10. August 2019

Interview mit russischem Linkspolitiker: "Es gibt eine Mehrheit für einen Wandel"

Boris Kagarlitsky
Foto: Boris Kagarlitsky

Der bekannte russische Soziologe Boris Kagarlitsky erklärte seine Solidarität mit den nichtzugelassenen Kandidaten für das Moskauer Stadtparlament. Er selbst kandidiert für die Wahl am 8. September auf der Liste der Partei "Gerechtes Russland"

Der bekannte Soziologe und Hochschullehrer Boris Kagarlitsky kritisiert die harten Polizeieinsätze und Verhaftungen von vorwiegend jungen Moskauern, die am 27. Juli und 3. August auf nichtgenehmigten Demonstrationen gegen die Nichtzulassung von 57 Kandidaten zu den Wahlen für das Moskauer Stadtparlament - Mosgorduma - demonstrierten.

Kagarlitsky kandidiert selbst im westlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen Wahlkreis Dorogomilow auf der Liste der sozialdemokratischen Partei "Gerechtes Russland" an (Fotos vom Wahlkampf).

In seinem Wahlprogramm fordert der Kandidat Lebensmittelläden für Menschen mit niedrigem Einkommen, Mitsprache der Bürger bei der Planung von Parkplätzen und Straßenzuführungen zu Neubauten, eine Ende des Diebstahls von öffentlichen Geldern, die für Parks und öffentliche Feiern bestimmt sind, eine Stopp der Entlassungen von Lehrern, Ärzten und Erziehern, die Abschaffung der Rentenreform und die Erweiterung der Rechte der russischen Regionen.

"Ein ungerechtes Registrierungsverfahren für die unabhängigen Kandidaten"

 Wie beurteilen Sie die Proteste wegen der Nichtzulassung von 57 Kandidaten durch die Moskauer Walkommission? Hatten die Kandidaten nicht genug Unterschriften? Hat die Wahlkommission Unterschriften verändert, wie einige Kandidaten sagten?

Boris Kagarlitsky: Die Entscheidung der Moskauer Wahlkommission ist ein Beispiel für politische Willkür. Als man die unabhängigen, oppositionellen Kandidaten von den Wahlen ausschloss, gab es nur drei offiziell registrierte Kandidaten von politischen Parteien, welche sich nicht nur gegen diese Maßnahme aussprachen, sondern auch versuchten, aktiv dagegen zu protestieren: Georgi Fjodorow, Wlad Schukowski und ich. Wir haben eine Protestkundgebung auf dem Sacharow-Prospekt angemeldet. Wir waren die Ersten, die das gemacht haben. Danach haben Vertreter der liberalen Öffentlichkeit für den gleichen Platz eine Kundgebung angemeldet.

Wir hielten es für wichtig, Solidarität mit denen zu zeigen, die man wegen Vorwürfen beim Sammeln der Unterstützer-Unterschriften nicht zur Wahl zugelassen hat, denn wir selbst brauchten keine Unterschriften sammeln (Kandidaten auf Parteilisten waren davon befreit, U.H.). Die Kandidaten befanden sich in ungleicher Lage.

Das Problem hat einen systemischen Charakter. Man muss verstehen, dass die Regeln zur Bildung der Stadt-Duma (Stadtparlament, U.H.) extra so gemacht wurden, um wirklich unabhängige und oppositionelle Kandidaten nicht zuzulassen. Zum einen wurden nur 45 Wahlkreise geschaffen, die viel zu groß sind. Es wurde alles dafür getan, dass es keine Verbindung zwischen den Wählern und den Abgeordneten gibt.

Außerdem mussten die unabhängigen Kandidaten innerhalb eines Monats die Unterschriften von drei Prozent der Einwohner des Bezirks sammeln. Das ist unmöglich. Alles wurde so gemacht, dass es für die Partei "Einiges Russland" - und teilweise auch andere Systemparteien - bequem ist. Durch dieses System wurden alle Unabhängigen ausgeschlossen.

