5. August 2022

Putin am Ende? (Junge Welt)

Andrew Kelly/REUTERS, Gefahr für die westliche Zivilisation? Statue des russischen Staatschefs im Central Park in New York (2.8.2022)
Foto: Andrew Kelly/REUTERS, Gefahr für die westliche Zivilisation? Statue des russischen Staatschefs im Central Park in New York (2.8.2022)

Aus: Ausgabe vom 06.08.2022, Seite 8 / Ausland

LINKE DEBATTE

Ukraine-Krieg und die russische Linke: Anmerkungen zu Äußerungen des Soziologen Boris Kagarlizki (Teil 1 von 2)

Von Ulrich Heyden, Moskau

Boris Kagarlizki ist eine der weltweit bekanntesten linken Stimmen aus Russland. Der 1958 geborene Soziologe ist Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen in Moskau und äußert sich regelmäßig in internationalen Publikationen zu den politischen und sozialen Verhältnissen in Russland. Er schrieb unter anderem auch für die junge Welt. In den 80er Jahren war er eine führende Persönlichkeit einer marxistisch orientierten Dissidenz in der Sowjetunion, Anfang der 90er ging er kurzzeitig in die Politik. Es sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen. (jW)

Wie die russische Linke sich zum Ukraine-Krieg positioniert, ist in Deutschland weitgehend unbekannt. Eine wichtige Stimme in der russischen Linken ist der Soziologe Boris Kagarlizki. Auf seine Thesen zum Ukraine-Krieg, die der bekannte Linke und Chefredakteur des russischen Videoportals Rabkor in einem am 22. Juli veröffentlichten Interview gegenüber dem Magazin Jacobin darlegte, möchte ich im folgenden eingehen. An dieser Stelle erscheint der erste Teil, in der Ausgabe am Montag folgt der zweite und letzte Teil.

Kagarlizki malt ein düsteres Bild von Russland. Das Land sei gefesselt von Unwissenheit, Angst und Repression. Der Krieg gegen die Ukraine sei ein Mittel des Kremls, von dem Problem abzulenken, dass für Wladimir Putin, der seit 2000 mit kurzer Unterbrechung im Amt ist, kein Nachfolger gefunden wurde. Putin »hat Krebs und einige andere Krankheiten. Das sind natürlich Gerüchte, aber jeder auf der Straße kennt sie«. Der Soziologe erhärtet diese Gerüchte, die von westlichen Medien und russischen Liberalen geschürt werden, nicht mit Fakten.

Russlands wirtschaftliche Probleme versuche die Führung des Landes, durch Expansion und militärische Einsätze in Syrien und in der Ukraine zu übertünchen. Mit der Waffenproduktion solle die Wirtschaft am Laufen gehalten werden. Weil der Krieg in der Ukraine nicht so erfolgreich sei, wie Putin es sich gewünscht habe, könne es zu einer »Spaltung des Militärs« und einem Militärputsch kommen. Bei einer allgemeinen Mobilisierung werde es in Russland zu einer »Rebellion« kommen. Auch zu diesen Vermutungen fehlen die Fakten.

Die Russland-Sanktionen des Westens verurteilt der Soziologe nicht. Das »effektivste Instrument« im Rahmen der Sanktionen sei – so der Soziologe – der Rückzug ausländischer Unternehmen aus Russland. Einige Sanktionen, wie die Maßnahmen gegen die russische Kultur, spielten allerdings »Putin in die Hände«, weil »die Isolation genau die Ideologie des Regimes ist«. Die Position von Kagarlizki deckt sich in der Frage der Sanktionen mit der Position des radikalen Flügels der russischen Liberalen, die alles befürworten, was Putin schadet. Es fällt auf, dass der Soziologe zu den diktatorischen Zuständen in der Ukraine, zur Schlüsselrolle der USA in dem Land und zu den westlichen Waffenlieferungen an Kiew kein Wort verliert.

Kagarlizki meint, in der russischen Elite werde es wegen des langsamen Vorrückens der russischen Armee in der Ukraine und den Auswirkungen der Sanktionen zu Streit kommen. Ob es schon zu Streit gekommen ist, kann der Soziologe nicht sagen. Meiner Meinung nach werden die Schwierigkeiten im Krieg in der Ukraine die russische Elite und die Bevölkerung eher zusammenschweißen als trennen. Der Westen ist im Hinblick auf Sicherheitsgarantien zu keinerlei Zugeständnissen an Russland bereit, und die russische Bevölkerung nimmt das sehr genau wahr und sieht sich als Opfer westlicher Maßlosigkeit.

Das nachsowjetische Russland hat im übrigen schon ganz andere Krisen durchgestanden. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre drohte – ausgehend vom Tschetschenien-Krieg – ein Zerfall Russlands. 1996 musste die russische Armee nach einer Niederlage aus der Kaukasusrepublik abziehen. Vier Jahre lang – bis zur Rückeroberung von Grosny im Jahre 2000 – gab es in Tschetschenien weder russische Justiz, Polizei noch Militär. Aber Russland hat diese Krise – durch das Eingreifen von Putin – überlebt, ohne Revolution und Militärputsch.

Mit seinen Äußerungen reiht sich Kagarlizki ein in die Anti-Putin-Front, die sich unter westlichen Linken und Liberalen gebildet hat. Unter Linken in Deutschland und anderen Ländern der EU ist es modern geworden, nicht die USA, sondern Putin als Gefahr für die westliche Zivilisation zu verdammen.

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek erklärte in einem am 21. Juni in der britischen Tageszeitung The Guardian veröffentlichten Interview, man könne dem russischen Einmarsch in die Ukraine »nicht mit Pazifismus begegnen«. Der Ukraine könne nur geholfen werden, wenn man »für eine stärkere NATO« sei. »Vom linken Standpunkt kämpft die Ukraine für die globale Freiheit, inklusive der Freiheit der Russen.«

veröffentlicht in: Junge Welt

 

Aus: Ausgabe vom 08.08.2022, Seite 6 / Ausland

UKRAINE-KRIEG

Spekulationen statt Fakten

Ukraine-Krieg und die russische Linke: Anmerkungen zu Äußerungen des Soziologen Boris Kagarlizki (Teil 2 und Schluss)

Von Ulrich Heyden, Moskau

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Maksim Blinov/IMAGO/SNA

Eher an ihren Haustieren als an politischen Problemen interessiert? Bewohner von Moskau am Sonnabend

 

Boris Kagarlizki ist eine der weltweit bekanntesten linken Stimmen aus Russland. Der 1958 geborene Soziologe ist Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen in Moskau und äußert sich regelmäßig in internationalen Publikationen zu den politischen und sozialen Verhältnissen in Russland. Er schrieb unter anderem auch für die junge Welt. In den 80er Jahren war er eine führende Persönlichkeit einer marxistisch orientierten Dissidenz in der Sowjetunion, Anfang der 90er ging er kurzzeitig in die Politik. Es sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen. (jW)

Weder der slowenische Philosoph Slavoj Zizek noch Politiker der Partei Die Linke – die bei jeder Gelegenheit vom »völkerrechtswidrigen Krieg Putins« sprechen – machen sich die Mühe zu erklären, welche Freiheit es eigentlich in der Ukraine zu verteidigen gibt. Ist die Kommunistische Partei der Ukraine nicht seit 2014 verboten? Mussten im Februar 2021 nicht alle oppositionellen Fernsehsender der Ukraine wegen »Russland-Freundlichkeit« schließen? Ist die russische Sprache im öffentlichen Leben nicht seit Januar 2021 verboten? Forderte Präsident Wolodimir Selenskij im August 2021 nicht, alle Menschen in der Südostukraine, die sich zu Russland hingezogen fühlen, sollten dorthin übersiedeln? Wurde nicht im März 2022 die einzige große regierungskritische Partei – die Oppositionsplattform – verboten und ihr Leiter Wiktor Medwedtschuk danach vom ukrainischen Geheimdienst SBU entführt? Weder Zizek noch Kagarlizki äußern sich zu den Zuständen unter Selenskij.

