In der Ukraine sind es Sicherheitsstrukturen und Ultranationalisten, welche Trauerkundgebungen in Odessa am 2. Mai permanent behindern, aus Angst, es könnte zu Protestkundgebungen gegen die Regierung in Kiew kommen. Ultranationalisten mischen sich immer wieder in Gruppen von Trauernden vor dem Gewerkschaftshaus oder räumen Blumen weg, die vor dem Gebäude niedergelegt wurden. 2015, am ersten Jahrestag des Brandes, hatten sich bei einer spontanen Trauerkundgebung vor dem Gewerkschaftshaus mehrere Tausend Menschen versammelt. So etwas soll es nach dem Willen der ukrainischen Regierung in Odessa nicht mehr geben.
In Deutschland waren es die großen Medien, welche über das Massaker von Odessa kaum oder nur oberflächlich berichteten und so taten, als ob es sich bei dem Brand um eine Verkettung unglücklicher Umstände, nicht aber um eine Einschüchterungsmaßnahme gegen die Opposition in Odessa handelte, welche den nationalistischen Kurs der neuen Regierung in Kiew nicht mitmachen und gute Beziehungen zu Russland aufrechterhalten wollte.
Alljährliche Waffenschau der Polizei vor dem Gewerkschaftshaus
Eine würdige Trauer um die Opfer gibt es in Odessa bis heute nicht. Fast jedes Jahr gibt es das gleiche Ritual. Wenige Tage vor der alljährlichen Trauerveranstaltung vor dem Gewerkschaftshaus machen die ukrainischen Sicherheitskräfte auf dem Kulikow-Feld, einem Platz vor dem Gewerkschaftshaus, eine große Waffenschau.
Auch in diesem Jahr, am 30. April, wurden vor dem Gewerkschaftshaus modernste Ausrüstung und mit neuester Technik für den Einsatz im Innern ausgerüstete Truppen der Polizei und der Sondereinsatzkräfte gezeigt (Fotos). An der Schau nahmen 700 Polizisten und Mitglieder von Sondereinheiten, 50 gepanzerte Spezialfahrzeuge und 14 Diensthunde teil. Die Demonstration staatlicher Gewalt soll zeigen, dass die Innenbehörde keine regierungskritischen Kundgebungen in der Stadt zulassen will.
Kein einziger russischer Staatsbürger unter den Toten im Gewerkschaftshaus
Nach der Sichtweise der radikalen Maidan-Aktivisten und ihrer politischen Unterstützer in Kiew handelte es sich bei dem Angriff auf das Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 um eine notgedrungene „Reinigungsaktion“ gegen „von Russland gelenkte Separatisten und Terroristen“, welche wie vorher in Donezk und Lugansk einen Umsturz in Odessa herbeiführen wollten. Allerdings befand sich unter den 42 Toten, die im Gewerkschaftshaus erstickten, verbrannten oder beim Sprung aus dem brennenden Gebäude starben, kein einziger Russe und kein einziger Bürger der von der Republik Moldau abgespaltenen Republik Transnistrien, die von Kiew als Nest anti-ukrainischer Bestrebungen verdächtigt wird.
Wer waren die Toten im Gewerkschaftshaus? Es handelte sich um einfache Bürger, die verschiedenste Berufe hatten. Unter ihnen waren Studenten, Schlosser, Musiker und politische Aktivisten. Sie alle hatten seit dem Staatsstreich in Kiew auf Demonstrationen in Odessa und Kundgebungen vor dem Gewerkschaftshaus für eine Föderalisierung der Ukraine, gegen die Abschaffung der russischen Sprache als zweite Staatssprache und für gute Beziehungen mit Russland demonstriert. Auf einer Demonstration am 30. März 2014 durch Odessa riefen die Menschen Parolen wie: „Haut ab ihr Bandera-Teufel!“, „Der Faschismus kommt nicht durch!“ und „Russland, Russland!“.
Die Rechtsradikalen werden am 2. Mai in Odessa wieder marschieren
Für den Abend des 2. Mai 2019 ist wieder ein Marsch der Rechtsradikalen durch die Stadt geplant. Letztes Jahr kam es zu einem Eklat, als die Vorsitzende des Rechten Sektors, Tatjana Soikina, am Ende des Marsches rief, die Ukraine müsse „den Ukrainern gehören und nicht den Juden und Oligarchen“.
In den vergangenen Jahren kam es mehrere Male vor, dass am 2. Mai der Zugang zum Gewerkschaftshaus für Stunden gesperrt wurde, weil es auf dem Platz vor dem Gebäude angeblich eine Bombenwarnung gab. Immer wieder kommt es auch vor, dass am 2. Mai Hausdurchsuchungen bei Oppositionellen in Odessa stattfinden. All diese Maßnahmen dienen dazu, die Menschen in der Stadt einzuschüchtern und von einer Teilnahme an der Trauerveranstaltung abzuhalten.
