Kind des Krieges
Viktor Stepanowitsch Perfiljew erzählt, wie er als 13-jähriger in Stalingrad kämpfte.
Vor 60 Jahren, am 2. Februar 1943, kapitulierte die eingekesselte 6. Armee der deutschen Wehrmacht in Stalingrad. Die Niederlage markiert eine entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg. In den 200 Tagen und Nächten der Schlacht starben nach deutschen Schätzungen etwa 250 000 Wehrmachtsangehörige und deren Verbündete sowie etwa eine halbe Million Rotarmisten.
Unzählige Zivilisten ließen ihr Leben. 60 Jahre danach widmen sich die deutschen Medien dem Thema so intensiv wie nie zuvor. Meist steht dabei das Schicksal der Wehrmachtssoldaten im Mittelpunkt. Die MAZ hat mit einem russischen Veteranen gesprochen, der als Kind in der Roten Armee gegen die Deutschen kämpfte. Viktor Stepanowitsch Perfiljew ist heute 73 Jahre alt und lebt immer noch in Wolgograd, wie Stalingrad heute heißt. Nach der Kapitulation zog Perfiljew als regulärer Soldat über Charkow, Bratislawa und Wien bis nach Prag. Im Korea-Krieg Anfang der 50er Jahre kämpfte er vier Jahre unter chinesischer Führung auf der Seite Nordkoreas. Nach seiner Soldaten-Zeit arbeitete er in der Wolgograder Traktoren-Fabrik. Das Gespräch mit dem Kriegsveteranen führte Ulrich Heyden.
Wie begann der Krieg?
Perfiljew: Ich war dreizehn Jahre alt. Ich saß im Kinotheater "Komsomolez" und sah den Film "Die geheimnisvolle Insel" von Jules Verne. Plötzlich begannen die Luftangriffe. Es war der 23. August 1942, ein Sonntag. Es gab Luftalarm, wir liefen aus dem Kino. Die Straßenbahn brannte. Auf dem Weg nach Hause sahen wir, wie Lebensmittelgeschäfte und das Fleischkombinat geplündert wurden.
Wie wurden sie Soldat?
Perfiljew: In der Nähe von meinem Wohnhaus versteckten wir uns in einem Erdloch. Da explodierte eine Bombe und tötete alle. Ich wurde herausgeschleudert. Marine-Infanteristen der Nordmeer-Flotte fanden mich. Ich war verletzt. Sie verbanden mich. Später half ich ihnen, schleppte von der Wolga Minen hoch, reinigte sie mit einem Benzin-Lappen. Dann setzte mich der Kommandeur der Einheit, Nikolaj Gawrilowitsch Gluschenko, am Granatwerfer ein. Er war damals 26 Jahre alt. Er machte mich zum Soldaten.
Was hatten sie an?
Perfiljew: Ich hatte einen weißen Tarnumhang, eine Wattejacke, eine Mütze aus Kaninchenfell und Filzstiefel. Die waren am Ofen durchgebrannt. Später holte ich mir von deutschen Soldaten Lederstiefel und eine Walter-Baretta. Die Pistole brachte ich aus dem Krieg mit nach Hause. Lange habe ich sie versteckt. Ljuba - meine Frau - hatte Angst, dass ich sie in einem Streit mit den Nachbarn benutze und überredete mich, sie in die Wolga zu werfen.
Wo kämpften sie?
Perfiljew: Wir kämpften auf dem Mamajew-Kurgan-Hügel, wir vertrieben die Deutschen aus der Fabrik "Roter Oktober". Am zweiten Februar griffen wir das Krankenhaus Iljitscha an. Dort ergaben sich die Deutschen. Oft lagen wir unter dem Feuer des deutschen Raketenwerfers. Er hatte sechs Rohre. Wir nannten ihn Wanjuscha. Es war furchtbar. Man sah, wie diese Raketen flogen. Unser Raketenwerfer hieß Katjuscha.
Woher kamen diese Namen?
