12. September 2019

Rentner und Hipster

Olga Maltseva/AFP/Getty Images
Foto: Olga Maltseva/AFP/Getty Images

Moskau - Es ist nicht verwunderlich, dass die Arbeiterklasse nicht an der Wahlurne erschien

Für die unabhängigen Linken, die sich im Wahlkampf für die Moskauer Stadtduma bei kleinem Budget abgerackert hatten, war es eine kalte Dusche. Die bekannten Linken Boris Kagarlitsky und Boris Fjodorow wurden nicht gewählt. Kagarlitsky erhielt 2.974 Stimmen und meinte resigniert: „Wir haben verloren bei dem Versuch, die neuen Protestwähler zu mobilisieren. Die Arbeiterklasse ist nicht an den Wahlurnen erschienen.“

Vielleicht war es ein Fehler, dass Kagarlitsky auf der Liste der sozialdemokratischen, kremlnahen Partei „Gerechtes Russland“ kandidierte. Was die linke und liberale Opposition nicht wie erhofft reüssieren ließ, war vor allem die mit 21,8 Prozent extrem niedrige Wahlbeteiligung, deren Absinken zu erwarten war. Eine Mehrheit dieser Metropole hält nun einmal die Rolle des Stadtparlaments für nicht weiter bedeutend. Anders verhält es sich bei zwei Bevölkerungsgruppen, die Kagarlitsky als „neue Wählermehrheit der Rentner und Hipster“ charakterisiert. Eine Anspielung darauf, dass die KP in der Stadtkammer künftig 13 statt bisher fünf Sitze haben wird. Während mit den „Hipstern“ jene gemeint sind, die einen minimalisierten staatlichen Einfluss auf das Leben der Bürger in den urbanen Milieus erreichen wollen.

Bringt man das Ergebnis dieser Abstimmung auf einen Nenner, ließe sich sagen, dass die unabhängigen, teils oppositionellen Bewerber zwar Gewinne verbuchen konnten, der Straßenaktivismus jedoch das große Geld und die bekannten Namen nicht besiegt hat. Dies blieb ihm auch deshalb verwehrt, weil die Entpolitisierung der russischen Gesellschaft voranschreitet. Die Gründe dafür sind vielfältig. Das vom Kreml gesteuerte Fernsehen dominiert den öffentlichen Diskurs. Es gibt in Moskau zwar Erfahrungen mit Bürgerinitiativen und Demonstrationen, aber keine starken oppositionellen Medien und keine kämpferischen Gewerkschaften. Zudem holte die Partei „Einiges Russland“ zu keiner großen Wahlkampagne aus. Im Gegenteil, sie hat ihre Anhänger für diese Kommunalwahl aus dem Kalkül heraus nicht mobilisiert, dass zu viel Wirbel nur ihren Gegnern nützt. Was nicht unbedingt verfing. Tatsächlich haben die beiden Flügel der Opposition – die in der Duma vertretenen Oppositionsparteien und außerparlamentarische Oppositionsgruppen – Erfolg gehabt, übernehmen sie doch im neuen Stadtparlament fast die Hälfte der Mandate, während „Einiges Russland“ klar verloren hat. Die Partei und die mit ihr verflochtene Allianz „Mein Moskau“ werden nur noch 25 von 45 Sitzen haben.

In der Provinz hingegen setzten sich in allen 16 Regionen die Kandidaten der Regierungspartei als Gouverneure durch. Vorzugsweise dort, wo die einfachen Menschen viel mehr um ihr Überleben kämpfen müssen als in Moskau oder St. Petersburg. In den Weiten Russlands machten bei einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent auch sehr viel mehr Menschen von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Wofür es vorrangig eine Erklärung gibt: Die Bevölkerung braucht die Gouverneure als starke Stimme gegenüber der Hauptstadt. Von dort kommt das Geld. Sie entscheiden, wie es verteilt wird – für Hospitäler, Schulen, die soziale Fürsorge, die Infrastruktur. Nicht ohne Grund ist Wladimir Putin dazu übergegangen, Gouverneure häufiger auch kurz vor Wahlen auszuwechseln. Wenn die Partei „Einiges Russland“ neue Gesichter präsentiert, wird das von den Wählern hinter dem Ural oder auf Kamtschatka gern honoriert.

veröffentlicht in: der Freitag

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