Es kommt auch vor, dass man verhindern will, dass ausländische Gäste an der Veranstaltung teilnehmen. Ende April 2016 bekamen der Autor dieser Zeilen und der Berliner Journalist Saadi Isakow am Flughafen von Odessa fünfjährige Einreiseverbote für die Ukraine in ihre deutschen Pässe gestempelt. Ein Protest des deutschen Auswärtigen Amtes blieb aus.
Saadi Isakow hatte mit Oleg Musyka, einem Überlebenden des Massakers von Odessa, ein längeres Interview für den „Europa Express“ geführt. Der Autor dieser Zeilen hatte 2015 zusammen mit dem Berliner Videokollektiv Leftvision den Film „Lauffeuer“ über den Brand im Gewerkschaftshaus gemacht. Der Film wurde auf verschiedenen Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum gezeigt und erreichte hohe Zugriffszahlen im Internet. Die großen deutschen Medien und vor allem das deutsche Fernsehen ignorierten den Film jedoch komplett.
Die Angst vor dem Thema war in den deutschen Medien so groß, dass auch der Film „Odessa ohne Mythen“ keinen Weg ins deutsche Fernsehen fand. Dieser Film, gemacht von einem Autorenkollektiv aus Odessa, war als Antwort auf „Lauffeuer“ gedacht. In dem Streifen wurde der Brand im Gewerkschaftshaus als Ergebnis unglücklicher Umstände heruntergespielt und eine geplante Aktion zur Einschüchterung der Opposition ausgeschlossen.
Das deutsche Fernsehen schaut lieber weg
Bis auf Andrej Hunko und einige andere Abgeordnete der Partei Die Linke wurde der Brand im Gewerkschaftshaus von den Abgeordneten im Bundestag komplett ignoriert. Auch die Menschenrechtsorganisationen in Deutschland und anderen westlichen Ländern schweigen zu dem Thema seit fünf Jahren. Über unseren Film „Lauffeuer“ berichteten nur linke Medien und die Deutschen Wirtschaftsnachrichten.
Als ich Anfang dieses Jahres alle Sendeanstalten der ARD anschrieb mit der Bitte, unseren Film „Lauffeuer“ anlässlich des fünften Jahrestages des Brandes zu zeigen, erhielt ich zwar von drei Sendern (Radio Bremen, Rundfunk Berlin-Brandenburg und Südwestrundfunk) Empfangsbestätigungen, doch die Dokumentarfilm-Redaktionen der Sender nahmen keinen Kontakt mit mir auf.
Unmittelbar nach dem Massaker in Odessa erschienen in deutschen Mainstream-Printmedien noch Artikel über die Katastrophe am 2. Mai 2014 in Odessa. Aber diese Artikel blendeten den politischen Hintergrund komplett aus. Es wurde verschwiegen, dass es sich bei dem Massaker um eine von führenden ukrainischen Politikern wie Andrej Parubi und dem Oligarchen Igor Kolomoiski geplante Aktion handelte, welche die regierungskritische Bewegung in Odessa stoppen sollte.[1]
Das wichtigste Ziel der Regierung in Kiew war es, zu verhindern, dass weitere Gebiete der Ukraine sich vom Zentrum abspalten. Odessa als wichtigste Hafenstadt der Ukraine kam bei diesen Überlegungen eine besondere Bedeutung zu. Schiffe der US-Marine legen immer wieder in Odessa an, was zeigt, dass die Stadt eine große militärstrategische Bedeutung hat.
Medien-Kontrolle in Deutschland besonders streng
Schaut man sich in der westlichen Welt um, dann stellt man fest, dass es in den letzten Jahren keine kritischen Filme über die Entwicklung in der Ukraine im deutschen Fernsehen gab, aber im Fernsehen anderer westlicher Länder schon. Der französische „Canal+“ etwa zeigte am 1. Februar 2016 den Film von Paul Moreira „Ukraine: les masques de la révolution“. In dem Film wird herausgearbeitet, dass Nazis und Ultranationalisten beim Machtwechsel in Kiew im Februar 2014 und bei dem Angriff auf das Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014 eine Schlüsselrolle spielten. Die Regierung in Kiew hatte den französischen Privat-Kanal gebeten, den Film nicht zu zeigen, jedoch ohne Erfolg.
Die Situation um den Brand in Odessa ist eine Schande für Europa. Doch es gibt auch Erfolge.
1. Erfolg: Kommission des Europarates kritisiert schleppende Aufklärung
Ein Erfolg derjenigen, welche sich für eine schonungslose Aufklärung der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa einsetzten, war der am 4. November 2015 vorgelegte Bericht einer Kommission des Europarates. In dem Bericht wurde in deutlichen Worten bemängelt, dass die Untersuchungen zu den Ereignissen am 2. Mai von den ukrainischen Behörden verschleppt werden und es keine wirklich unabhängige Institution gibt, welche das Verhalten der Polizei und der Feuerwehr untersucht.
Die Kommission kritisierte auch, dass es keine gründliche Untersuchung gab, dass hohe Beamte ein Treffen mit Mitgliedern der Kommission des Europarates verweigerten und die Ermittlung insgesamt nicht den Standards des Europäischen Gerichtes entsprechen. Der sehr kritische Bericht fand auch in deutschen Mainstream-Medien Beachtung, geriet dann jedoch sehr schnell wieder in Vergessenheit.
