2. April 2014

Ostukraine: Sehnsucht nach Stabilität

Die ostukrainische Stadt Donezk lag einst im industriellen Herz der Sowjetunion. Heute droht der Stadt ein weiterer wirtschaftlicher Niedergang. Viele fordern mehr Unabhängigkeit oder gar den Anschluss an Russland.

Von Ulrich Heyden, Donezk

Rund 7000 prorussische DemonstrantInnen haben sich letzten Sonntag auf dem Leninplatz der ostukrainischen Stadt Donezk versammelt. «Referendum!», schreien sie, und: «Russland, Russland!» Einige halten Plakate hoch, die den nach Russland geflohenen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch auffordern, in die Ukraine zurückzukommen – um «Ordnung zu schaffen».

Für eine Stadt wie Donezk mit ihren 950 000 EinwohnerInnen ist eine Demonstration von 7000 Leuten nicht überwältigend. Doch wer mit den Menschen in Donezk und anderen Orten der Ostukraine spricht, merkt schnell, dass wohl eine Mehrheit ein Referendum wünscht, bei dem über eine föderalere Ukraine abgestimmt werden kann. Auch eine engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Russland wollen viele. Die Umwälzungen in ihrem Land haben die Menschen verunsichert. Wiktor Janukowitsch hatte bei der Wahl zum Staatspräsidenten vor allem im Osten Mehrheiten geholt. Jetzt glaubt man hier, Leute aus der Westukraine seien an der Macht. Janukowitsch wurde durch einen Aufstand auf dem Maidanplatz in Kiew gestürzt, bei dem, meinen viele, vor allem Rechtsextreme ihre Hände im Spiel hatten.

Auch die fünfzig Jahre alte Lehrerin Nina demonstriert heute mit. Die Plakate, die die Rückkehr des gestürzten Präsidenten Janukowitsch fordern, stören sie nicht. «Er hat geklaut, aber er hat dem Volk auch etwas gegeben», sagt sie. «Wir sind es gewohnt, dass sich unsere Präsidenten persönlich bereichern.» Ein grosses Plus unter Janukowitsch sei gewesen, dass die Gehälter gestiegen und immer pünktlich ausgezahlt worden seien.

Obwohl man es den Menschen nicht ansieht, können sich hier viele nur mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen. Löhne von 130 Franken pro Monat sind keine Seltenheit. Zu den Besserverdienenden zählen die Bergarbeiter mit Monatslöhnen zwischen 390 und 550 Franken. Allerdings sind ihre Arbeitsplätze akut bedroht, und mit dem Arbeitsschutz nehmen es die UnternehmerInnen nicht sehr genau (vgl. «Gewaschene Leichen auf dem Feld» im Anschluss an diesen Text). «Pro Monat gibt es in den Kohlebergwerken sechs bis sieben Tote infolge von Arbeitsunfällen», sagt Marina Charkowa, Chefredaktorin der Wirtschaftszeitung «Krjasch». Die ständige Lebensgefahr mache die Arbeiter besonders entschlossen, glaubt sie.

Die Bedingungen der Kreditgeber

Dass es den Menschen in der Ukraine wirtschaftlich schon bald noch schlechter gehen wird, ist absehbar. Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten Wochen rasant gestiegen. Um Kredite des Internationalen Währungsfonds und der EU zu bekommen, hat die neue Regierung in Kiew bereits ein massives Sparprogramm angekündigt. Die Gaspreise für Privatkunden sollen ab dem 1. Mai in einem ersten Schritt um fünfzig Prozent erhöht werden. Ausserdem fällt die Ermässigung bei den Mietnebenkosten für einkommensschwache BürgerInnen weg, und den Staatsangestellten werden die Lohnzuschläge gestrichen. Die Lehrerin Nina etwa wird in Zukunft statt 2500 Griwna nur noch 2000 Griwna (162 Franken) im Monat verdienen. Gleichzeitig wird ihre Stundenzahl von 18 auf 24 erhöht – ohne Gehaltsausgleich, versteht sich.

