Russen können mit abstrakter Schuld nichts anfangen
Ute Weinmann, Aktion Sühnezeichen, über die Versöhnungsarbeit deutscher Jugendlicher im Putin-Staat
In Russland wurde der 9. Mai
auch dieses Jahr wieder als „Tag
des Sieges“ über den Faschismus
mit Militärparaden groß gefeiert.
In der Nacht vom 8. auf den 9.
Mai 1945 waren im Hauptquartier
der sowjetischen Streitkräfte in Berlin-
Karlshorst von Vertretern der
deutschen Heeresleitung die Kapitulationsurkunden
unterzeichnet
worden. Was bedeutet der Tag für
deutsche und russische Jugendliche
heute?
Darüber sprach Ulrich Heyden mit Ute Weinmann, Länderbeauftragte der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für Russland.
Frau Weinmann, wie sieht die Arbeit der deutschen Freiwilligen in Russland
eigentlich aus?
Weinmann: Sie betreuen alte Menschen,
die unter Stalin im Gulag waren
und Menschen, die von den Nazis
zur Zwangsarbeit nach Deutschland
geschickt wurden. In einer
Schule in St. Petersburg unterrichten
sie Roma-Kinder. In diesem Jahr
machen wir in dem Moskauer Vorort
Butowo zusammen mit der Menschenrechtsorganisation
„Memorial“
und der orthodoxen Kirche ein
Sommerlager, auf einem Platz, wo
unter Stalin 1937 zehntausende sogenannter
„Volksfeinde“ erschossen
wurden.
Wie empfinden Sie als Deutsche die
Feierlichkeiten zum 9. Mai?
Weinmann: In Deutschland ist das
ein Gedenktag, kein Tag an dem gefeiert
wird. In Russland ist
es ein Freudentag. Man
feiert den Sieg über den
Faschismus und lebt das
auch offen aus. Das finde
ich schön. Allerdings mag
ich keine Militärparaden,
deshalb gehe ich an diesem
Tag nicht auf den Roten
Platz.
Welche Rolle spielt dieser Feiertag
heute?
Weinmann: Die Regierung nutzt
den Tag propagandistisch. Man
sagt: Wir kümmern uns um unsere
Veteranen, das ist unser Sieg. Aber
man weiß ja, dass die Veteranen in
Russland kein rosiges Leben haben.
Gerade für die jüngere Generation
ist es aber wichtig, dass an den Tag
gedacht wird, obwohl sie bei den
Feiern eigentlich wenig erfahren,
was in dem Krieg wirklich passiert
ist.
Gibt es bei den deutschen Freiwilligen
überhaupt noch ein Gefühl der
Schuld?
Weinmann: Der Krieg wird sehr
abstrakt aufgefasst. Es gibt eher das
Gefühl, „wir haben mit dem Krieg
nichts zu tun.“ Mein Eindruck ist,
dass sowohl die deutschen Freiwilligen
als auch die russischen Jugendlichen
gar nicht wirklich Bescheid
wissen.Besonders problematisch ist
die Situation in Weißrussland. Dort
halten sich Veteranenverbände und
offizielle Stellen mit kritischen Fragen
zur Geschichte zurück. Man
möchte die deutschen Firmen, die in
Weißrussland in großer
Zahl vertreten sind, mit
unangenehmen Fragen
verschonen. Meiner Meinung
nach ist es nicht richtig,
einen Schleier über
dieses Kapitel zu legen.
Immerhin wurde ein Drittel
der Bevölkerung in
Weißrussland von den
deutschen Truppen getötet.
Man hört in Russland oft, die Deutschen
litten an einem Schuldkomplex.
Weinmann: Die Russen fragen sich
einfach, was erwächst aus dem
„Schuldkomplex“? Hilfestellung
oder Verständnis für den Alltag in
Russland? Die Russen können mit
abstrakter Schuld einfach nichts anfangen.
