Spiegel Online berichtet über den Orban-Besuch unter dem Titel „Dubiose Diplomatie“, so als hätten sich im Kreml zwei Verschwörer getroffen. Die Reise nach Moskau sei „propagandistisch nach allen Regeln der Kunst inszeniert“ worden, schrieb SPON: News des Tages: Regierung einigt sich beim Haushalt, Viktor Orbán, Wladimir Putin – DER SPIEGEL. Orban sei „wohl kaum der richtige Emissär, ihm (Putin) authentisch (…) die Ansichten europäischer Länder zum Krieg in der Ukraine“ zu schildern. Orban nutze den EU-Vorsitz, um „Verwirrung zu stiften“, schrieb die Ministerpräsidentin von Estland und designierte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas auf X.
Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedjew, erklärte auf X, „die Hysterie der europäischen Oberidioten wegen des Besuches von Ministerpräsident Orban in Moskau und seines Treffens mit Präsident Putin bestätigen, dass die EU und ihre Chefs in den USA Krieg brauchen und nicht Frieden“.
Wladimir Putin hatte wohl schon geahnt, dass wegen des Besuchs von Orban in Moskau in einigen Hauptstädten Westeuropas ungezügelte Wut aufkommt. Offenbar um schon im Vorwege mögliche Vorwürfe auszuräumen, erklärte Putin nach dem drei Stunden dauernden Gespräch mit dem ungarischen Premier auf der anschließenden Pressekonferenz (Text und Video auf Russisch), „natürlich hat der Herr Ministerpräsident den uns bekannten westlichen Standpunkt dargelegt und auch die Sichtweise der Ukraine. Nichtsdestotrotz sind wir dem Herrn Ministerpräsidenten dankbar für seinen Besuch in Moskau.“ Der Besuch des Ministerpräsidenten sei „der Versuch, den Dialog wieder aufzunehmen und ihm einen zusätzlichen Impuls zu geben“.
Putin: „Ukraine als Rammsporn“
Der russische Präsident erklärte, es sei wichtig „dass in der heutigen, nicht einfachen geopolitischen Situation der Dialog fortgesetzt wird“. Das Gespräch mit dem Gast aus Ungarn sei „nützlich und offen“ gewesen.
Weiter erklärte Putin, „wir waren immer und bleiben weiter offen für eine Erörterung einer politisch-diplomatischen Regulierung“. Aber nach dem, was er von Orban gehört habe, sei Selenski nicht bereit, sich vom „Krieg bis zum Sieg“ zu verabschieden. „Die Sponsoren der Ukraine versuchen, das Land und sein Volk als Rammsporn zu nutzen.“ Kiew sei zu einem Waffenstillstand nicht bereit, „weil es in diesem Fall keinen Grund mehr für das Kriegsrecht gibt“. Bei Wahlen in der Ukraine, die längst hätten stattfinden müssen, hätte die Führung der Ukraine „wegen ihrer sinkenden Popularität so gut wie keine Chancen“.
Putin bekräftigte seinen Vorschlag für einen Frieden in der Ukraine, den er Mitte Juni vorgestellt hatte. Vorbedingung für einen Frieden sei „der vollständige Abzug der ukrainischen Truppen aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk und aus den Gebieten Saporoschje und Cherson“. Es gäbe noch „weitere Bedingungen“, aber das sei dann Gegenstand „der möglichen gemeinsamen Arbeit“.
Der russische Präsident Putin erwähnte, dass er mit dem ungarischen Ministerpräsidenten auch über die wirtschaftliche Zusammenarbeit gesprochen habe. Dabei ging es um die Zusammenarbeit im medizinischen und pharmazeutischen Bereich sowie den Bau des fünften und sechsten Blocks im ungarischen Atomkraftwerk Paks. Der Erweiterungsbau war 2014 zwischen Orban und Putin in einem Vertrag vereinbart worden.
Orban: „Der Frieden kommt nicht von selbst“
Orban erklärte auf der Pressekonferenz nach dem dreistündigen Gespräch mit Putin, „die wichtigste Aufgabe in dem nächsten halben Jahr unseres EU-Vorsitzes ist unserer Meinung nach der Kampf für den Frieden“. Der Krieg habe für Europa „große Schwierigkeiten“ gebracht. „Wir sehen das Bild von Zerstörung und Leiden. Dieser Krieg wirkt sich schon auf unser Wirtschaftswachstum und unsere Konkurrenzfähigkeit aus.“
Weiter sagte Orban, „der Frieden kommt nicht von selbst. Für den Frieden muss man arbeiten.“ Ungarn sei „wahrscheinlich bald das einzige Land in Europa, welches sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine spricht“. Vom russischen Präsidenten habe er wissen wollen, „welches der kürzeste Weg zur Beendigung des Krieges ist“ und „welche Sicht er auf Europa nach dem Krieg hat“.