Wenn die Verarmung in der Ukraine zunehme, werde sich die Teilnehmerzahl an den prorussischen Demonstrationen in der Ostukraine erhöhen, ist Chefredaktorin Charkowa überzeugt. Russland steht hier für höhere Löhne und Renten, als es sie in der Ukraine gibt. Und der grosse Nachbar wird als Hort der Stabilität gesehen. Hunderttausende UkrainerInnen arbeiten seit Jahren in Russland auf dem Bau, in Handwerksbetrieben und im Dienstleistungsbereich.

Will die Mehrheit in der Ostukraine also einen Anschluss an Russland? Derzeit sind solche Forderungen auf den Demonstrationen eher selten. «Die Ukraine müsste eine Föderation werden», sagt denn auch Nina. Man erhofft sich davon neben mehr Autonomie auch, dass die Staatseinnahmen aus dem vergleichsweise reichen Osten in der Region bleiben. Auch die Linksorganisation Borotba (Kampf), deren Vorläuferorganisation sich 2004 von der Kommunistischen Partei Ukraine (KPU) abgespalten hat, fordert ein Referendum zur Föderalisierung. Werde es das nicht geben, will die Organisation die Präsidentschaftswahl am 25. Mai boykottieren. Dass Kiew allerdings ein Referendum zulässt, ist so gut wie ausgeschlossen. Ein Sieg der FöderalistInnen würde nur diejenigen Kräfte stärken, die letztlich den Anschluss der Ostukraine an Russland zum Ziel haben, glaubt man dort.

Für viele Menschen in Donezk gibt es keine klare Abgrenzung zwischen der Forderung nach Föderalisierung und der Vereinigung mit Russland. Einige sprechen auch deshalb von Förderalisierung, weil sie befürchten, mit einer Anschlussforderung als StaatsfeindInnen kriminalisiert zu werden. Zwanzig AktivistInnen von prorussischen Organisationen wurden schon verhaftet.

Nina sagt unumwunden: «Wir wollen jetzt nur noch nach Russland.» Und bezogen auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin ergänzt sie: «Das ist jemand, der sich um sein Volk kümmert.»

Nelken für die Polizei

Die 7000 prorussischen Demonstrierenden ziehen vom Leninplatz im Stadtzentrum von Donezk zum Denkmal für die Befreier des Donezbeckens. Mit dem gigantischen Monument aus dem Jahr 1986 wird der Partisaninnen und Soldaten gedacht, die das Donezbecken im Zweiten Weltkrieg von nazideutschen Truppen befreiten. Die KundgebungsteilnehmerInnen legen rote Nelken für die vor vierzig Tagen in Kiew getöteten Polizisten der Spezialeinheit Berkut am Denkmal nieder. Für die Opfer unter den Maidan-DemonstrantInnen gibt es dagegen kein Mitgefühl. Die Maidan-AktivistInnen gelten bei vielen als Umstürzler, die schuld daran seien, dass man jetzt in Unsicherheit leben müsse und in Kiew nun Faschisten mit in der Regierung sässen.

Es gibt in Donezk jedoch auch AnhängerInnen des Maidan, die für eine Annäherung an die EU eintreten und Russland gegenüber skeptisch eingestellt sind. Sie kommen eher aus der Mittelschicht und aus intellektuellen Berufen. Da sind zum Beispiel Wlad und Anja. Die beiden sind ein Paar und studieren Jura. Den Protest der prorussischen Kräfte wegen der geplanten Abschaffung von Russisch als Amtssprache halten die beiden für «völlig übertrieben». «Die Sprache wird im Alltag immer wichtig bleiben», meint Anja. Die beiden freuen sich über die Solidarität einfacher Menschen in der EU, etwa dass TangotänzerInnen in Berlin für die Opfer von Polizeigewalt auf dem Maidan Geld gesammelt haben. «Das ist sehr nett», meint Anja. Dass die Proteste in Kiew erfolgreich waren, glauben die beiden allerdings nicht. «Die Macht ist neu, aber der Staatsapparat ist der alte geblieben», sagt Wlad. Anja nickt zustimmend.

