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Eher an ihren Haustieren als an politischen Problemen interessiert? Bewohner von Moskau am Sonnabend
Boris Kagarlizki ist eine der weltweit bekanntesten linken Stimmen aus Russland. Der 1958 geborene Soziologe ist Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen in Moskau und äußert sich regelmäßig in internationalen Publikationen zu den politischen und sozialen Verhältnissen in Russland. Er schrieb unter anderem auch für die junge Welt. In den 80er Jahren war er eine führende Persönlichkeit einer marxistisch orientierten Dissidenz in der Sowjetunion, Anfang der 90er ging er kurzzeitig in die Politik. Es sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen. (jW)
Weder der slowenische Philosoph Slavoj Zizek noch Politiker der Partei Die Linke – die bei jeder Gelegenheit vom »völkerrechtswidrigen Krieg Putins« sprechen – machen sich die Mühe zu erklären, welche Freiheit es eigentlich in der Ukraine zu verteidigen gibt. Ist die Kommunistische Partei der Ukraine nicht seit 2014 verboten? Mussten im Februar 2021 nicht alle oppositionellen Fernsehsender der Ukraine wegen »Russland-Freundlichkeit« schließen? Ist die russische Sprache im öffentlichen Leben nicht seit Januar 2021 verboten? Forderte Präsident Wolodimir Selenskij im August 2021 nicht, alle Menschen in der Südostukraine, die sich zu Russland hingezogen fühlen, sollten dorthin übersiedeln? Wurde nicht im März 2022 die einzige große regierungskritische Partei – die Oppositionsplattform – verboten und ihr Leiter Wiktor Medwedtschuk danach vom ukrainischen Geheimdienst SBU entführt? Weder Zizek noch Kagarlizki äußern sich zu den Zuständen unter Selenskij.
Kagarlizki hat in Interviews, die ich mit ihm in den 2000er Jahren führte, wiederholt die Meinung vertreten, die russische Bevölkerung habe einen »Hang zum Sozialismus«. Diese Einstellung sei nicht parteigebunden. Die Einschätzung deckte sich mit meinen Erfahrungen.
Doch nun, da die russische Bevölkerung mehrheitlich zum Krieg in der Ukraine schweigt oder ihn befürwortet, vollzieht Kagarlizki einen radikalen Schwenk. Er behauptet nun, die Russen würden sich eher für ihre Haustiere als für politische Probleme interessieren. Nicht mehr als 20 Prozent der Bevölkerung hätten eine politische Meinung.
Nach meinem Eindruck haben alle Menschen in Russland eine Meinung zum Krieg. Doch man äußert diese nur im Familien- oder Freundeskreis und ungern bei Umfragen von Meinungsforschungsinstituten. Denn niemand hat Lust, missverstanden oder als Freund der USA angeschwärzt zu werden. Wozu sich öffentlich zum Krieg äußern, wo doch überall vor ausländischen Agenten gewarnt wird, sagen sich wohl viele.
Dass in der Ukraine Menschen sterben, sehen die meisten Russen als Folge dessen, dass Kiew acht Jahre lang Krieg gegen den Donbass geführt hat. Die meisten Russen vertrauen Putin, dass er das Land durch die schwierige Zeit führt.
Dass Kagarlizki 80 Prozent der Bevölkerung als »unpolitisch« abstempelt, hat mit den hohen Erwartungen des Soziologen zu tun. Schon seit zehn Jahren prophezeit er spontan ausbrechende Massenunruhen. Dass es diese bisher nicht gab, hat meiner Meinung nach weniger mit dem restriktiven Demonstrations- und Versammlungsrecht zu tun, sondern mit der Angst vor Chaos und Revolution. Bei Putin weiß man, was man hat. Bei einem Nawalny oder Chodorkowskij weiß man das nicht.
Kagarlizki malt mit kräftigen Farben. »Vier Millionen Menschen« hätten seit »seit Beginn der ›Sonderoperation‹« das Land verlassen. Doch nach offiziellen russischen Angaben sind 340.000 Russen emigriert.
Der russische Grenzschutz nannte die Zahl von 3,88 Millionen Menschen, die Russland im ersten Quartal dieses Jahres verlassen haben. Sie verließen Russland als Urlauber, politische Emigranten, als Studenten, aus geschäftlichen und anderen Gründen. Nach der offiziellen russischen Statistik sind 80 Prozent der nach der »Sonderoperation« abgereisten Bürger Russlands wieder zurückgekehrt. Im Ausland blieben nicht 3,88 Millionen, sondern 776.000 Bürger des Landes.
Doch von denen, die im Ausland blieben, sind 436.000 – also mehr als die Hälfte – immer noch Teil des russischen Arbeitsmarkts, weil sie Urlaub genommen haben oder im Ausland als IT-Experten für ausländische oder russische Firmen arbeiten.
Man muss wissen: Russische IT-Experten, die für westliche Firmen arbeiten, bekommen ihre Honorare seit März nicht mehr über russische Bankkonten, weil die meisten russischen Banken vom Westen sanktioniert wurden. Außerdem gibt es in Russland das Problem, dass man westliche Software oft nicht mehr hochladen kann.
Ich möchte die Lage in Russland nicht schönschreiben. Es gibt Probleme. Ohne Fakten über angeblich nahende Massenunruhen und Streit in der politischen Führung zu spekulieren, bringt keine Klarheit über die realen Zustände in Russland. Letztlich sind solche Spekulationen nur Begleitmusik zur Anti-Russland-Kampagne des Westens.
veröffentlicht in: Junge Welt