Im Olympia-Schock
Nach dem mittelmäßigen Abschneiden bei den Olympischen Spielen von Vancouver wird in Moskau darüber gestritten, was man zum Siegen braucht – Geld oder ewige Werte
Mindestens sieben Goldmedaillen und 27 Medaillen insgesamt sollte die russische Sbornaja aus Vancouver mit nach Hause bringen. So stand es in einem vertraulichen Papier, das Journalisten der Zeitung Iswestija in die Hände gespielt wurde. Doch die Leistungen reichten nur für knapp die Hälfte – drei Goldmedaillen, 15 Medaillen insgesamt.
Nach den Niederlagen von Goldmedaillen-Anwärtern wie Eiskunstläufer Jewgeni Pluschtschenko und der Eishockey-Equipe ist Russland in Schockstarre verfallen. Zwei Goldmedaillen für die eigenen Biathleten und Silber für die junge Snowboarderin, Jekaterina Iljuchina, konnten da auch nicht mehr helfen. Premier Wladimir Putin versuchte, die Nation wieder aufzurichten. „Ihr Silber ist Gold wert“, telegrafierte er in einem Glückwunschtelegramm an das russische Idol Pluschtschenko, der sich partout nicht mit seiner Silbermedaille abfinden wollte und sich auf seiner Homepage trotzig selber mit einer „Platin-Medaille“ auszeichnete.
Hysterie und Depression
Es gäbe keinen Grund, so Putin, „den Kopf mit Asche zu bestreuen und sich mit Eisenketten zu schlagen.“ Der gestandene Judo-Kämpfer, der sich der Nation immer wieder als sportliches Vorbild andient, deutete jedoch an, dass es personelle Konsequenzen geben werde. Die Ergebnisse von Vancouver seien „Anlass für eine ernste Analyse und organisatorische Konsequenzen“. Sportminister Witali Mutko, dessen Sessel schon wackelt – die Liberaldemokraten von Ultranationalist Wladimir Schirinowski fordern seinen Rücktritt –, ging in die Offensive und erklärte, es sei wohl sinnvoll, wenn die Olympia-Trainer wie zu Sowjetzeiten von der Regierung bestimmt würden.
Wegen der Winterspiele von Sotschi 2014 schwankt die Stimmung der Nation nun zwischen Hysterie und Depression. Sportfunktionäre beschimpfen sich gegenseitig. Sportjournalisten löchern Sportfunktionäre, ob bis 2014 überhaupt noch etwas zu retten sei. Und auf den Titelseiten der Massenblätter werden zunehmend kritische Fragen gestellt. Wurden die Sportler nicht zu sehr in Beschlag genommen? Patriarch Kirill hatte vielen von ihnen vor dem Abflug nach Vancouver in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche eingebläut, der Sieg sei sehr wichtig „für das Selbstverständnis des russischen Volkes, gerade in schwierigen Zeiten“. Eiskunstläuferin Irina Rodnina, die bei olympischen Winterspielen in den siebziger Jahren drei Goldmedaillen holte, hält von solchen Ritualen nichts. Ob der Gang in die Kirche „nicht Angelegenheit jedes Einzelnen“ sei, fragt der ehemalige Star auf der Titelseite der Komsomolskaja Prawda.
Honorare und Medaillen
Auch müsse man sich fragen, so Rodnina, ob die 43 Millionen Euro für die Winterspiele wirklich effektiv genutzt wurden. Sei es denn wirklich nötig, dass die Sportfunktionäre zu den Winterspielen ihre ganzen Familien, Freunde und Liebhaberinnen mitbrächten? Der neuen Sportlergeneration fehle es an Vaterlandsliebe. Die Jugend kämpfe nur noch für „Honorare“. „Wir waren zum Sieg erzogen“, trauert die 60-Jährige alten Zeiten nach.
Doch nicht nur Stars wie Rodnina schwärmen von früher, auch der 38jährige Alexander Popow, vierfacher Olympia-Sieger im Schwimmen, erklärte in einem Interview mit Sowjetski Sport, die „wahren Werte“ seien „verloren gegangen“. Für die neue Sportlergeneration stehe nicht mehr die Medaille an erster Stelle, sondern Geld. „Wenn du Geld verdienen willst, dann geh ins Business“, empfiehlt Popow. Was die Aussichten für Sotschi betreffe, da gäbe es keine Hoffnungen für eine kardinale Änderung. Um einen Sportler auf Olympia-Niveau zu bringen brauche man zwölf Jahre. Geld gäbe es für den Sport „mehr als nötig“, so der Star-Schwimmer, aber die Finanzen würden nicht „effektiv“ genutzt.
Bei den Preisgeldern ist die russische Regierung in der Tat nicht kleinlich. Jeder Sportler mit einer Goldmedaille erhält 100.000 Euro. Wer zwei solcher Auszeichnungen mit nach Hause bringt, bekommt sogar eine Million. Die Preis-Gelder für amerikanische und deutsche Goldmedaillen-Gewinner mit 10.000 beziehungsweise 15.000 Euro seien dagegen „bescheiden“, meint Sport-Analytiker Igor Nikolajew auf dem Internet-Portal gazeta.ru und rät ebenfalls zu effektiverer Geldverwendung. Die nächste Sportlergeneration „existiert nicht“, ergänzt User nail77 auf dem Internetportal von gazeta.ru. Olympia-Starter müsse man vom Kindesalter an vorbereiten. „Aber in welchem Zustand befinden sich unsere Sportschulen?“
"der Freitag"