Kein Monat ohne Blumen auf Moskaus Straßen
Post aus Moskau
Dicke Schneeflocken bedecken Natalja. Damit die Kälte nicht zu sehr in die Beine zieht, steht die kleine 70-jährige Dame auf einem Stück Styropor und sieht fast aus wie eine Zinnsoldatin, so kerzengerade, wie sie steht. Die Kälte scheint der Babuschka nichts anzuhaben. Natalja trägt eine dicke Winterjacke. Ihr Kopf ist eingemummelt in ein Wolltuch.
Mit ihrem freundlichen Blick versucht sie immer wieder Passanten anzulocken, die von der nahe gelegenen Metro-Station kommen.
Denn Natalja hat etwas zu verkaufen. Vor ihr, auf einem kleinen Klapptisch, stehen Plastik-Behälter mit Honig aus der eigenen Imkerei und neben dem Klapptisch steht ein großer Pappkarton mit unscheinbaren braunen Zweigen. Als ich die holzig-süßlich riechenden Zweige mit ihren fingernagelgroßen Blättern das erste Mal sah, dachte ich, dass sei wohl Reisig für die Banja. Doch nachdem ich die trockenen Zweige zu Hause vier Tage in einer Vase stehen hatte, wurde ich überrascht. Aus den kleinen, kaum sichtbaren Knospen kamen Blüten in hellem Lila.
Ein Strauß mit mehreren Zweigen kostet bei Natalja 50 Rubel (1,25 Euro). Da ich kein Kleingeld hatte, gab ich der Babuschka einen meiner grünen Tausend-Rubel-Scheine. Die alte Dame hält den Schein gegen den grauen Winterhimmel – es könnte ja eine Blüte sein – guckt mir mit prüfendem Blick ins Gesicht. Ich sage schnell, „der ist echt“, worauf Natalja so etwas brummelt wie, „heutzutage weiß man nie …“.
Was das nun für ein Strauch sei, von dem diese Zweige stammen, fragte ich Natalja. Sie erklärte, die Zweige stammten von einem Strauch mit dem Namen Bagulnik. Die Pflanze wachse am Baikal-See und im Osten Sibiriens. Nach Moskau kommen die Zweige über Tausende von Kilometern mit der Transsib. Ich wollte nun unbedingt wissen, was es mit dem unscheinbaren braunen Strauch auf sich hat.
Die Recherche ergab, dass der Bagulnik zur Gruppe der Rhododendren gehört. In Sibirien wachse der Strauch in Naturschutzparks. Nun war ich natürlich besorgt, dass ich mich an der Natur versündigt hatte. Doch Natalja, der ich von meiner Recherche erzählte, winkte ab: „Der wächst schnell nach.“
Auf Moskaus Straßen werden – egal bei welchem Wetter – Blumen aller Art verkauft. Im März Zweige mit gelben Akazien-Blüten aus Sotschi, im Mai Maiglöckchen aus den Wäldern rund um Moskau und im September dunkelrote Pfingstrosen aus den Datschen-Gärten. Und dann gibt es noch die zahlreichen Blumenläden mit Ware aus Holland. Ein paar Schritte von Nataljas Klapptisch entfernt steht so ein Laden, besser gesagt, ein mit Termopen-Scheiben verglaster Container. Eine der beiden Verkäuferinnen, meint auf die Frage, wann sie die meisten Blumen verkauft: „Natürlich zum neuen Jahr, am 14.Februar und zum achten März.“
Den Valentinstag im Februar haben die feiersüchtigen Russen schon seit Jahren eingemeindet. Und der 8. März wird – Clara Zetkin hin oder her – weiter gefeiert. Wer am „Frauentag“ mit der Metro unterwegs ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Überall sieht man Frauen, die mit zufriedenen Gesichtern von den obligatorischen Betriebsfeiern kommen, die Arme voller Blumensträuße.
Welche Bedeutung Blumen in Moskau haben, wurde auch mir schnell klar. Kam ich mit meiner Freundin in die Nähe eines Blumenstandes, ging meine Flamme plötzlich sehr langsam... Ohne Blumen keinen Sex – war das denn so schwer zu verstehen? Auch im „kalten Russland“ ist Romantik gefragt.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung