21. January 2022

Im Schlepptau von Kiew (Rubikon)

Foto: Billion Photos/Shutterstock.com
Foto: Foto: Billion Photos/Shutterstock.com

Freitag, 21. Januar 2022, 15:00 Uhr

Ein ehemaliges Kampfblatt der deutschen Linken beteiligt sich seit Neuestem am Russland-Bashing des Mainstreams.

von Ulrich Heyden

Die linke Hamburger Monatszeitung „Analyse und Kritik“ (ak) hieß bis 1991 „Arbeiterkampf“ und berichtet vorwiegend über „Kämpfe von unten“, Diskriminierung von Migranten und sexuellen Minderheiten. In den letzten Jahren hat die Zeitung kaum Artikel über Russland und die Ukraine gebracht. Nun hat das Blatt in seiner Online-Ausgabe überraschend einen Leitartikel mit der schrillen Überschrift „Russlands imperiale Eroberungen“ veröffentlicht. Bis 2014 war „ak“ eher Russland-freundlich. Aber dem Druck des Russland-feindlichen Mainstreams konnte eine der erfolgreichsten Zeitungen der radikalen Linken in Deutschland wohl nicht widerstehen.

Der Artikel stammt von der „freien Journalistin“ Anastasia Tikhomirowa, die auch für die taz und Jungle World schreibt und im Rahmen des Internationalen Journalisten Programm e.V. ein Stipendium bekam, um als Gastredakteurin bei der oppositionellen Novaja Gaseta in Moskau zu arbeiten. Die 22 Jahre alte Autorin ist im Allgäu aufgewachsen, ihre Eltern kommen aus Russland.

In ihrem Artikel für ak mixt die junge Autorin verschiedene Ereignisse der russischen Geschichte zu einem wilden Gebräu. Russland habe sich als Kolonialmacht in den letzten Jahrhunderten gewalttätig nach Süden und Osten ausgedehnt. Im 19. Jahrhundert seien indigene Völker von den Russen angeblich in die Arktis verdrängt worden. Von Massakern, wie sie die westlichen Kolonisatoren in Afrika, Mittel- und Nordamerika an der indigenen Bevölkerung verübten, kann die Autorin in Bezug auf Russland nicht berichten, was sie aber nicht daran hindert, Russland an den Pranger zu stellen.

Kalter Schauer

Ich habe ak seit 30 Jahren abonniert und gelegentlich Artikel für das Blatt geschrieben. Von daher war es für mich wie ein Schock, als ich den Artikel über „Russlands imperiale Eroberungen“ las. Ich konnte sogar schlecht einschlafen.

In den 1970er- und 80er-Jahren hatte ich den Arbeiterkampf — die Vorläuferzeitung von ak — auf Straßen und in Kneipen in Norddeutschland verkauft. Die Zeitung wurde vom Kommunistischen Bund (KB) herausgegeben, der sich 1991 auflöste. Der Arbeiterkampf hatte kritisch über die Sowjetunion berichtet. Aber die Sowjetunion gehörte für den KB zum antiimperialistischen Lager. Eine Gleichsetzung der Sowjetunion mit dem US-Imperialismus — wie es andere K-Gruppen taten — lehnte der Arbeiterkampf entschieden ab.

„Sowjetischer Chauvinismus noch erfolgreicher als zu Zarenzeiten“

Mit welchen Argumenten untermauert Tikhomirowa ihre jetzige Behauptung, Russland habe bis heute eine koloniale und chauvinistische Tradition? Sie schreibt, die Förderung der Sprachen von 135 Minderheitsnationalitäten in Russland werde vernachlässigt. Viele Sprachen seien vom Aussterben bedroht.

Dass die Förderung der Sprachen der kleinen Völker in Russland zu wünschen übriglässt, ist unbestritten. Doch für die Autorin ist die Sprachen-Frage nur ein kleiner Baustein für ein großes Grusel-Bild. Dass die Sowjetunion in den 1920er-Jahren die Entwicklung nationaler Kulturen förderte und viele Ethnien der Sowjetunion damals ihre ersten Wörterbücher und Theater bekamen, erwähnt die Autorin nur in einem Nebensatz.

Die sowjetische und russische Realität beschreibt Tikhomirowa in düsteren Farben. In der Sowjetunion seien die Völker zwangsweise russifiziert worden. Es habe sich ein „großrussischer Chauvinismus“ entwickelt, der „noch erfolgreicher war, als zu Zeiten des zaristischen Russlands“.

