Hätte man die MarkthändlerInnen von Tiflis gefragt, ob um Südossetien Krieg geführt werden soll, wäre es wohl nicht zum Waffengang gekommen. Mit wem man auch ins Gespräch kommt - von Kriegsbegeisterung ist hier, wo Kinderschuhe aus der Türkei und Elektronik aus China gehandelt werden, nichts zu spüren. Tiflis ist eine multinationale Stadt. Hier leben nicht nur GeorgierInnen, sondern auch ArmenierInnen, AserbaidschanerInnen, KurdInnen und RussInnen.
Opfer der russischen Bomben
Natürlich ist der Uhrenhändler Gennadij sauer auf die Russen. Der Flughafen von Tiflis wurde bombardiert. «Wozu?» Gennadij wohnt direkt neben dem Flughafen. Für die russischen Berufssoldaten, die Kontraktniki, die irregulären Kosakeneinheiten und ossetischen Freischärler hat er nur Verachtung übrig. Gemäss Berichten des georgischen Fernsehens ziehen diese plündernd und mordend durch die Dörfer zwischen Gori und Zchinwali. Russische Soldaten würden sogar Kloschüsseln wegschaffen. Das Fernsehen zeigt immer wieder Bilder, auf denen ein Plünderer zu sehen ist: «Wir leben wie Obdachlose, und die leben wie Könige», sagt er. Den Satz kennen hier inzwischen alle. Russische Barbaren eben.
Es gibt in der Stadt fanatische Anhänger von Präsident Michail Saakaschwili. Aber es gibt auch eine Opposition. Im November letzten Jahres brachte sie fast 100 000 DemonstrantInnen auf die Strasse. Saakaschwili liess sie mit Tränengas auseinander treiben, schloss den einzigen unabhängigen Fernsehsender und verhängte den Ausnahmezustand. Kacha Kukawa, Generalsekretär der Konservativen Partei, die zum Bündnis von neun Oppositionsparteien gehört, das die Demonstrationen organisiert hatte, klagt: «Die georgische Opposition wird in Europa kaum wahrgenommen.» In den USA sei die Aufmerksamkeit grösser, sagt er der WOZ. Seit Kriegsausbruch ist die Opposition verstummt. Solange russische Truppen im georgischen Kernland sind, verzichten die OppositionsführerInnen auf jede Kritik an Saakaschwili, sagt Kukawa. Georgij Chaindrawa, der früher Minister für die Reintegration der abtrünnigen Provinzen war, von Saakaschwili aber 2006 entlassen wurde, ist der Einzige, der es noch wagt, den Mund aufzumachen. Allerdings kann man seine Interviews nur in der deutschen Presse lesen. Die georgischen Medien befinden sich völlig unter staatlicher Kontrolle. Chaindrawa sagt, der Angriff auf Zchinwali sei ein «Verbrechen am eigenen Volk» gewesen.
Nach allem, was Saakaschwili auch von Mainstreammedien in Westeuropa schon an Kritik einstecken musste, war dann doch verblüffend, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Georgien Hoffnung auf einen Nato-Beitritt machte. Georgien sei ein «freies, unabhängiges Land», sagte Merkel bei ihrem Besuch in Tiflis am letzten Sonntag: «Georgien wird, wenn es das will, Mitglied der Nato werden» - wohl wissend, dass im April am Nato-Gipfel in Bukarest die Einleitung eines Aufnahmeverfahrens für Georgien der ungeklärten Territorial¬fragen wegen verschoben wurde. Kritische Worte zur Beschiessung der Stadt Zchinwali durch georgische Artillerie vermied die Kanzlerin.
Merkels Orden für Saakaschwili
Angela Merkel bewegt sich auf gefährlichem Terrain. Das Angebot einer Nato-Mitgliedschaft ist nach dem Angriffskrieg in Südossetien nichts anderes als ein Orden für Michail Saakaschwili, der sich trotz der militärischen Niederlage damit bestätigt fühlen kann. In Moskau wird man die Nato-Zusicherung der Kanzlerin als Affront auffassen.
Wer in Tiflis Nachrichten empfangen will, ist auf die einseitigen georgischen Fernsehmeldungen angewiesen. Gegenstimmen kommen kaum zu Wort. Die Übertragung der russischen Fernsehkanäle und das gesamte russische Internet wurden abgestellt. Mehrmals täglich tritt der georgische Präsident Michail Saakaschwili im Fernsehen auf, manchmal mit einem Flüchtlingskind auf dem Arm. Er geifert gegen die Besatzer - von Friedenswillen ist nichts zu spüren.