Aber in diesem Jahr lief nicht alles nach Plan. Nach der Rentenreform sank die Popularität der Partei Einiges Russland so stark, dass sich ihre Politiker als Unabhängige zur Wahl stellten. Und auch sie hatten Probleme beim Sammeln von Unterschriften. Im Ergebnis wurden einige Unabhängige als Kandidaten registriert, andere nicht. Das ist absurd. Entweder lehnt man Alle ab oder man registriert Alle. Am besten ist natürlich die zweite Lösung. Die Wähler sind keine Dummköpfe. Sie verstehen es.

 War es richtig, die Menschen aufzurufen, sich an einer nichtgenehmigten Demonstration zu beteiligen?

Boris Kagarlitsky: Es ist merkwürdig zu fragen, ob es richtig ist, Menschen auf eine verbotene Kundgebung zu mobilisieren, aber nicht gefragt wird, auf welcher Grundlage solche Kundgebungen verboten werden. Das ist eine vollständige Gesetzlosigkeit. An solchen Kundgebungen teilzunehmen, ist nicht nur rechtmäßig, sondern sogar die Verpflichtung eines Bürgers. Ich bin immer auf solche Kundgebungen gegangen, selbst wenn ich nicht mit den Organisatoren dieser Kundgebungen einverstanden war, weil ich der Meinung bin, dass es eine Bürgerpflicht ist, das Recht des Bürgers auf friedliche Versammlungen zu unterstützen.

In dieser Wahlkampagne musste ich leider eine Ausnahme machen. Denn ich bin Kandidat von "Gerechtes Russland" im 42. Wahlbezirk. Wenn man mich für einen Monat verhaftet, wird es schwer sein, vom Gefängnis aus Wahlkampf zu machen.

"Der Protest wird weitergehen"

 Wie wird der Protest weitergehen, nachdem eine große Zahl von Menschen festgenommen wurde? Was wäre nach Ihrer Meinung richtig?

Boris Kagarlitsky: Der Protest wird weitergehen. Wobei alle nur auf Moskau gucken. Dabei ist die Situation in St. Petersburg nicht weniger dramatisch. Und in einer Reihe anderer Regionen gibt es massenhafte Empörung, sogar mehr als in der Hauptstadt. Moskau ist noch nicht mal die Spitze des Eisberges bei den sozialen Protesten.

Mitarbeiter der Rosgwardija kontrollierten am 3. August Passanten am Puschkin-Platz. Bild: Ulrich Heyden

 Warum agiert die Nationalgarde Rosgwardija so hart?

Boris Kagarlitsky: Die Rosgwardija agiert so, wie sie kann. Das Problem ist, dass sie überhaupt nicht auf den Straßen sein dürfte. Ich unterstreiche: Der Einsatz von Truppen - die Rosgwardija ist keine Polizei, sondern eine militärische Einheit - gegen friedliche Menschen, welche einfach in der Stadt spazieren gehen, das ist nicht nur ungesetzlich, sondern einfach absurd. Denn ein großer Teil der Verhafteten hatte mit den Demonstrationen nichts zu tun. Die Polizei hat einfach alle jungen Leute, die sich in einer ungünstigen Zeit im Stadtzentrum befanden, gefangen und verprügelt.

 Viele Menschen in Deutschland, die wünschen, dass es in Russland keine orangene Revolution gibt, meinen, dass die Rosgwardija - insbesondere im Vergleich zu Frankreich - weich vorgegangen ist. Ist das so?

Boris Kagarlitsky: Was ist eine "orangene Revolution"? Das ist ein Begriff, den sich amerikanische und russische Politologen ausgedacht haben. In der Ukraine hat im Jahre 2004 eine Gruppe von Korrupten und Verbrechern eine andere Gruppe gestürzt. Danach wurde nochmal 2014 ein Staatsstreich durchgeführt. Massen haben daran nicht teilgenommen, wenn man nicht die Statisten auf einem Platz im Zentrum von Kiew zählt.

In Russland entwickelte sich nach der Rentenreform im Volk eine Welle des Hasses gegen das derzeitige System. Auf der anderen Seite terrorisiert die Macht, die versteht, dass man sie hasst, die friedliche Bevölkerung. Glauben Sie etwa ernsthaft, dass einige Tausend junge Leute, die versuchten, ohne Plakate auf der Twerskaja Straße spazieren zu gehen, eine Gefahr für die Regierung von Putin sind? Wenn das wirklich so ist, dann hängt die Macht wirklich an einem Härchen.

