8. January 2019

Magnitogorsk-Unglück: Leiter des Ermittlungskomitees beklagt Zustand der Gasleitungen in Russland

Screenshot "Life"
Foto: Screenshot "Life"

Nach dem Einsturz eines Plattenbaus im russischen Magnitogorsk, bei dem 39 Menschen starben, steht nun die Suche nach der Ursache im Vordergund. Lag es an der mangelnden Kontrolle alter Gasleitungen, wie sie in weiten Teilen Russlands existieren?

Am Freitag wurden die Sucharbeiten in den Trümmern des teilweise eingestürzten neungeschossigen Plattenbaus in Magnitogorsk eingestellt. Insgesamt 39 Tote wurden bei den Sucharbeiten geborgen. Ebenfalls am Freitag wurden die ersten Opfer beerdigt. Über die Gründe für den Einsturz in der 1.400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Großstadt Magnitogorsk am 31. Dezember wird weiterhin spekuliert. Hauptthese der örtlichen Behörden ist eine Gas-Explosion. Wodurch sie aber ausgelöst wurde, durch eine undichte Leitung oder ein nicht verschlossenes Ventil, ist bisher nicht klar. War es vielleicht auch die mangelnde Wartung alter Gasleitungen in dem zehngeschossigen Wohnhaus?

Sollte es die mangelnde Wartung gewesen sein, würde das die Frage aufwerfen, ob die privaten Unternehmen, die in Russland in den letzten zehn Jahren die Bewirtschaftung von Mehrfamilienhäusern übernommen haben, ausreichend für diese Tätigkeit qualifiziert sind und ob sie vom Staat ausreichend kontrolliert werden. Bis in die 1990er Jahre wurde die Bewirtschaftung von Mehrfamilienhäusern im Großteil der Fälle vom Staat durchgeführt.

Die großen Unglücke der letzten Jahre

Die Kette von Unglücken, bei denen in Russland eine große Zahl von Menschen starben, ist lang. Immer wieder stellte sich dabei heraus, dass eine wirksame staatliche Kontrolle, etwa beim Feuerschutz oder anderen Sicherheitsbestimmungen, Unglücke hätte verhindern können. Immer stärker macht sich bemerkbar, dass große Teil der Infrastruktur in Russland noch aus der Sowjetzeit stammen und eigentlich schon längst hätten erneuert oder ausgewechselt werden müssen.

  • Am 25. März 2018 kam es in einem Einkaufs- und Vergnügungszentrum in der Bergbau-Stadt Kemerowo in Sibirien zu einem Brand. 60 Menschen, darunter 41 Kinder, starben. Die Brandschutzeinrichtungen arbeiteten nicht ordnungsgemäß.
  • Am 7. November 2017 stürzte in der Stadt Ischewsk wegen einer Gasexplosion ein mehrstöckiger Plattenbau teilweise ein. Sieben Menschen starben. Spuren von Sprengstoff wurden nicht gefunden.
  • Am 12. Juli 2015 starben 23 Soldaten nach einem Einsturz eine Kasernen-Baracke in der sibirischen Stadt Omsk.
  • Am 10. Juli 2011 sank auf der Wolga das Ausflugsschiff Bulgaria. Das 1955 gebaute Schiff war veraltet und lief bereits mit Schlagseite aus. 122 Menschen ertranken.
  • Am 5. Dezember 2009 starben bei einem Brand in dem Nachtklub „Hinkendes Pferd“ in Perm 156 Menschen.

Was passierte am Unglückstag in Magnitogorsk?

Am 31. Dezember um 6:02 Uhr morgens erschütterte eine Explosion den Hauseingang Nr. 6 des langgestreckten Wohnhauses. Der zehnstöckige Plattenbau in der Karl-Marx-Straße 164 hat insgesamt zwölf Hauseingänge. Die Wohnungen über dem Eingang Nr. 6 stürzten von der untersten bis zur obersten Etage ein. Durch die Explosion wurden 48 Wohnungen zerstört. „Alles fiel wie ein Kartenhaus zusammen“, sagte einer der Mitarbeiter des Katastrophenministeriums.

Die Wohnungen über den Eingängen Nr. 7 und 8 wurden beschädigt und sollen jetzt abgerissen werden. Die Wohnungen in allen anderen neun Eingängen sind nach Angaben der Behörden unbeschädigt. Demnach kann der Großteil der Menschen in dem langgestreckten Plattenbau weiter in seinen Wohnungen leben. Die Menschen, deren Wohnungen durch die Explosion instabil geworden sind, bekommen andere Wohnungen zur Verfügung gestellt, versicherte die Stadtverwaltung. Am Samstag bekamen diese Bewohner erstmals die Gelegenheit, Wertsachen aus ihren Zimmern abzutransportieren.

Insgesamt wurden 350 Menschen Opfer der Explosion. Sie verloren Angehörige, ihre Wohnungen wurden zerstört oder beschädigt. Familien, die ein Todesopfer zu beklagen haben, bekommen von der Stadt umgerechnet 12.800 Euro. Für Verletzungen werden 5.100 Euro gezahlt. An den Zahlungen für die Opfer der Katastrophe beteiligt sich auch die örtliche Stahlfabrik, die zu den größten Russlands zählt.