Die Zugehörigkeit der abtrünnigen Provinzen zu ihrem Land ist für die GeorgierInnen so selbstverständlich, dass sie nicht weiter begründet werden muss. Dass es bisher kein realistisches Konzept zu deren Rückgewinnung gibt, stört niemanden. «Das ist unsere Erde», hört man immer wieder - als ginge es nicht um die Menschen. Sollen die Provinzen also einfach militärisch zurückerobert werden, ohne Dialog mit der dortigen Bevölkerung? Sascha, ein junger Mann mit polnisch-jüdischen Wurzeln, der in einem Internetcafé arbeitet, sieht da keine Schwierigkeiten: «Mit der Bevölkerung dort wird es keine Probleme geben, wenn erst mal die Russen weg sind.» Dass die BewohnerInnen der abtrünnigen Gebiete bewusst russische und nicht georgische Pässe gewählt haben, wird von den meisten GeorgierInnen schlicht übersehen. So erscheint die Rückführung der abtrünnigen Gebiete als rein militärisch-strategische Aufgabe. Dass Georgien vielleicht nur Spielball der USA und Russlands ist, auch das ist in Tiflis bisher kein Thema.
Wodka gegen die Angst
Der achtzehnjährige Ökonomiestudent Sura war im Krieg. Am 8. August - einen Tag nach Beginn der Kampfhandlungen - wurde er eingezogen, obwohl er nur eine Grundausbildung von zwanzig Tagen hinter sich hatte. Er bekam einen Kampfanzug, ein Gewehr und wurde mit seinem Bataillon nach Gori geschickt. Eigentlich findet es Sura nicht richtig, dass man kaum ausgebildete Männer losschickte. «Aber was sollen wir denn machen, wir sind 4 Millionen, die Russen sind 150 Millionen», rechtfertigt er die Befehle der georgischen Militärs. Gekämpft hat er dann aber nicht, nur Objekte und Gelände bewacht.
«Wir hatten Angst», erzählt Sura, «weil wir nichts tun konnten.» Russische Kampfbomber hätten sie mit Raketen beschossen. Die Geschosse hinterliessen metertiefe Krater. Nachts sei die Angst so gross gewesen, dass die Offiziere Wodka-Flaschen an die jungen Soldaten verteilten. Später seien die Kommandanten dann abgehauen und hätten die Jungs alleine gelassen. Vier Tage war der Achtzehnjährige im Krieg, davon vier Stunden in Zchinwali. Auch dort konnten die jungen Männer ohne Kampferfahrung eigentlich nur herumstehen.
Der Krieg hat Spuren hinterlassen
Schlafen kann Sura nur mit Medikamenten. «Wir haben gehofft, dass die Amerikaner kommen», sagt Sura. Denn dass das kleine Georgien gegen das grosse Russland nicht siegen kann, sei von Anfang an klar gewesen. «Gegen Russland kann man nicht gewinnen», sagt Sura, «mit Russland muss man irgendwie auskommen. Wir können Georgien nun mal nicht nach Amerika versetzen.»
Samstag, 16. August. Am Stadtrand von Tiflis formiert sich eine Autokolonne mit JournalistInnen, ihr Ziel ist Gori. Im Örtchen Igojeti, 45 Kilometer von Tiflis entfernt, wird der Konvoi von russischen Soldaten gestoppt. Am Strassenrand stehen Panzer. Auf einem davon flattert die russische Fahne. Im Schatten von ein paar Bäumen sitzt eine Gruppe georgischer Polizisten. Sie tragen Pistolen am Gürtel, manche halten lässig Gewehre amerikanischer Herkunft im Arm. Sie warten auf irgendetwas. Die georgischen Truppen wurden in die Militärbasen beordert und sind nirgendwo zu sehen. Die russischen Kommandanten vor Ort scheinen auch nicht genau zu wissen, wie es weitergehen soll. Kampfgeist oder Stolz spricht nicht aus ihren Gesichtern. Sie wirken vor allem müde. Die Sonne brennt unbarmherzig. Wenn niemand hinsieht, nimmt ein russischer Soldat auch mal einen Schluck Wasser aus der Flasche eines georgischen Journalisten. Der Aussenposten bei Igojeti markiert den bisher weitesten Vorstoss der russischen Truppen in das georgische Kernland. Wadim, ein 22-jähriger russischer Soldat aus dem nordkaukasischen Naltschik, der eine viel zu weite Militärhose trägt, schimpft: «Wir laufen hier herum wie die Affen. Wir können uns nicht mal rasieren.» Ein anderer meint: «Wozu brauchen wir Krieg? Wir wollen, dass der Waffenstillstand unterschrieben wird.» Den jungen Soldaten stört allerdings, dass mit dem Waffenstillstand nicht gleichzeitig die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien anerkannt wird. Plötzlich geht einer der georgischen Polizisten zum russischen Kommandanten, der im Schatten eines Hauses die Lage beobachtet, und fragt: «Haben Ihre Leute die Gegend hier vermint?» Der Russe will zunächst nicht mit der Sprache raus, antwortet dann aber mit einem unwirschen «Njet».
