12. June 2012

Razzia im Morgengrauen

Erst lässt Kremlchef Wladimir Putin die Strafen für Verstöße bei Protesten drastisch erhöhen, nun folgt der nächste Tiefschlag gegen die russische Opposition. Am Montagmorgen stürmen Dutzende Ermittler und schwer bewaffnete Polizisten die Wohnungen führender Regierungsgegner in Moskau.

Die Aktion war perfekt vorbereitet. Morgens standen die Mitarbeiter des staatlichen Ermittlungskomitees zeitgleich vor den Wohnungstüren von zehn führenden Vertretern der Protestbewegung, die dem Kreml seit den Duma-Wahlen im Dezember Kopfzerbrechen bereitet und heute zu einer Großdemonstration im Stadtzentrum aufgerufen hat.

Alle Handys der betroffenen Personen wurden abgeschaltet. Trotzdem gelang es dem bekannten Blogger Aleksej Nawalni noch ein paar Twitter-Meldungen abzusetzen. Man habe „fast die Tür zersägt“, schrieb Nawalni. Die Ermittler seien dann bis ins Kinderzimmer vorgedrungen und hätten aus der Wohnung „alles Elektronische“ mitgenommen. Sogar CDs mit Familienfotos und ein T-Shirt hätten sie konfisziert, schreibt Nawalny. Grund sei wohl die Aufschrift „Geeintes Russland – Partei der Gauner und Diebe“. Dieser von Nawalny erfundene Slogan über die zunehmend unbeliebte Kremlpartei ist seit Monaten in aller Munde. Erst nach eineinhalb Stunden habe er einen Anwalt anrufen können.

Der Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow berichtete, die Durchsuchung bei ihm habe um sieben Uhr morgens begonnen und sechs Stunden gedauert. Auch die Wohnung seiner Eltern sei durchsucht worden, ein Spürhund sei eingesetzt worden. Die Ermittler hätten sich zivilisiert verhalten. Beschlagnahmt wurde der System-Block eines Computers, Disketten, Flash-Karten, und Flaggen der Linken Front.

Die Bilder von der Razzia wirken furchteinflößend. Vor einigen Häusern beziehen maskierte Elitepolizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag Posten. Das Vorgehen der Behörden sei mit den Säuberungen unter Sowjetdiktator Josef Stalin zu vergleichen, schimpft die bekannte Bürgerrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Der Menschenrechtsbeauftragte des Kreml, Michail Fedotow, zeigt sich schockiert. „Das ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann“, sagt Fedotow.

Der Sprecher des Ermittlungskomitee, Sergej Markin, erklärte, die Hausdurchsuchungen ständen in Zusammenhang mit der Demonstration am 6. Mai. Bei der Demonstration einen Tag vor dem Amtsantritt von Wladimir Putin war es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei und über 400 Festnahmen gekommen. Der Vorwurf wiegt schwer: Ermittelt werde wegen der Anstiftung zu blutigen Massenkrawallen. Dafür sieht das Gesetz langjährige Gefängnisstrafen vor. Mehrere weniger bekannte Regierungsgegner sitzen wegen derselben Anschuldigung in Untersuchungshaft, darunter eine 18-Jährige.

Nun nimmt die Staatsmacht mit einer beispiellosen Aktion die erste Reihe der Opposition ins Visier. „Diese Razzia hat nichts mit Ermittlungen zu tun, sondern ist eine Kampagne der Einschüchterung“, sagt der Politologe Gleb Pawlowski.

Alle zehn Personen, bei denen gestern Hausdurchsuchungen stattfanden, bekamen für heute elf Uhr eine Vorladung zur Vernehmung – sie können also nicht an der in Moskau geplanten Großdemonstration gegen Putin teilnehmen. Der Fernsehkanal NTW zitierte einen Vertreter des Ermittlungskomitees, der erklärte, einen Zusammenhang der Vorladungen mit der heute stattfindenden Demonstration gäbe es nicht. Die Ereignisse seien zufällig zusammengefallen.

Nicht nur Bürgerrechtler sind entsetzt. Das harte Durchgreifen werde die Protestbewegung radikalisieren, warnt der Putin-Vertraute und Ex-Finanzminister Alexej Kudrin. Die Ermittler verteidigen die Durchsuchungen: Alles geschehe im Rahmen des Gesetzes, sagt Behördensprecher Wladimir Markin.

Im Internet aber löst die Razzia im Morgengrauen einen Wutschrei aus. „Willkommen, 1937“ als Verweis auf die blutige Stalin-Zeit wird zu einem der häufigsten Schlagwörter bei Twitter. Bei Facebook und dem russischen Pendant VKontakte geben sich Regierungsgegner Tipps, wie sie zur Demonstration kommen. Dabei haben die Behörden die Kundgebung offiziell genehmigt, 50 000 Menschen sind zugelassen.

veröffentlicht in: Südkurier

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