Nach Video-Dokumenten und Zeugenaussagen war es so, dass am Morgen des 2. Mai 2014 auf dem Bahnhof von Odessa für den Straßenkampf ausgerüstete Maidan-Anhänger mit Sonderzügen aus Kiew und Charkow ankamen. 500 militante Maidan-Anhänger waren bereits seit Tagen von Gouverneur Wladimir Nemirowski provisorisch untergebracht worden, offenbar in Bereitschaft für den „Tag X“.
Am frühen Nachmittag des 2. Mai 2014 begann auf dem Griechischen Platz im Stadtzentrum von Odessa zwischen 3.000 Maidan-Anhängern und 500 Anti-Maidan-Aktivisten eine Straßenschlacht, bei der sechs Menschen, zwei Mitglieder des Maidan und vier Aktivisten des Anti-Maidan, starben. Die Todesumstände sind bis heute nicht aufgeklärt.
Oppositionelle in Odessa vermuten, dass die sechs Personen von Scharfschützen erschossen wurden, mit dem Ziel, die Empörung der Maidan-Demonstranten anzustacheln und ihren Hass auf das oppositionelle Zeltlager vor dem Gewerkschaftshaus zu lenken, was dann am Abend des 2. Mai vom rechten Mob abgebrannt wurde.
Bis heute ist nicht ermittelt, warum die Polizei bei der Straßenschlacht nur mit 200 Mitarbeitern im Einsatz war und vor dem Gewerkschaftshaus überhaupt nicht eingriff. Unklar ist auch, warum die Feuerwehr erst mit 40 Minuten Verspätung anrückte. Anrufe von erregten Bürgern wurden abgewimmelt, nach Aussagen von Zeugen auf Anweisung von Vorgesetzten der Feuerwehrleute.
2. Erfolg: Freilassung von 18 Anti-Maidan-Aktivisten
Einen zweiten Erfolg der Opposition in Odessa gab es am 18. September 2017, als 20 Häftlinge des Anti-Maidan vom Ilitschewski-Gericht in Odessa ohne Schuldspruch freigelassen wurden. Das heißt, die 20 jungen Männer saßen drei Jahre schuldlos in Haft. Zwei Aktivisten des Anti-Maidan – Sergej Dolschenkow und Jewgeni Mefjodow – kamen nach ihrer Freilassung jedoch gleich wieder in Haft und warten nun schon seit fünf Jahren auf ihr Urteil. Gegen Mefjodow wird nun wegen „Separatismus“ ermittelt. Beide bestreiten eine Schuld.
Die 20 jungen Männer waren am 2. Mai 2014 während der Straßenschlacht zwischen Maidan- und Anti-Maidan-Anhängern auf dem Griechischen Platz im Stadtzentrum wegen dem „Schüren von Massenunruhen“ verhaftet worden. Für die Macht in Kiew waren die 20 Häftlinge vom Griechischen Platz der „lebende Beweis“, dass die ukrainischen Justizorgane „wegen den Unruhen am 2. Mai in Odessa“ ermitteln. Doch mit dem Verfahren gegen die 20 Häftlinge wurde nur abgelenkt von dem Hauptschauplatz der Auseinandersetzungen, dem Gewerkschaftshaus, wo wesentlich mehr Menschen umkamen, als auf dem Griechischen Platz.
Warum unterlag die Opposition in Odessa?
Odessa ist eine russischsprachige Stadt und seit ihrer Gründung im Jahr 1794 durch die Zarin Katharina die Große eng mit der russischen Kultur verbunden. Dass es der Opposition in der Stadt trotz Demonstrationen mit bis zu 30.000 Teilnehmern im Frühjahr 2014 – im Gegensatz zu den Städten Lugansk und Donezk – nicht gelang, sich über einen längeren Zeitraum zu behaupten, hängt nach Meinung von Igor Polovnev, einem Überlebenden der Brandkatastrophe im Gewerkschaftshaus, damit zusammen, dass die Opposition in Odessa zersplittert war und die Odessa weit entfernt von Russland liegt.
Polovnev, der jetzt als politischer Flüchtling in Russland lebt, erklärte im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen: „Die Parolen, die auf dem Maidan geäußert wurden, entsprachen überhaupt nicht meiner Weltanschauung und verletzten mich als Mensch in meiner Persönlichkeit. Denn ich bin Russe, ungeachtet der Tatsache, dass ich Bürger der Ukraine bin. Ich lebte und arbeitete in der Ukraine. Meine Kinder gingen auf eine ukrainische Schule. Meine Kinder lernten die ukrainische Sprache und Kultur. Das ist unser Land. Und es ist nicht richtig, dass die Zukunft des Landes von einer Gruppe von Schuften entschieden wird.“
Ulrich Heyden
veröffentlicht in: Nachdenkseiten
[«1] Über die Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa und die politischen Hintergründe empfehle ich mein Buch „Ein Krieg der Oligarchen. Das Tauziehen um die Ukraine“, Papyrossa Verlag 2015, S. 69-118