Perfiljew: Wanjuscha von dem Vornamen Iwan und Katjuscha von Katja. Warum so zärtlich? Perfiljew: Die Männer in den Schützengräben machten immer Späße. Granatwerfer hießen bei uns Samowar, Granaten - Gurken. So konnte der Feind uns am Telefon nicht verstehen.
Wie war die Kampfmoral?
Perfiljew: Die Soldaten hatten schon keine Lust mehr zu kämpfen. Es war kalt. Öfter als dreimal geht ein Soldat nicht in die Attacke. Entweder man wird verletzt oder getötet. Das ist das Schicksal der Infanterie. In meinem Körper stecken jetzt noch überall Granatsplitter.
Wie wurde gekämpft?
Perfiljew: Wenn geschossen wird, siehst du fast nichts. Du versuchst, den Kopf hinter irgendeiner Leiche zu verstecken. Sobald eine Granate des Gegners eingeschlagen ist, springst du in den Granattrichter, um dich dort drinnen zu schützen. Das erfordert Mut. Meine Kameraden haben es mir vorgemacht. Die Schützengräben waren voller Leichen. Zuerst haben wir die Leichen aus den Gräben geworfen, dann gab es keinen Platz mehr und wir gingen über die Leichen. Sie waren hart gefroren, nur die Bäuche waren noch weich.
Was wissen sie über Deserteure?
Perfiljew: Zwei unserer Majore von der 92. Marineinfanteristen-Brigade, Tarasow und Andrejew, hatten ihre Einheiten verlassen und waren auf eine Wolga-Insel übergesetzt. Es gab allerdings den Befehl, diese Inseln nicht zu betreten. Man fand sie. Der Kommandeur der 62. Armee, Marschall Wassilij Tschujkow persönlich, hat die beiden erschossen.
Gab es Kontakte mit dem Gegner?
Perfiljew: Uns gegenüber lagen zur einen Hälfte Deutsche, zur anderen Hälfte Truppen von General Wlassow, also Russen, außerdem Rumänen, Österreicher und Italiener. Abends gab es Aufrufe: "Legt die Waffen nieder. Ihr habt keine Chance. Macht Schluss mit Stalin - diesem Juden. Ihr werdet gut leben bei uns." Man warf Flugblätter mit Fotos ab: Hitler fährt in offenem Wagen durch Paris. Das Volk jubelt. Aber wir Jungens waren mit Filmen erzogen worden, zum Beispiel über die Matrosen von Kronstadt. Wir waren Patrioten, wir liebten unsere Heimat.
Und nach der Kapitulation?
Perfiljew: Fünf Tage lang sammelten wir Leichen. Wir haben den Toten den Erkennungszettel abgenommen, um die Eltern zu benachrichtigen. Dann haben wir die Leichen gestapelt - Russen und Deutsche - und sie verbrannt.
Was wurde aus Ihnen?
Perfiljew: Mit meinem Kommandeur Gluschenko zog ich weiter. Vor Charkow zerschoss ihm ein Scharfschütze beide Lungenflügel. Ich brachte ihn zum Operationszelt. Dort fiel ich vor Erschöpfung um. Als ich aufwachte, sagte man mir, dass er tot ist. Gluschenko hatte mir seine Medaillen gegeben. Das war nicht erlaubt. Aber er sagte, ich übergebe dir die Orden wie General Suworow, ein Feldherr im 18. Jahrhundert, es gemacht hat. Am 23. August eroberten wir Charkow. Vier Tage später bekam ich von General Tichomirow die Medaille für die Verteidiger Stalingrads.
Warum so spät?
Perfiljew: Es gab vorher einfach keine Gelegenheit. Wir waren im Vormarsch, es starben Soldaten. Jetzt habe ich meine Orden schon über.
Warum?
Perfiljew: Ich habe keine Lust, sie zu tragen. Ich habe einfach genug von ihnen.
veröffentlicht in: Märkische Allgemeine