Halt! Kennt Tikhomirowa denn die sowjetische Geschichte nicht? Wie passt es zum „großrussischen Chauvinismus, wenn am 2. Mai 1945 auf dem Dach des Reichstags in Berlin der Georgier Meliton Kantarija und der Russe Michail Jegorow gemeinsam die rote Fahne hissten?

Weiß denn die Autorin nicht, dass im Zweiten Weltkrieg auf sowjetischer Seite Russen, Ukrainer, Kasachen, Georgier, Tschetschenen und sogar Mongolen Seite an Seite kämpften?

An den 15 sowjetischen Fronten im „Großen Vaterländischen Krieg“ (russische Bezeichnung des Zweiten Weltkrieges) waren mehr als die Hälfte der Marschalle und Generäle ukrainischer Abstammung. Zu ihnen gehörten die Generäle Iosif Apanasenko und Michail Kirponos sowie die Marschalle Semjon Timoschenko und Andrej Jeremenko. 2,5 Millionen ukrainische Soldaten wurden mit Orden und Medaillen ausgezeichnet. Von 115 „Helden der Sowjetunion“ waren 32 Ukrainer oder wurden in der Ukraine geboren. Der Kommandeur des 756. sowjetischen Schützen-Regiments, Fjodr Sintschenko, ein Ukrainer, war der erste Kommandant des Reichstages.

Sowjetischer Schlagersänger aus Aserbaidschan

Tatsächlich wurde zugunsten des sowjetischen Projekts die Entwicklung der nationalen Kulturen — übrigens auch der russischen — gebremst. Allerdings wurden ausnahmslos alle Nationalitäten in das sowjetische Projekt integriert. Alle Sowjetbürger profitierten von einem exzellenten Bildungssystem. Auch Menschen aus Gebieten in der Provinz konnten in höchste Ämter aufsteigen.

Nicht-Russen spielten eine bedeutende Rolle in der sowjetischen und russischen Kultur. Zu den bekanntesten sowjetischen Schauspielern gehörte der in einer ukrainischen Bauernfamilie geborene Wasili Lanowoj (1934 bis 2021) und der in einer armenischen Familie in Tbilissi geborene Armen Dschigarchanjan (1935 bis 2020). Einer der populärsten sowjetischen Schlagersänger, Muslim Magomajew (1942 bis 2008), wurde in Baku in einer aserbaidschanischen Künstler-Familie geboren.

Nationalismus verschwiegen

Dass die postsowjetischen Unabhängigkeitsbewegungen Anfang der 1990er Jahre durchweg nationalistisch ausgerichtet waren und zum Teil mit Gewalt gegen die russische Zivilbevölkerung vorgingen, verschweigt Tikhomirowa.

Hunderttausende Russen mussten Anfang der 1990er-Jahre aus den zentralasiatischen, ehemaligen Sowjetrepubliken und aus Tschetschenien fliehen. Übrigens stellte ich selbst bei Reisen in Tschetschenien in den 1990er- Jahren verwundert fest, dass viele Tschetschenen der älteren Generation, sich mit Sehnsucht an die Sowjetzeiten erinnerten, weil es dort Stabilität und Vollbeschäftigung gab.

Ganz und gar nicht zum „großrussischen Chauvinismus“ passt auch, dass im heutigen Russland nicht wenige Spitzenbeamte und Großunternehmer Nicht-Russen sind. Das russische Innenministerium wurde von 2004 bis 2012 von Raschid Nurgalijew geleitet und die russische Zentralbank wird seit 2013 von Elvira Nabiullina geführt. Nurgalijew und Nabiullina kommen beide aus tatarischen Familien.

Die Leiterin von RT DE, Margarita Simonjan, stammt aus einer armenischen Familie. Der viertreichste Mann Russlands, der Generaldirektor von Lukoil, Wagit Alekperow, entstammt einer aserbaidschanisch-russischen Familie. Der Medien-Unternehmer und sechzehnfache Dollar-Milliardär Alischer Usmanow ist Usbeke.