"Wir brauchen abgewogene Entscheidungen"

 Sie waren schon zweimal Kandidat für das Moskauer Stadtparlament, 1990 und 1997. Viele Jahre haben Sie nicht an Wahlen teilgenommen. Warum gerade jetzt?

Boris Kagarlitsky: Die Situation in der Gesellschaft hat sich geändert. 1993 konnte ich sagen: "Die neue städtische Duma ist ungesetzlich, ich darf mich nicht in dieses Parlament wählen lassen." Aber nach einem Vierteljahrhundert haben sich die Menschen an die gegebenen Strukturen der Macht gewöhnt. Andere Strukturen haben wir nicht. Dass ich mich 1997 an einer Wahl beteiligt habe, war ein Fehler. Zum Einen war die Situation noch nicht reif und zum Zweiten war es der Höhepunkt der Wahlfälschungen. Wir waren nicht in der Lage, dagegen zu kämpfen.

Heute wollen die Menschen den Wechsel. Es ist eine neue Mehrheit entstanden - im Land und in der der Stadt. Eine Mehrheit, die keine Erschütterungen will, die aber entschlossen für einen Wandel ist. Diese Mehrheit wird am 8. September zur Wahl gehen, um auf gesetzlichem Wege die Macht auszuwechseln, wenigstens auf regionaler Ebene.

Und diese Mehrheit braucht ihre Kandidaten und ihre Abgeordneten, und zwar solche, die nicht nur schreien "Nieder mit Allem!", sondern die eine Position und Anhänger haben, die politische Erfahrung haben und in der Lage sind, in einer schwierigen, sich ändernden Situation abgewogene Entscheidungen zu treffen. Ich denke, dass es solche Leute in der neuen Mosgorduma (Moskauer Stadtparlament, U.H.) geben wird. Und in einer solchen Situation kann ich viel machen, wenn man mich wählt.

Boris Kagarlitsky im Wahlkampf. Bild: Boris Kagarlitsky

 Was sind die Besonderheiten Ihres Wahlbezirks? Was sind Ihre wichtigsten Forderungen als Kandidat? Was wollen Sie als Abgeordneter machen?

Boris Kagarlitsky: Das Schlüsselproblem der Stadt ist die nicht nicht-rationale Verteilung der Mittel und die überflüssige, nicht-effektive, zentrale Lenkung.

2017 wurden neue Kommunalabgeordnete gewählt. Es wurden Leute gewählt, die wirklich etwas verändern und verbessern und etwas Nützliches machen wollten. Aber sie hatten fast keine Möglichkeiten. Und sie hatten keine Mittel, keine Vollmachten. Man muss die Macht und die Ressourcen in der Stadt so umverteilen, dass insbesondere die Vertreter der Bürger in den Bezirken Entscheidungen treffen und die Bürger ihre Abgeordneten erreichen können.

Es ist Zeit für die Verkehrspolitik, billige und einfache Lösungen zu finden. Es geht nicht darum, einfach nur neue U-Bahn-Linien zu bauen, sondern das so zu machen, dass der Passagierstrom geschickt gelenkt wird. Ich habe den Eindruck, dass sich mit dem Verkehr nur Menschen beschäftigen, welche die U-Bahn nur zu der feierlichen Eröffnung einer neuen Station besuchen. Wenn sie selbst mit der U-Bahn fahren würden, dann würden sie wahrscheinlich bemerken, dass zum Beispiel die neuen Hinweisschilder, für die wahrscheinlich eine Unmenge Geld ausgegeben wurde, nur schlecht zu lesen sind. Außerdem werden die neuen U-Bahn-Stationen so gebaut, dass sie für die Bürger der benachbarten Häuser nicht günstig zu erreichen sind. Die Streckenführung der neuen U-Bahn-Linien ist nicht optimal.

Was die Gesundheitsversorgung betrifft, muss man die Prioritäten radikal ändern. Es geht nicht darum, einmalige Programme vorzustellen, die meistens nur vorgetäuschte Leistungen sind. Man muss sich um die Entwicklung der kompletten Infrastruktur im Gesundheitswesen kümmern. Man muss mit den Ärzten und Patienten zusammenarbeiten. Die Beamten der Stadt ignorieren sowohl die einen wie die anderen. Zu Beginn sollte man die Ausgaben der Stadtverwaltung für PR kürzen oder ganz streichen. Dann werden wir sehen, was weiter passiert.