Enttäuschte Erwartungen

Kagarlizki hat in Interviews, die ich mit ihm in den 2000er Jahren führte, wiederholt die Meinung vertreten, die russische Bevölkerung habe einen »Hang zum Sozialismus«. Diese Einstellung sei nicht parteigebunden. Die Einschätzung deckte sich mit meinen Erfahrungen.

Doch nun, da die russische Bevölkerung mehrheitlich zum Krieg in der Ukraine schweigt oder ihn befürwortet, vollzieht Kagarlizki einen radikalen Schwenk. Er behauptet nun, die Russen würden sich eher für ihre Haustiere als für politische Probleme interessieren. Nicht mehr als 20 Prozent der Bevölkerung hätten eine politische Meinung.

Nach meinem Eindruck haben alle Menschen in Russland eine Meinung zum Krieg. Doch man äußert diese nur im Familien- oder Freundeskreis und ungern bei Umfragen von Meinungsforschungsinstituten. Denn niemand hat Lust, missverstanden oder als Freund der USA angeschwärzt zu werden. Wozu sich öffentlich zum Krieg äußern, wo doch überall vor ausländischen Agenten gewarnt wird, sagen sich wohl viele.

Dass in der Ukraine Menschen sterben, sehen die meisten Russen als Folge dessen, dass Kiew acht Jahre lang Krieg gegen den Donbass geführt hat. Die meisten Russen vertrauen Putin, dass er das Land durch die schwierige Zeit führt.

Dass Kagarlizki 80 Prozent der Bevölkerung als »unpolitisch« abstempelt, hat mit den hohen Erwartungen des Soziologen zu tun. Schon seit zehn Jahren prophezeit er spontan ausbrechende Massenunruhen. Dass es diese bisher nicht gab, hat meiner Meinung nach weniger mit dem restriktiven Demonstrations- und Versammlungsrecht zu tun, sondern mit der Angst vor Chaos und Revolution. Bei Putin weiß man, was man hat. Bei einem Nawalny oder Chodorkowskij weiß man das nicht.

Die Emigration

Kagarlizki malt mit kräftigen Farben. »Vier Millionen Menschen« hätten seit »seit Beginn der ›Sonderoperation‹« das Land verlassen. Doch nach offiziellen russischen Angaben sind 340.000 Russen emigriert.

Der russische Grenzschutz nannte die Zahl von 3,88 Millionen Menschen, die Russland im ersten Quartal dieses Jahres verlassen haben. Sie verließen Russland als Urlauber, politische Emigranten, als Studenten, aus geschäftlichen und anderen Gründen. Nach der offiziellen russischen Statistik sind 80 Prozent der nach der »Sonderoperation« abgereisten Bürger Russlands wieder zurückgekehrt. Im Ausland blieben nicht 3,88 Millionen, sondern 776.000 Bürger des Landes.

Doch von denen, die im Ausland blieben, sind 436.000 – also mehr als die Hälfte – immer noch Teil des russischen Arbeitsmarkts, weil sie Urlaub genommen haben oder im Ausland als IT-Experten für ausländische oder russische Firmen arbeiten.

Man muss wissen: Russische IT-Experten, die für westliche Firmen arbeiten, bekommen ihre Honorare seit März nicht mehr über russische Bankkonten, weil die meisten russischen Banken vom Westen sanktioniert wurden. Außerdem gibt es in Russland das Problem, dass man westliche Software oft nicht mehr hochladen kann.

Ich möchte die Lage in Russland nicht schönschreiben. Es gibt Probleme. Ohne Fakten über angeblich nahende Massenunruhen und Streit in der politischen Führung zu spekulieren, bringt keine Klarheit über die realen Zustände in Russland. Letztlich sind solche Spekulationen nur Begleitmusik zur Anti-Russland-Kampagne des Westens.

veröffentlicht in: Junge Welt

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