„Russland ist zu groß“

Anastasia Tikhomirowa versteigt sich in ak zu dem Satz: „Das moderne Russland ist bis heute eine zu große Föderation.“ Das soll offenbar heißen, Russland müsse, wie schon die Sowjetunion, verkleinert werden. Ein verkleinertes Russland wäre der Traum der westlichen transnationalen Konzerne, die scharf sind auf Rohstoffe und die ein zerteiltes Russland viel besser ausplündern könnten. Aber kann sowas auch ein Traum einer linken Zeitung sein, die in einem Land erscheint, welches einen Krieg entfesselte, in dem 27 Millionen Sowjetbürger starben?

„Dekolonialer Widerstand auf der Krim“

Die „Annexion der Krim 2014“ — so Tikhomirowa — stelle „ein weiteres, aggressives Ereignis innerhalb der siedlungskolonialistischen Struktur dar, nicht nur gegen den Willen der UkrainerInnen, sondern auch gegen den der indigenen KrimtatarInnen“. Eines der „inspirierendsten Beispiele für die Infrastruktur des dekolonialen Widerstandes“ sei die „zivilgesellschaftliche Initiative Crimean Solidarity“. Diese von Krim-TatarInnen geführte Organisation habe sich zum Ziel gesetzt, „Menschen zu unterstützen, die vom russischen Staat auf der Krim diskriminiert werden“.

Da ich selbst nach 2014 mehrmals auf der Krim war, muss ich widersprechen. Die Bevölkerung der Krim stimmte schon am 20. Januar 1991 für die Unabhängigkeit von der Ukraine. Das war nicht überraschend, denn auf der Krim wohnen mehrheitlich Russen und von dem schon damals aufkeimenden ukrainischen Nationalismus, fühlten die Russen auf der Krim sich abgestoßen. Dass am 16. März 2014 bei einem Referendum auf der Krim 96 Prozent für die Vereinigung mit Russland stimmten, hat weder auf der Krim noch in Russland noch unter regierungskritischen Ukrainern jemanden überrascht.

Es stimmt, auf der Krim werden Krim-Tataren verfolgt, aber nur die, welche im Untergrund gegen die Vereinigung mit Russland arbeiten.

Russland tut etwas für die Krim-Tataren. Der Status ihrer Sprache wurde nach der „Annexion“ durch Russland erhöht. Krim-Tatarisch ist seit 2014 eine der — neben Russisch und Ukrainisch — drei offiziellen Sprachen auf der Halbinsel. Im September 2017 wurde in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, eine neue Schule für 760 Schüler eröffnet. 95 Prozent der Schüler sind Krim-Tataren. Wie passt das alles mit der angeblichen Kolonisierungspolitik Russlands zusammen, von der Tikhomirowa in ak schreibt?

Wie sieht es mit der Nationalitätenpolitik in Russland heute aus?

Ich will nicht behaupten, dass in Russland in Bezug auf die Nationalitätenfragen alles zum Besten steht. Die sieben Millionen Migranten, die 2020 in Russland legal arbeiteten, sind — da billig — eine begehrte Arbeitskraft für Unternehmer und öffentliche Verwaltungen. Aber sie sind nicht in die Gesellschaft integriert.

Vor der Ukraine-Krise waren Arbeitsmigranten häufig Ziel negativer Medien-Berichterstattung. Ihnen wurden Vergewaltigungen und Schlägereien vorgeworfen. 2007 gab es sogar eine ganze Serie von Mordanschlägen auf Migranten, ausgeführt von Rechtsradikalen. Erst als die Staatsanwaltschaft begann, die Mörder ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen, hörte die Welle der Morde auf.

In den 2000er-Jahren überfielen Rechtsradikale auch mehrere Märkte, auf denen Migranten arbeiteten. 2010 kam es in Moskau mehrere Tage lang zu Demonstrationen von jugendlichen Fußball-Fans, nachdem ein junger Mann aus Dagestan einen Fan von Spartak Moskau bei einer Auseinandersetzung tötete. Damals traf sich Wladimir Putin höchstpersönlich mit Spartak-Fans, um sie von ihren Demonstrationen und der Jagd auf Migranten abzuhalten.

Neue Moschee in Moskau

Von den 146 Millionen Einwohnern in Russland sind nach Angaben der Muslimischen Geistlichkeit 20 Millionen Moslems. Die nach den Russen zweitgrößte Volksgruppe in der Russischen Föderation sind mit 5,3 Millionen die muslimischen Tataren, die vor allem in der Teilrepublik Tatarstan an der Wolga leben und seit Sowjetzeiten gut in den russischen Staat integriert sind.