Der ungarische Premier erklärte, „aus meiner Erfahrung weiß ich, dass die Positionen sehr weit voneinander entfernt sind. Man muss sehr viele Schritte tun, um zu einem Ende des Krieges zu kommen.“
Auf der Pressekonferenz in Moskau konnten Journalisten keine Fragen stellen. Als Orban jedoch zurück nach Ungarn flog, hatte Roger Köppel, der Korrespondent der Schweizer Weltwoche, die Gelegenheit, mit Orban zu sprechen. In dem Interview, welches die Weltwoche am Sonnabend in englischer Sprache und als Video veröffentlichte, erzählte Orban ein paar interessante Details aus seinem Gespräch mit Putin.
Der ungarische Premier erzählte, dass er seine Reise nach Moskau, so lange es ging, geheimgehalten habe, weil die Kommunikation von „einigen big guys“ überwacht werde. Von Kiew aus habe er seinem Außenminister eine Botschaft zukommen lassen, dass er die Reise nach Moskau vorbereiten soll. Erst als das ungarische Außenministerium eine Überflugerlaubnis für Polen beantragte, sei die Reise bekannt geworden.
Weiter behauptete Orban, Putin habe im Gespräch erklärt, dass der russische Friedensvorschlag vom April 2022 noch Grundlage für Gespräche sein kann.
Drittens erzählte der ungarische Premier, Putin habe sich zu dem Vorschlag eines Waffenstillstands noch vor einer endgültigen Friedensregelung, „nicht optimistisch“ geäußert. Die Ukraine werde eine solche Situation für sich militärisch ausnutzen. Er – Orban – habe daraufhin gesagt, „jeden Tag sterben junge Männer (auf dem Schlachtfeld). Denken Sie darüber nach. Werfen Sie es nicht weg!“
Russisches Fernsehen frohlockt
Am Freitag landete das Flugzeug von Orban auf dem Moskauer Regierungsflughafen Wnukowo. In der populären Fernseh-Talk-Show „60 Minuten“ wurde die gerade laufende Debatte mit immer neuen Einblendungen zum Orban-Besuch unterbrochen. Mal zeigte man Orban in einem Standbild von hinten, wie er vom Rollfeld auf das Gebäude des legendären Regierungsflughafens Wnukowo zuschreitet. Gut im Bild zu sehen war der kyrillsche Schriftzug am Gebäude „Moskwa“. Dann wurden immer wieder Bilder eingeblendet, wie die Wagenkolonne von Orban in hohem Tempo durch eine extra gesperrte Straße in der Moskauer Innenstadt zum Kreml fährt.
Zunächst war nicht bekannt, ob es nach dem Gespräch der beiden Staatsführer eine Pressekonferenz geben wird. Ein russischer Kommentator meinte, Orban würde nicht so weit gehen, seine politische Initiative auch noch gemeinsam mit Putin vor den Pressevertretern vorzutragen. Doch genau das passierte, wenn auch in einer abgespeckten Variante. Die beiden Staatsführer trugen die Gesprächsergebnisse vor, beantworteten aber nicht, wie es auf solchen Pressekonferenzen üblich ist, Fragen der Journalisten. Nur einem Journalisten gelang es, eine Frage zu stellen. Er wollte von Orban wissen, wie Selenski auf den Vorschlag von Orban für einen Waffenstillstand reagiert hat. Orban antwortete, „das habe ich Putin erzählt“. Mehr wollte der ungarische Premier nicht verraten. Er bewegte sich zielstrebig zum Ausgang der Pressekonferenz.
Talk-Show-Moderatorin: „Wir wollen nur ausgeglichene Beziehungen“
Olga Skabejewa, Moderatorin der Talk-Show „60 Minuten“, zitierte mit triumphierender Stimme Kommentare westlicher Politiker, die sich negativ über die Reise von Orban nach Moskau äußerten. Die westlichen Politiker hätten Orban „schon verurteilt, bevor er überhaupt nur den Mund aufgemacht hat“, erregte sich die Moderatorin.
In der Talk-Show ging es gerade um die Wahlergebnisse in verschiedenen europäischen Ländern. Ein russischer Diskutant erklärte, die Patrioten in der EU (gemeint waren wohl Le Pen und AfD) seien im Grunde genauso russland-feindlich wie die EU-Liberalen, die jetzt reihenweise Wahlniederlagen erlitten haben.
Moderatorin Skabejewa konterte, „Ungarn verurteilt den russischen Einmarsch in die Ukraine, gibt Kiew aber kein Geld. Diese Haltung gefällt uns.“ Weiter erklärte die Moderatorin, „wir brauchen nicht (mit EU-Staaten) befreundet zu sein. Uns gefällt die Variante Orban, das heißt, wenn es ausgeglichene Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil gibt und kein Geld in die Ukraine geschickt wird. Mehr wollen wir nicht von Europa.“
Der Besuch des ungarischen Premiers brachte etwas Hoffnung in die russische Hauptstadt. Aber lange wird diese Hoffnung wohl nicht vorhalten. Denn auf dem nächsten NATO-Gipfel in Washington vom 9. bis zum 11. Juli werden wohl neue Drohungen gegen Russland ausgesprochen werden.
veröffentlich in: Nachdenkseiten