15. April 2010

Russen und Polen kommen einander näher

Anteilnahme. Nach dem Flugzeugabsturz wenden sich die Russen ihren Nachbarn zu.

„Von ganzem Herzen möchte ich der russischen Nation danken für ihr Verhalten zu der Katastrophe unseres Flugzeugs“, schreibt der Pole Marek Wyczisk an die Moskauer „Nesawissimaja Gaseta“. „Ihr Präsident, ihr Premier und viele Menschen, deren Worte unsere Medien übermittelt haben, zeigten sich als vorbildliche Bürger und Humanisten.“

Joana, eine polnische Lehrerin, die in London lebt, schrieb an das Moskauer Blatt, sie habe „sehr geschätzt“, dass es in Russland auch einen Trauertag gegeben habe. Die Tragödie des Flugzeugabsturzes zwinge die Welt, sich an Katyn zu erinnern. „Die veröffentlichte Wahrheit vereinigt uns“, schreibt die polnische Lehrerin an das Moskauer Blatt, das Auszüge aus Briefen polnischer Leser veröffentlichte.
Nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk trauerten viele Menschen in Russland, und die Tränen waren echt. Hunderte kamen vor die polnische Botschaft in Moskau, um dort Blumen niederzulegen. Was war passiert? Polen, über dessen Politiker man in den russischen Medien über Jahre wenig Gutes las, war nun plötzlich das Land, mit dem man Mitleid hatte.
Am Montag war in Russland nationaler Trauertag. In Moskau waren die Häuser mit russischen Fahnen und Trauerflor beflaggt. Präsident Dmitrij Medwedew kam in die polnische Botschaft in Moskau, um sich dort in ein Beileidsbuch einzutragen.
Auch bei Wladimir Putin löste das Unglück in Smolensk Gefühle aus, die man von dem russischen Ministerpräsidenten bisher nicht kannte. An der Unglücksstelle legte er tröstend seinen Arm um den polnischen Kollegen Donald Tusk. Über Stunden leitete Putin persönlich den Stab zur Bergung der Opfer.
Einen Tag nach der Katastrophe von Smolensk zeigte der russische Fernsehkanal Rossija 1 aus Anlass der Tragödie den Film des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda, „Katyn“. Der historische Spielfilm unterlag in Russlands Kinos bis vor Kurzem einem faktischen Aufführungsverbot. Über Lech Kaczynski, der nicht zusammen mit Putin an den Gräbern von Katyn trauern wollte, gab es im russischen Fernsehen nach der Katastrophe kein böses Wort.
Es war erstaunlich. Nach der Katastrophe von Smolensk agierten Medwedew und Putin wie europäische Politiker. Taktgefühl sei nie die starke Seite der russischen Außenpolitik gewesen, meinte das Massenblatt „Moskowski Komsomolez“. „Die jetzige Tragödie war eine seltene Ausnahme.“
Zur fehlenden Aufarbeitung der Stalin-Verbrechen schlugen die Moskauer Tageszeitungen ungewohnt selbstkritische Töne an. Beim Thema Katyn dürfe es für Russland nicht um das „internationale Image“ gehen, schrieb die „Rossiskaja Gaseta“. Die Verurteilung des Stalinismus sei kein Exportartikel „für Europa“, sondern „ein Problem der Beziehung zu uns selbst, unsere höchst eigene Angelegenheit“. Denn Katyn, das sei „nur eine der Blutlachen“ der Stalin-Herrschaft. Das Blatt erinnerte daran, dass in den Massengräbern von Katyn neben 4000 polnischen Offizieren auch 8000 Bürger der Sowjetunion liegen.
Die konservative „Nesawissimaja Gaseta“ fand gar anerkennende Worte für Lech Kaczynski. Für ihn sei die Wiederherstellung der historischen Wahrheit im Fall Katyn „eine Lebensaufgabe“ gewesen. Der Tod des polnischen Präsidenten vergrößere nun auf tragische Weise seinen „historischen Sieg“. Von Putin habe Kaczynski bei der Gedenkveranstaltung in Katyn „keine Entschuldigung“, aber „die Wahrheit“ gehört.
Putin hatte am 7. April bei der Veranstaltung am Gedenkkomplex von Katyn erklärt, dass das russische Volk, welches selbst die Zwangskollektivierung und Massenrepressionen der 1930er-Jahre erlebt habe, sehr gut nachvollziehen könne, „was für viele polnische Familien Katyn bedeutet“.
Die Aufarbeitung der Geschichte von Katyn wollen Moskau und Warschau jetzt in einer gemeinsamen Expertenkommission voranbringen. Die Frage ist nun, ob die russischen Archive die Namen derjenigen NKWD-Kommandeure herausgeben, welche die Erschießungskommandos im Frühjahr 1940 leiteten. Putin nannte bisher nur den Namen eines Verantwortlichen, den des damaligen NKWD-Chefs Lawrenti Berija.
So ungewöhnlich es ist: Die Flugzeugkatastrophe hat Russland und Polen einander nähergebracht. Der Grund: Putin und Medwedew verhielten sich glaubwürdig. Sie zeigten echte Anteilnahme. Das überzeugte die Polen. Die Bedingungen für ein weiteres aufeinander Zugehen sind gut, denn viele Konflikte zwischen Moskau und Warschau haben sich entschärft oder sind gar verschwunden.

"Salzburger Nachrichten"

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