Im September 2015 wurde im Zentrum von Moskau — nahe der Friedensstraße (Prospekt Mira) — eine neue Moschee eröffnet, die 10.000 Gläubige aufnehmen kann. Der Bau dieser Moschee war nötig geworden, weil bisher Tausende muslimische Arbeitsmigranten an dem muslimischen Feiertag am Prospekt Mira — wo es bereits eine kleine, alte Moschee gab — im Freien beten mussten.

Für viele Moskauer, welche die Migranten nicht lieben, war die Eröffnung der Mosche keine gute Nachricht. Aber Wladimir Putin persönlich hielt auf der Einweihung eine Rede, in der er betonte, dass der Islam — neben dem Christentum und dem Buddhismus — zu den offiziellen Religionen in Russland gehört.

Putin erinnerte in seiner Rede daran, dass die „moslemischen Wurzeln in Moskau bis in das Mittelalter zurückreichen“. „Sehr, sehr viele Moskauer Straßen“ hätten tatarische Namen. Selten hat man Putin öffentlich so positiv über den Islam sprechen hören. Er sprach Fakten an, über die in der Öffentlichkeit normalerweise nicht gesprochen wird, wie zum Beispiel die Tatsache, dass die erste tatarische Siedlung in Moskau schon im 14. Jahrhundert entstand.

Dort lebten Nachfahren des mongolisch-tatarischen Heeres, welches Moskau im Jahre 1238 eroberte. Der Eroberung folgte eine 200 Jahre dauernde mongolisch-tatarische Fremdherrschaft auf dem Territorium des heutigen Russlands. Zwischen 1438 und 1783 bildeten sich in diesem Herrschaftsbereich verschiedene moslemische Khanate (Herrschaftsbereiche), so in Kasan (heute Hauptstadt von Tatarstan), Astrachan, West-Sibirien und auf der Krim.

„Katerina die Große“ für Toleranz

Kasan wurde 1552 vom russischen Zaren Iwan Grosny erobert. Es begann eine Christianisierung. Doch zweihundert Jahre später hob Katharina die Große, eine russische Zarin deutscher Abstammung, die Beschränkungen für die moslemische Gemeinde in Kasan gemäß ihrer 1773 erlassenen Anordnung „über die Toleranz gegenüber allen Glaubensrichtungen“ auf. Und das war noch nicht alles. Im Jahre 1788 wurde die erste offizielle Vertretung der Moslems in Russland gegründet.

Die Probleme zwischen Russen und Arbeitsmigranten sind typisch für eine kapitalistische Gesellschaft, in der Arbeitskräfte angeworben werden, die man nur als Arbeitskräfte nutzen aber nicht in die Gesellschaft integrieren will.

Führende russische Beamte haben nun angekündigt, die Zahl der Migranten drastisch zu senken und durch russische Arbeitskräfte zu ersetzen. Doch einfach wird das nicht, denn russische Arbeitskräfte, die in der Lage sind Hochhäuser, Straßen und U-Bahn-Stationen zu bauen, gibt es nicht in ausreichender Zahl. Sie müssen erst ausgebildet werden. Zudem schafft die Ersetzung von Migranten durch Russen massive Probleme in den mittelasiatischen Republiken Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan, wo die Einkommen der Migranten in Russland wesentlich zur Ernährung der Familien beitragen.

Nach meinem Eindruck achten die russischen Medien seit der Ukraine-Krise mehr darauf, eine emotionalisierende Berichterstattung über Arbeitsmigranten zu unterlassen. Denn was Russland in dieser Zeit eines drohenden Krieges mit der Nato überhaupt nicht gebrauchen kann, sind Konflikte im Land. Jugoslawien war ein warnendes Beispiel dafür, dass Nationalitätenkonflikte, angeheizt durch das westliche Ausland, ein Staatswesen sprengen können. Diese Lektion haben die Russen schon 1991 gelernt.

veröffentlicht in: Rubikon


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Arbeitsmigranten aus Zentralasien in Moskau, Foto: Ulrich Heyden 2006

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Arbeitsmigranten aus Usbekistan kommen auf Kasaner Bahnhof in Moskau an, Foto: Ulrich Heyden 2009

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Usbekischer Laden für Samsa-Teigtaschen, Foto: Ulrich Heyden 2010

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Zentrale Moschee in Moskau während der Gebetszeit, Foto: Ulrich Heyden 2010

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