, gegenüber den Russen aber nicht – auch das gehört zum Standard-Repertoire des Klagens. Niemand habe sein Schicksal international „so gut ausgenutzt“ wie die Juden, meinte neulich ein Bekannter. Ich entgegnete ziemlich giftig, ob er überhaupt etwas vom Holocaust wisse. Ja, er habe in Weißrussland eine Gedenkstätte zum Krieg besichtigt und sei schon sehr beeindruckt gewesen.
Der trotzige Satz
Fragen, die zwischen den verschiedenen Nationalitäten strittig sind, werden in Russland traditionell nicht ausdiskutiert. Man möchte sich das Zusammenleben untereinander nicht unerträglich machen. Das gilt erst recht, wenn diese Fragen die Zeit des Misstrauens und der Verbannung (wie bei Wolgadeutschen, Tschetschenen und anderen) nach dem 22. Juni 1941 berühren. Jedes Volk pflegt seine eigenen Wahrheiten, von denen sich ein Abrücken verbietet. Warum also streiten, wenn man sich nie einigen wird?
Einige Politiker aus der mittelosteuropäischen Nachbarschaft zwingen den Russen diese Diskussion freilich immer wieder durch den Vorwurf auf, die Rote Armee habe Polen, das Baltikum und die Westukraine okkupiert. Von russischen Intellektuellen hörte man in den vergangenen Jahren bei dieser Gelegenheit stets den einen trotzigen Satz: „Wir Russen haben unter Stalin am meisten gelitten.“ Diese Überzeugung kann es weit bringen. Bis zur Grundformel einer neuen russischen Identität. In der Sowjetunion war bis zu deren Ende im Dezember 1991 die Sprachregelung eine andere. Zu deren Lebzeiten hieß es, im Großen Vaterländischen Krieg hätten alle Nationalitäten gleich schwer gelitten – Weißrussen, Ukrainer, Russen, Juden, Aserbaidschaner, Kasachen, Usbeken, Kaukasier ...
Auf dem Verneigungshügel, zu dessen Füßen sich jedes Jahr am 9. Mai Zehntausende Moskauer treffen, ist für den 22. Juni 2011 nur ein eher kleines Meeting geplant. Vizekulturminister Andrej Busygin und der deutsche Botschafter Ulrich Brandenburg werden eine Ausstellung über NS-Zwangsarbeit in Europa eröffnen, die den Thüringer Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora zu verdanken ist. Sie wird im Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges gezeigt, dem 1995 eingeweihten Gedenkort, der in einem Halbrund auf dem höchsten Punkt des berühmten Hügels liegt.
Man sollte es kaum glauben, aber mit dieser Exposition wird das Thema NS-Zwangsarbeit – verrichtet durch deportierte Zivilisten und kriegsgefangene Rotarmisten – in Russland erstmals in solcher Form öffentlich behandelt und damit eine schwierige, von viel Leid und Bitterkeit getränkte Erinnerung heraufbeschworen. Nach 1945 wurden Tausende nach ihrer Rückkehr aus Deutschland, die einer unerwarteten und glücklichen Rettung gleichzukommen schien, zu mutmaßlichen Verrätern erklärt und in so genannten Filtrationslagern interniert.
Museumsdirektor Viktor Skrjabin, in dessen Haus sich vor dem 22. Juni und der bewussten Ausstellung Spannung und Hochbetrieb die Waage halten, tastet sich vorsichtig auf diesem sensiblen Feld voran. Sicher, es habe in der Sowjetunion Vorwürfe gegen die „Ostarbeiter“ gegeben. Man müsse zu deren Gunsten einräumen, sie hätten sich „in einer Zwangslage“ befunden, teilweise sogar Widerstand geleistet. Ein Wort der Kritik an der sowjetischen Führung in den Jahren nach dem Krieg und an der abstrusen Stigmatisierung, der die Deportierten ausgesetzt waren, kommt Skrjabin nicht über die Lippen. Immerhin ist von ihm zu hören: „Man muss den ehemaligen Zwangsarbeitern moralisch tiefe Achtung entgegenbringen, weil sie unter unmenschlichen Bedingungen durchgehalten haben.“
Heroismus der Soldaten
Sicher, das muss man. Von den 20 Millionen Menschen, die das NS-Regime aus ganz Europa nach Deutschland verschleppen und dort versklaven ließ, kamen zehn Millionen aus der Sowjetunion. Wegen Unterernährung, Cholera und Typhus, verweigerter medizinischer Hilfe und bis zu 14 Stunden Arbeit täglich waren sie oft qualvollem Sterben ausgesetzt. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen haben 3,3 Millionen die unmenschlichen Lager- und Arbeitsbedingungen nicht überstanden. Im Gegensatz zu den zivilen Zwangsarbeitern wurden freilich diese Opfer von Deutschland bis heute nicht entschädigt. Und wer von ihnen noch lebt, hat die Hoffnung auf eine wenigstens symbolische Wiedergutmachung längst fahren lassen.
