Die russische Friedenstruppe soll entlang der Kontaktlinie zwischen aserbaidschanischen und armenischen Streitkräften im Krisengebiet der international nicht anerkannten „Republik Nagorni-Karabach“ (RNK) stationiert werden. Armenische Truppen sollen über den Latschi-Korridor aus Karabach in die Republik Armenien abziehen. Darauf einigten sich am Montag Wladimir Putin, Ilham Alijew und Nikol Paschinjan, die Führer von Russland, Aserbaidschan und Armenien, in einem weitreichenden Waffenstillstandsabkommen.
Das Abkommen trat am 10. November um null Uhr in Kraft. Es wurde am Dienstagmorgen in russischer und später auch in englischer Sprache auf der Webseite des Kreml veröffentlicht.
Wie der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte, wurde der rechtliche Status von Nagorni-Karabach in dem Abkommen nicht definiert. Grundlage für die Regelung des Status von Karabach seien Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates.
Erdogan will mitreden
In dem Abkommen ist nur die Rede von einer russischen Friedenstruppe. Am Dienstagvormittag meldete die Nachrichtenagentur „Aze Sputnik“ jedoch, dass sich Ilham Alijew und Recep Erdogan telefonisch auf ein „russisch-türkisches Zentrum zur Überwachung des Waffenstillstands“ verständigt hätten. Über die Teilhabe der Türkei an der Überwachung des Waffenstillstands steht kein Wort in dem am Montag vereinbarten Abkommen. Doch die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete unter Berufung auf einen anonymen Diplomaten, die Verteidigungsministerien von Russland und der Türkei würden „noch heute“ eine Vereinbarung über die gemeinsame Überwachung des Waffenstillstandsabkommens unterzeichnen.
Drei Bezirke sollen an Aserbaidschan zurückgegeben werden
Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Republik Nagorni-Karabach hatte sich Anfang der 1990er Jahre von Aserbaidschan abgespalten. Im Laufe der Abspaltung besetzten Truppen von Nagorni-Karabach und Armenien auch umliegende Bezirke von Karabach. Drei dieser Bezirke soll die nichtanerkannte Republik nach dem am Montag vereinbarten Waffenstillstandsabkommen nun an Aserbaidschan zurückgeben. Aserbaidschaner, die nach den kriegerischen Auseinandersetzungen Anfang der 1990er Jahre aus diesen Bezirken geflohen sind, sollen nun zurückkehren können.
Ein erstaunlich umfassendes Abkommen
An dem Abkommen, welches sehr detailliert ist, wurde vermutlich schon länger gearbeitet. Dass es nun überraschend in Kraft trat, hat verschiedene Gründe. Militärisch erlitt Armenien in den letzten Wochen nur Niederlagen. Vor wenigen Tagen eroberten aserbaidschanische Streitkräfte die strategisch wichtige Stadt Suscha. Sie liegt nicht weit von Stepanakert, der Hauptstadt von Nagorni-Karabach.
Aserbaidschanische Kräfte hatten am Montag einen russischen Militärhubschrauber, der über ein grenznahes Gebiet im Süden von Armenien flog, abgeschossen. Die aserbaidschanische Führung entschuldigte sich für den Abschuss und erklärte, man werde eine Entschädigung leisten.
Nach dem Abschuss des Hubschraubers – bei dem zwei Piloten starben, einer konnte sich retten – musste Russland handeln. Alles andere hätte man als Schwäche auslegen können. Russland unterhält in Armenien eine Militärbasis. Dem wachsenden türkischen Einfluss auf Aserbaidschan kann Russland zurzeit nichts entgegensetzen. Das Territorium von Armenien, das mit Russland Mitglied des Militärbündnisses ODKB ist, wird Russland aber schützen. Unklar ist, wer sich jetzt für die Menschenrechte der Armenier in den Gebieten einsetzt, die Armenien an Aserbaidschan zurückgibt. Wird das UN-Flüchtlingskommissariat es allein schaffen, die Armenier zu schützen?
Straßenproteste in Jerewan
Der Ministerpräsident Armeniens, Nikol Paschinjan, erklärte öffentlich, er entschuldige sich bei seinen Mitbürgern. Der Text des Abkommens vom Montag sei „schmerzlich“ für ihn und sein Volk. Der Konflikt habe nicht mit einem Sieg geendet, aber es gäbe „keine Niederlage, solange man sich nicht selbst als besiegt erklärt“.
Die Reaktionen auf den Waffenstillstand und die Rückgabe von drei Bezirken von Nagorni-Karabach kontrollierten Bezirken an Aserbaidschan wurde in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, mit Freudenfesten, Auto-Korsos und Fahnenschwenken als Sieg gefeiert.
In Jerewan dagegen gab es Straßenproteste. Demonstranten drangen mit Gewalt in das Parlament und das Regierungsgebäude ein. Der Parlamentssaal wurde verwüstet. Der Sprecher des Parlaments, Ararat Mirsojan, wurde von Demonstranten aus seinem Auto gezogen und zusammengeschlagen. Vor dem Wohnhaus von Ministerpräsident Paschinjan kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten (Fotos aus Baku und Jerewan). Der Sekretär des Sicherheitsrates von Nagorni-Karabach, Samwel Babajan, trat aus Protest gegen das Abkommen vom Montag von seinem Posten zurück. Das Abkommen entspräche „nicht den Realitäten“, erklärte Babajan.
Das Abkommen
Das am Dienstag null Uhr in Kraft getretene Abkommen
Was wird aus Nagorni-Karabach?
Die Lage der „Republik Nagorni-Karabach“ war seit dem Beginn der aserbaidschanischen Angriffe am 27. September 2020 kritisch. Die Streitkräfte von Karabach und Armenien waren den Streitkräften Aserbaidschans unterlegen, da diese mit modernen Drohnen israelischer und türkischer Herstellung beobachteten und mit den Drohnen auch gezielte Luftschläge gegen armenische Stellungen und Militärgerät ausführten. Auf Seiten der aserbaidschanischen Armee kämpften auch hunderte von syrischen Extremisten, welche mit Hilfe der Türkei nach Aserbaidschan geschafft worden waren.
Ob die russische Friedenstruppe aserbaidschanische Racheaktionen gegen Armenier verhindern kann, ist unklar. Unklar ist auch, ob Nagorni-Karabach ohne die Unterstützung armenischer Truppen als quasi-unabhängiges Territorium innerhalb der Republik Aserbaidschan überleben kann. Alijew und Erdogan hatten in den letzten sechs Wochen ja unaufhörlich erklärt, Nagorni-Karabach werde komplett wieder in den aserbaidschanischen Staatsverband eingegliedert. In Moskau scheut man sich vor lautstarken Erklärungen zum Schutz der Armenier in Nagorni-Karabach.
Ulrich Heyden
veröffentlich in: Nachdenkseiten