Die sonntägliche Demonstration führt auch am neuen Fussballstadion von Donezk vorbei. Das kreisrunde Gebäude sieht wie ein Ufo aus und ist nachts hellblau erleuchtet. Den Bau finanzierte der Oligarch Rinat Achmetow (vgl. «Plutokraten gegen Emporkömmlinge»), dem die Holding Systems Capital Management gehört und der auch den Fussballklub Schachtar Donezk sponsert. Kaum ist die Fussballarena in Sicht, kommen bei den DemonstrantInnen neue Sprechchöre auf. Sie schreien jetzt: «Achmetow, Volksfeind!»

Der Oligarch, der in den neunziger Jahren nach dem Ende der Sowjetunion auf undurchsichtige Weise zu Reichtum gekommen war, hatte am 2. März eine indirekt gegen Russland und die prorussischen Kräfte in der Ukraine gerichtete Erklärung veröffentlicht. Er zeigte sich so als Wendehals: Als Janukowitsch noch an der Macht war, wurde er von Achmetow unterstützt.

Nach Meinung von Chefredaktorin Charkowa wartet die Wirtschaftselite in Donezk zurzeit ab, wer im Machtkampf um die Ukraine siegt: «Die Ukraine ist ein Kampffeld der EU, Russlands, der USA und Chinas. Sobald der Sieg feststeht, wird die Elite die Bedingungen des Siegers übernehmen.» Die Mitglieder von Janukowitschs entmachteter Partei der Regionen hätten Angst, dass ihre Kinder entführt und ihre Häuser in Kiew geplündert würden. «Und sie haben Angst, dass fremde Oligarchen und fremde, hungrige Nationalisten den Besitz der hiesigen Elite unter sich aufteilen.» Diese Angst sei stärker als die Verantwortung vor den WählerInnen. Deshalb hätten viele wohlhabende Abgeordnete die Partei der Regionen verlassen.

Die Industrieregion Donezk war immer ein Schmelztiegel der Nationalitäten. Es kamen Arbeitskräfte aus allen Teilen der Sowjetunion, Russinnen, Ukrainer, Tatarinnen, Kaukasier, Griechinnen und Deutsche. Man trifft in Donezk Menschen mit ukrainischsprachigen Eltern, die Russland als ihre Schutzmacht gegen «die Faschisten in Kiew» bezeichnen.

An der Fernstrasse von Donezk nach Luhansk flattern Fahnen von rund dreissig prorussischen AktivistInnen im Wind, die hier eine Art Kontrollposten eingerichtet haben. «Wir wollen rechtzeitig wissen, wann Militärs oder Rechtsextreme vom Rechten Sektor kommen», sagt Andrej. Der 35. Bauarbeiter will aus Angst vor staatlichen Repressalien seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen. Bisher haben die AktivistInnen noch kein Auto angehalten. Die Polizei behindere die selbst organisierte Wache nicht, die nur fünfzig Meter neben dem Gebäude der Verkehrspolizei steht.

Selbst organisierte Kontrollen gibt es auch an anderen Orten im Donezkgebiet. So blockieren seit Mitte März Hunderte von AnwohnerInnen den Salzschacht Wolodarski in der Nähe des Orts Artjomowsk. Dort befindet sich schon seit Sowjetzeiten eines der grössten Lager von Schusswaffen der ukrainischen Streitkräfte. Den Anwohnenden war aufgefallen, dass Lastwagen grosse Mengen von automatischen Schusswaffen abtransportierten. Weil sie fürchteten, dass mit den Waffen nicht nur die neue ukrainische Nationalgarde, sondern auch der Rechte Sektor ausgerüstet wird, blockierten sie den Abtransport. Seither bleiben die Waffen im Lager.

Die Wache an der Strasse nach Luhansk wird vom stämmigen Unternehmer Dmitri geleitet. Der 32-Jährige hat ganz persönliche Gründe, warum er den Wachposten unterstützt. Die 270 Mitarbeiter seiner Firma reparieren Öfen in den Grossbetrieben, die Stahl schmelzen. Ausserdem baut Dmitris Firma veraltete Industriebauten ab.