Vermutung 1: Gas-Explosion

Das russische Ermittlungskomitee teilte mit, dass es in „alle Richtungen“ ermittelt. Wann man mit dem Ergebnis der Untersuchung zu rechnen ist, wurde offen gelassen. Am 1. Januar, bei einer Besprechung mit den örtlichen Leitern der Sicherheits- und Rettungsdienste, beschrieb der Leiter des russischen Ermittlungskomitees, Aleksandr Bastyrkin, den Zustand des Gas-Systems in Russland mit schonungslosen Worten. Er fragte die versammelten örtlichen Beamten, ob die private Firma, welche für die Kontrolle der Gasleitungen im Haus zuständig ist, korrekt gearbeitet hat. Insbesondere spielte Bastrykin darauf an, dass die Gasleitungen alt seien und deshalb häufig kontrolliert werden müssten:

Sind sie sicher, dass diese Firma in diesem und anderen Fällen alles richtig gemacht hat? Ist in den Nachbarhäusern alles in Ordnung? Wissen Sie, wie es um den Zustand der Gas-Anlagen im Land bestellt ist? Sie sind alt und müssen oft repariert werden. Es ist eine Tatsache, dass seit dem Mai niemand mehr in die Wohnungen in diesem Haus gekommen ist, um diese zu untersuchen.

Die angesprochene private Versorgungsfirma „Gasprom Gasverteilung Tscheljabinsk“ erklärte , die Kontrolle des Hauses in der Karl-Marx-Straße habe „über der Norm“ gelegen. Am 12. Mai 2018 habe man den Druck in den Gasleitungen im Haus geprüft. Dieser Test gehöre nicht zum Standard-Wartungsprogramm. Am 3. Januar erklärte der Bürgermeister von Magnitogorsk, Sergej Berdnikow,  dass man die zuständige Firma angewiesen habe, noch einmal die Gasleitungen in dem teilweise zerstörten Haus sowie in allen Plattenbauten  der Stadt zu überprüfen.

Vermutung 2: Terrorakt

Die örtlichen Internet-Portale 74.ru und Znak.com berichteten am 2. Januar von einem Großraumtaxi des Typs Gazel, das unweit von dem eingestürzten Haus in Flammen aufging. Die Portale brachten dieses Ereignis in Zusammenhang mit dem Gebäudeeinsturz. Angeblich starben in dem Bus drei Terroristen, die von Sicherheitskräften verfolgt wurden. Das habe man von anonymen Quellen aus den Sicherheitsstrukturen erfahren. Bei einer Schießerei zwischen Sicherheitskräften und Terroristen sei ein Gasbehälter in dem Minibus explodiert. Augenzeugen berichteten der Zeitung Moskowski Komsomolez von zwei Explosionen. Auf Fotos sieht man das ausgebrannte Großraumtaxi, welches beim Abtransport fotografiert wurde.

Der Pressedienst der Stadtverwaltung von Magnitogorsk widersprach der Behauptung, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Brand des Minibusses und der Explosion in dem Wohnhaus gibt. Die Stadtverwaltung warnte vor der „Verbreitung von Gerüchten“. Man solle die „Kommentare der Ermittler abwarten“. Beide Ereignisse schienen auf den ersten Blick „zusammen zu gehören“, aber „in Wirklichkeit ist es ganz anders“, erklärte der Gouverneur des Gebietes, Boris Dubrowski, ohne weiter ins Detail zu gehen. Das russische Ermittlungskomitee gab inzwischen bekannt, dass man in den Trümmern des teilweise eingestürzten Wohnhauses keine Spuren von Sprengstoff gefunden hat.

Vermutung 3: Instabiler Gebäudeteil

Ein Reporter von Moskowski Komsomolez kam mit einem Rentner ins Gespräch, der in dem teilweise eingestürzten Haus lebt. Der Mann erklärte, er habe schon lange gefordert, dass die Pfeiler an der Durchfahrt, die durch den Plattenbau führt, verstärkt werden. Sollte einer der Pfeiler von einem Lastwagen gerammt werden, könne das ganze Haus zum Einsturz kommen. Auf Fotos von der Unglücksstelle sieht man unmittelbar neben dem eingestürzten Bereich des Wohnhauses eine quadratische Durchfahrt für Autos und Lastwagen. Der Rentner erzählte, dass er selbst schon einen Plan für die Stabilisierung der Durchfahrt entwickelt habe, bei den Behörden aber auf taube Ohren gestoßen sei. 

Eine weiterer Grund für den Einsturz des Hauses können illegale Baumaßnahmen in den Wohnungen gewesen sein, so der stellvertretende Direktor der örtlichen Baufirma, Juri Karamyschew. Von den vier Wänden der Wohnungen seien drei tragende Wände gewesen. „Auch wenn nur eine Wand ihre Festigkeit verliert, kann sich das auf die anderen Wände auswirken.“ Eine sich entwickelnde Zerstörung habe „unabsehbare Folgen.“

Der Autor dieser Zeilen hat in russischen Plattenbauten schon häufig Wohnungen gesehen, die von ihren Bewohnern auf eigene Faust umgebaut wurden. Derartige Umbauten waren seit den 1990er Jahren ein regelrechter Trend und wurden dem Eindruck des Autors nach oftmals ohne Genehmigungen durchgeführt.

Zur Erinnerung an die Toten von der Karl-Marx-Straße in Magnitogorsk soll vor dem eingestürzten Gebäudeteil ein Denkmal mit deren Namen aufgestellt werden. Auf dem Denkmal soll auch das Bild von dem Helfer angebracht werden, der in der letzten Woche das zehn Monate alte Baby Wanja Fokin aus den Trümmern rettete.

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: RT deutsch

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