Warum wird der 22. Juni im Unterschied zum 9. Mai zurückhaltender begangen, will ich von Museumsdirektor Skrjabin wissen. „Der Beginn des Krieges 1941 – das war eine tragische Zeit“, meint er. „Deshalb erscheint am 22. Juni Pathos unangebracht. Es gibt Trauerveranstaltungen, es werden Blumen an Soldatengräbern niedergelegt und in den Gedenkhallen Kerzen entzündet.“ Anders als im Westen, wo „man der Grauen des Weltkrieges besonders über die Opfer in der eigenen Familie“ gedenke, stehe in Russland bis heute der „Heroismus der Soldaten“ im Mittelpunkt.
Wie ich im Moskauer Deutschen Historischen Institut (DHI) erfahre, waren von den 26 bis 32 Millionen sowjetischen Opfern des Zweiten Weltkrieges – exakte Zahlen gibt es noch immer nicht – 11 bis 15 Millionen Soldaten, der andere Teil Zivilisten. Für Letztere gibt es nicht immer Gedenkorte wie im weißrussischen Dorf Chatyn, das Wehrmacht- sowie SS-Einheiten bei einer Vergeltungsaktion im Sommer 1943 auslöschten und dabei 152 Menschen, darunter 76 Kinder, in einer Scheune bei lebendigem Leibe verbrannten.
Zu guter Letzt kommen wir noch auf die „Vulgär-Literatur“ – wie Direktor Skrjabin sie nennt – des Hobby-Historikers Viktor Suworow zu sprechen, der gerade die Moskauer Geschichtsdebatten aufzumischen sucht, indem er die Schlüsselrolle der Roten Armee bei der Befreiung Europas bestreitet. Suworow, der eigentlich Wladimir Resun heißt, einst in Genf für die sowjetische Militärabwehr gearbeitet und sich 1978 nach England abgesetzt hat, behauptete schon in seinem 1989 erschienenen Buch Der Eisbrecher, Stalin habe Jahre vor dem September 1939 und dem Juni 1941 geplant, Europa militärisch aufzurollen. „Gerüchte ohne Fakten“, meint Skrjabin und macht ein mürrisches Gesicht. „Zeigen Sie mir ein Dokument über einen Angriffsplan der sowjetischen Führung!“ Tatsächlich gibt es ein solches, von Stalin abgesegnetes Papier nirgends, aber auf Archivalien legte Ex-Spion Suworow bei seinen Expertisen ohnehin keinen Wert.
Rutschen und Trampolins
Mit der infamen Gleichstellung von Hitler und Stalin werde das Ziel verfolgt, „die Weltordnung zu ändern“, so Skrjabin. Hinter solchem Umgang mit der Geschichte steckten „staatliche Institute, akademische Einrichtungen, bestimmte Stiftungen und Privatpersonen“. Namen nennt er besser nicht. Präsident Medwedjew wird da zuweilen deutlicher – er sieht Geschichtsfälscher vorzugsweise in der Ukraine, in Polen wie in den baltischen Staaten am Werk und bildete im Mai 2009 eine Kommission von Spitzenbeamten, die „Maßnahmen gegen die Fälschung der Geschichte“ ergreifen sollten. Dabei ging es nicht allein um Ansehen und Prestige, sondern ebenso um die Abwehr möglicher Entschädigungsverlangen osteuropäischer Staaten, die Russland für die „Okkupationen“ der Sowjetunion haftbar machen könnten. Um die Kommission wurde es zuletzt ruhiger. Ein Gesetz gegen „Geschichtsfälscher im Ausland“ existiert jedenfalls bis heute nicht.
Nach dem Gespräch mit dem Direktor führt mich sein Mitarbeiter Sergej zu einem Platz auf dem Verneigungshügel, der unter freiem Himmel mit sowjetischem und deutschem Kriegsgerät aus dem Zweiten Weltkrieg zugestellt ist – deutsche Schützenpanzer, Geschütze und Kommandeurs-Wagen, originalgetreu in Mausgrau mit dem schwarz-weißen Wehrmachtskreuz. Solche Ausstellungsstücke ziehen doch sicher auch russische Nazis an, frage ich meinen Begleiter. Der erwidert missmutig, „Faschismus ist doch auch, wenn sich eine Klasse über eine andere stellt“, und gibt sich als Anhänger einer russischen Monarchie zu erkennen.
Wortlos gehen wir weiter, vorbei an gepanzerten sowjetischen Eisenbahnwagen, Granatwerfern und Kampfflugzeugen mit dem fünfzackigen Stern in Rot. Von Weitem hören wir Kinderlachen. Auf dem Gedenkplatz für den Großen Vaterländischen Krieg hat sich eine Kirmes mit Karussells, aufblasbaren Rutschen und Trampolins eingerichtet. Moskau löst sich nicht in Tränen auf, wie es einst – vor vielen Jahrzehnten – der Schriftsteller Ilja Ehrenburg beschrieben hat.
veröffentlicht in: der Freitag