Das kann ich verstehen. Das
Gefühl der Schuld gibt es auf deutscher
Seite aber eher bei der älteren
Generation. Bei den jungen deutschen
Freiwilligen, die ich betreue,
gibt es diesen Komplex nicht, weil
man sich einfach davon distanziert.
Entstehen aus dem Freiwilligendienst
in Russland feste Kontakte zu russischen
Jugendlichen?
Weinmann: Bei einem Drittel entstehen
so enge Verbindungen zu
Russland, dass sie immer wieder
herkommen. Manche Jugendliche,
die in Minsk waren, haben dort geheiratet.
Viele studieren später Osteuropa-
Wissenschaften. Zunehmend
wird der Freiwilligen-Dienst
auch von Deutsch-Russen absolviert.
Die Verbindung zu Russland
bleibt erhalten.
Können Sie ein Beispiel schildern, bei
dem auf der menschlichen Ebene Versöhnung
geglückt ist?
Weinmann: Da gab es einen alten
Mann in Wolgograd, dem früheren
Stalingrad, der in Deutschland
Zwangsarbeit geleistet hat. Der alte
Mann hat sich über mehrere Jahre
mit deutschen Freiwilligen zum Gedankenaustausch
in der Stadt getroffen.
Seine Frau wollte die deutschen
Jugendlichen nicht in die
Wohnung lassen. Nach einer längeren
Zeit hat die Frau dann gesagt,
dass sie die Hilfe der deutschen
Freiwilligen anerkennt. Sie hat die
Jugendlichen in ihre Wohnung gelassen.
Was sind das für Jugendliche, die aus
Protest gegen die Verlegung eines sowjetischen
Soldatendenkmals in der
estnischen Hauptstadt Tallin tagelang
die estnische Botschaft in Moskau
belagerten?
Weinmann: Dort protestierten Mitglieder
der Jugendorganisation Naschi
(„Die Unsrigen“). Die Organisation
wurde von einem ehemaligen
Mitarbeiter der Präsidialadministration
gegründet. Das ist ein fast
schon hysterischer Patriotismus.
Dabei geht es im Prinzip gar nicht
um das Soldaten-Denkmal in Tallin.
Ansonsten würde auch protestiert,
wenn in Russland Soldaten-Denkmäler
und Gräber verlegt werden.
Es geht um den verloren gegangen
Einfluss in den baltischen Staaten.
Dazu kommt ein zweites Problem:
Bei dem Umgang mit der russischsprachigen
Bevölkerung in Estland
gibt es die Tendenz der Abrechnung
mit der repressiven sowjetischen
Vergangenheit.
Finden Sie es nachvollziehbar, dass
die Esten den „bronzenen Soldaten“
und die Gräber der sowjetischen Soldaten
von Tallin verlegt haben?
Weinmann: Ich bin gegen die Verlegung
von solchen Denkmälern. Ob
es den Esten nun passt oder nicht,
sie haben sich nicht selbst von der
Hitler-Wehrmacht befreit. Die Rote
Armee hat sie befreit. Außerdem:
Das Soldaten-Denkmal orientiert
sich an dem Vorbild eines estnischen
Antifaschisten. Ich finde,
wenn die Esten mit dieser Vergangenheit
nicht einverstanden sind,
dann sollen sie doch ein anderes
Denkmal aufstellen. Indem der
„bronzene Soldat“ auf den Militärfriedhof
verlegt wird, macht man
aus der Befreiung vom Faschismus
ein militärisches Problem.
Friedensdienst
Seit dem Zerfall der Sowjetunion
haben mehrere Hundert deutsche
Jugendliche an dem Freiwilligendienst
und den Sommerlagern der
„Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“
in Russland teilgenommen.
Der Freiwilligendienst dauert
ein Jahr. Bei den jungen Männern
wird er als Zivildienst anerkannt. Die
Jugendlichen werden in Seminaren
vorbereitet und während ihres Aufenthalts
fortlaufend betreut. Viele
russische Jugendliche wurden von
ASF auch zu einem Freiwilligendienst
in Deutschland vermittelt
(www.asf-ev.de). n-ost
Heilbronner Stimme