Mythos Stalin
Irgendwann dürfen die JournalistInnen weiterfahren. Der Konvoi passiert ausgebrannte georgische Panzerwagen und zahlreiche russische Panzer, die am Strassenrand Stellung bezogen haben. An der Stadtgrenze von Gori kommt die Kolonne erneut zum Stehen. Vier russische Panzer haben sich neben der Strasse postiert, manche sind mit Zweigen getarnt. «Ich bin stolz, dass ich in Gori bin», sagt ein älterer Soldat der russischen Armee, der seinen Namen nicht nennen will. Stalins Geburtsstadt übt immer noch Anziehungskraft aus. «Natürlich wäre es schöner, wenn ich ohne Waffe, mit meiner Frau und meinen beiden Kindern gekommen wäre», sagt der Mann, der früher Bauarbeiter in Dagestan war. «Irgendetwas» ziehe ihn zur Armee, gesteht er.Die wenigen GeorgierInnen, die noch rund um die Stadt leben, versuchen, mit den russischen Truppen ins Gespräch zu kommen. Der 67-jährige Dschemal unterhält sich mit einem Soldaten und verspricht ihm eine Kiste Pfirsiche im Tausch für russische Zigaretten. Eine Friedensidylle direkt an der Front. Dschemal erzählt, dass GeorgierInnen und OssetInnen in seinem Dorf südlich von Gori früher friedlich zusammengelebt hätten. Was er zum Krieg meint? «Die Luft reicht für alle zum Atmen. Was fehlt, ist der Verstand.» Plötzlich knattern Gewehrsalven, offenbar aus einem Schützenpanzerwagen. Die JournalistInnen zucken erschreckt zusammen, manche laufen. Noch frisch in Erinnerung ist das Bild einer georgischen Fernsehkorrespondentin, der am Wochenende hier am Stadtrand von Gori während eines Liveberichts in den Arm geschossen wurde. Die Episode läuft ständig auf den georgischen Fernsehkanälen - als Beweis für die Aggressivität der Russen.
Noch viele Fragezeichen
Selbst wenn der Waffenstillstand in Georgien hält und die russischen Truppen aus dem georgischen Kernland abziehen, gibt es noch mehrere Klippen zu umschiffen. So war in der vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy erarbeiteten Sechs-Punkte-Waffenstillstandsvereinbarung nicht klar formuliert, wie breit die Sicherheitszone sein soll, die Russland südlich von Südossetien zugestanden wird.
Es gibt weitere Konfliktpunkte: Russland hat verkündet, es werde in den abtrünnigen georgischen Provinzen militärisch stark präsent bleiben. Es beruft sich dabei auf Bitten der Regionalpräsidenten von Südossetien und Abchasien. Bisher war Russland in Abchasien mit 3000 Friedenssoldaten, in Südossetien mit einem Kontingent von 500 Mann vertreten. Während der fünftägigen Kampfhandlungen befanden sich etwa 10 000 russische Soldaten und 150 Panzer in Georgien. Und noch ein Streit ist absehbar: Für Saakaschwili sind die russischen, schon vor dem Krieg stationierten Friedens¬soldaten nicht neutral; er möchte sie durch eine internationale Friedenstruppe ersetzen, was aber weder die abtrünnigen Gebiete noch Russland akzeptieren wollen.
veröffentlicht in: "Die Wochenzeitung" (Zürich)