Das Wichtigste ist: Das Stadt-Duma von Moskau ist das wichtigste regionale Parlament Russlands. In diesem Parlament müssen demokratische Linke vertreten sein.

"Die Leute waren geschockt, dass es eine Alternative gibt"

 Wie läuft Ihre Wahlkampagne konkret? Wer hilft Ihnen? Wer finanziert Ihre Kampagne? Wie reagiert die Bevölkerung? Haben Sie eine reale Chance gewählt zu werden?

Boris Kagarlitsky: Wir haben sehr wenig Geld. Dafür haben wir Freiwillige. Wir sind faktisch die einzige Mannschaft in Moskau, die sich nur auf die Arbeit von unbezahlten Aktivisten stützt. Wir sprechen mit den Leuten. Das schafft eine neue Situation. Ein großer Teil der Menschen wusste bis zu den Wahlen nicht, dass es in Russland Leute gibt, die mit der Politik der Macht nicht einverstanden sind. Ich scherze nicht. Und für Viele war es ein großer Schock, dass es eine Alternative zur neoliberalen Wirtschaftspolitik gibt.

Ob es eine Chance gibt gewählt zu werden? Es gibt diese Chance. Mehr kann ich dazu jetzt nicht sagen.

 Wer sind Ihre größten Konkurrenten? Was sind die Schwächen dieser Konkurrenten?

Boris Kagarlitsky: "Einiges Russland" ist so unpopulär, dass die Partei entschieden hat, ihre Kandidaten nicht unter dem Parteinamen antreten zu lassen. Sie treten als unabhängige Kandidaten an. In unserem Wahlkreis ist es der neoliberale Ökonom Kirill Nikitin. Aber mir scheint, dass die Menschen im Wahlkreis sich schon klargeworden sind über die Kandidaten. Es gibt Kandidaten von der KPRF und der Liberaldemokratischen Partei. Und es gibt übrigens auch einen unabhängigen Oppositionellen, Michail Menschikow. Das heißt, man hat nicht alle Unabhängigen von der Kandidatur ausgeschlossen.

Schließlich muss ich noch etwas zur KPRF sagen. Der Vorsitzende dieser Partei, Gennadi Sjuganow, nannte die Proteste gegen die Nichtzulassung von unabhängigen Oppositionellen einen "orangenen Aussatz". Das ist eine merkwürdige Erklärung für eine Partei, die versucht, Proteststimmen der Wähler zu bekommen, denen man die Kandidaten genommen hat. Ich verstehe, dass nicht alle in der KPRF mit dieser Position einverstanden sind. Aber immerhin ist es die Linie der Parteiführung.

 Sie sind ein unabhängiger Linker. Haben Sie keine Angst, dass man Sie mit der "Pro-Kreml-Partei" "Gerechtes Russland" assoziiert?

Boris Kagarlitsky: In Russland sind alle Parteien "Pro-Kreml"-Parteien. Sonst wären sie nicht registriert worden. Aber in der Partei "Gerechtes Russland" gibt es eine Gruppe realer Linker, die von dem Duma-Abgeordneten Oleg Schein geführt werden. Wir haben gemeinsam gegen die Heraufsetzung des Rentenalters gekämpft. Mit dem Genossen Schein arbeite ich schon seit mehreren Jahren zusammen. Er hat gezeigt, dass man sogar in der heutigen Duma (dem russischen Parlament, U.H.), die bis zum Anschlag mit Mitgliedern der Partei Einiges Russland gefüllt ist, kämpfen kann.

Alle heutigen offiziellen Parteien sind gezwungen, in einem bestimmten Rahmen zu arbeiten und die Position der Macht zu berücksichtigen. Aber den Rahmen kann man erweitern, besonders in meinem Fall. Ich und Georgi Fjodorow (ein weiterer unabhängiger, linker Kandidat) sind nicht Mitglieder der Partei "Gerechtes Russland". Wir haben aber an der Beratung über das Wahlprogramm von Gerechtes Russland teilgenommen. Aber die Parteidisziplin gilt für uns nicht. Wir haben mit "Gerechtes Russland" eine Vereinbarung abgeschlossen. In der Vereinbarung geht es um den gemeinsamen Kampf gegen die Politik der Partei "Einiges Russland".