Seit die Protestbewegung in Kiew das politische System des Landes ins Wanken gebracht und schliesslich gestürzt hat, hat Dmitri grosse Probleme. Der Export der Grossbetriebe im Gebiet Donezk, die Stahl, Gasherde und Maschinen nach Russland liefern, stockt. Die Wirtschaft sei im Niedergang, und auch die Aufträge für seine Firma gingen zurück, sagt Dmitri. Abgewickelte Aufträge würden nicht bezahlt. Der Unternehmer will, dass es in der Ukraine endlich Stabilität gibt.

Während Dmitri erzählt, parkt ein Minibus mit einem grossen Stalin-Porträt an der Hecktür. Der Fahrer wird von den AktivistInnen mit lautem Hallo begrüsst. Stalin steht «wegen seiner Strenge», wie ein KPU-Mitglied erklärt, bei Kommunistinnen und prorussischen Aktivisten zurzeit hoch im Kurs. Viele Ältere wissen auch noch, wie die Stadt Donezk bis 1961 hiess: Stalino.

Illegaler Kohlebergbau

Gewaschene Leichen auf dem Feld

Im Morgennebel sieht man links und rechts der Landstrasse riesige metallurgische Fabriken mit 180 Meter hohen Schornsteinen und 200 Meter hohen kegelförmigen Abraumhalden der Bergwerke. Viele der Bergwerke wurden wegen Unrentabilität geschlossen. Die Dörfer um sie herum mit ihren viergeschossigen Mehrfamilienhäusern sterben allmählich aus, erzählt Aljoscha (Name geändert). Der 32-Jährige hat im Städtchen Schachtjorsk vierzig Autominuten östlich von Donezk einen Internetladen. Vor wenigen Jahren habe der Ort 72 000 EinwohnerInnen gehabt, jetzt seien es nur noch 62 000.

Im Laden von Aljoscha sitzt Oleh (Name geändert). Sein Gesicht hat eine merkwürdige graubraune Farbe. Seine Stimme ist tief und rau. Oleh hat acht Jahre in einem von einem Privatunternehmer geführten Schacht gearbeitet und dabei seine Gesundheit ruiniert. Den Mundschutz hat er nicht immer benutzt, «weil sich dieser während der Arbeit mit Wasser vollsaugte», wie er sagt. Früher war er einmal Boxer, aber jetzt muss Oleh beim Treppensteigen immer eine Pause einlegen. Wenn man ihn fragt, was für einen Traum er habe, sagt er: «Dass es meinen Kindern» – er hat zwei Töchter – «einmal besser geht.»

Von der Stilllegung vieler Bergwerke profitieren die Geschäftsleute, die die kleinen, illegalen Fördergruben – sogenannte Kopanki – betreiben. In diesen wird bis zwölf Meter unter der Erde Kohle gefördert. Rund um die Stadt Schachtjorsk sind die zahlreichen illegalen Fördergruben mit ihren mehrere Meter hohen Aufbauten und Metallzäunen mit blossem Auge zu sehen. Nach Angaben von Michail Wolynez, dem Vorsitzenden der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine (NPGU), gibt es allein im Raum Donezk 2000 illegale Fördergruben.

Nach Schätzungen wird in diesen inzwischen ein Drittel der Donezk-Kohle gefördert. Es werden zwar immer wieder Gruben von der Polizei geschlossen, aber es entstehen sofort neue. Arbeitswillige gibt es genug. Die AnwohnerInnen von Schachtjorsk berichten, dass immer wieder frisch gewaschene Leichen auf den Feldern gefunden werden. Das seien Arbeiter, die in den schlecht gesicherten illegalen Gruben umgekommen seien. Zwischen 1991 und 2011 starben dort nach Angaben der NPGU 5800 Menschen.

Dass das Geschäft mit den Kopanki blüht, hat einen einfachen Grund: Nicht nur Geschäftsleute, sondern auch Staatsanwälte, Polizistinnen und hohe Beamte betreiben die illegalen Kohleschächte, so erzählt man sich in Schachtjorsk. Täglich sehe man in der Stadt die Zwanzigtonnenlaster mit illegal geförderter Kohle vorbeifahren. An den Kontrollstellen der Verkehrspolizei müssten die Fahrer eineinhalb Franken Schmiergeld entrichten.

Ulrich Heyden

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-LeserInnen.
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