"Die Situation ist aus der Kontrolle geraten"

 Was bedeutet der Konflikt um die Registrierung der Kandidaten in Moskau für die politische Landschaft in Russland?

Boris Kagarlitsky: Die Macht weiß nicht, wie sie die Situation, die aus der Kontrolle geraten ist, lenken soll. Es gibt keine politische Landschaft. Das System der "gelenkten Demokratie" ist vollständig zerfallen. Eine echte autoritäre Diktatur gibt es bisher zum Glück nicht. Es gibt nur ein wachsendes Chaos.

Demonstranten-Spaziergänger gingen am 3. August zum Puschkin-Platz. Bild: Ulrich Heyden

 Welche Chancen gibt es, dass Russland sich in einen mehr sozialen und gerechten Staat entwickelt? Was ist dafür nötig?

Boris Kagarlitsky: Man muss eine moderne linke Bewegung entwickeln. Sie muss stark, hart, organisiert und aggressiv sein. Sie muss sich auf die Klasseninteressen der Mehrheit orientieren und kämpfen.

 Russland befindet sich unter großem Druck der westlichen Staaten. Inwieweit schränkt das die Möglichkeiten der Linken in Russland ein?

Boris Kagarlitsky: Die Sanktionen und der ganze Konflikt mit dem Westen sehen am Fernseher sehr schön aus. Auf das reale Leben hat das fast keinen Einfluss.

 Was wird mit Wladimir Putin im Jahr 2024, wenn seine Amtszeit endet? Wird er seine Macht - wie es im Gesetz vorgeschrieben ist - übergeben? Wer wird der neue Präsident?

Boris Kagarlitsky: Wenn man die Macht in Russland friedlich und auf dem gesetzlichen Wege übergeben könnte, hätte Putin das schon im Jahr 2018 gemacht. Aber leider ist das unwahrscheinlich. Man lässt ihn einfach nicht gehen. Deshalb hat es keinen Sinn, über das Jahr 2024 zu reden.

(Da sich Boris Kagarlitsky gerade auf Reisen befindet, wurde das Interview über das Internet geführt.)

 

Der ewige Dissident

Boris Kagarlitsky wurde 1958 geboren. Er ist zweifellos der im Westen bekannteste "neue Linke" aus Russland. Kagarlitsky hat dem interessierten westlichen Publikum die Politik in Russland in zahlreichen Interviews und Büchern erklärt. Seine wohl bekanntesten Bücher sind "Empire of the Periphery. Russia and the world system" (2007) und "Back in the USSR" (2009).

Als der Soziologe 2014 die separatistische Bewegung in der Ost-Ukraine unterstützte, weil er in ihr Ansätze für eine antikapitalistische Politik sah, reagierten manch westliche Linke befremdet. Die Schweizer "Wochenzeitung" beschuldigte den Soziologen im November 2017 "Kreml-naher Positionen" und befürwortete die - von einigen Intellektuellen in der Schweiz geforderte - Ausladung von einer Konferenz zur "Russischen Revolution" in Bern. Doch die Ausladung scheiterte. Kagarlitsky nahm an der Konferenz wie geplant teil.

Kagarlitsky leitet seit zehn Jahren das Internetportal Rabkor.ru, dass auch den gleichnamigen YouTube-Kanal betreibt. Unter russischen, gut ausgebildeten Jugendlichen und Intellektuellen mittleren Alters ist der linke Denker angesehen wegen seiner scharfsinnigen Analysen und dem Versuch, links von der KPRF eine eigenständige Politik zu entwickeln.

Dass Kagarlitsky mit dem System paktiert, kann man ihm kaum vorwerfen. 1982 - noch unter Generalsekretär Breschnjew - saß er wegen Mitarbeit in einer linkssozialistischen Studentengruppe ein Jahr im Moskauer Lefortow-Gefängnis. Bei der Präsidentschaftswahl 2000, als Wladimir Putin zum ersten Mal kandidierte, rief er zum Wahlboykott auf.

veröffentlicht in Telepolis

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