Russland: Unruhe an der linken Flanke (Buchkomplizen)
3. Juni 2021, Ulrich Heyden
Nach fast einem Jahr Hausarrest bekam Nikolai Platoschkin, Gründer der Bewegung „Für einen neuen Sozialismus“, fünf Jahre auf Bewährung. Weil der Sozialist nun vorbestraft ist, kann er zehn Jahre lang nicht für die Duma kandidieren.
Das Moskauer Gagarin-Gericht verhängte gegen Nikolai Platoschkin am 19. Mai 2020 eine Bewährungsstrafe von fünf Jahren. Außerdem muss der Angeklagte 7.700 Euro Strafe zahlen. Der am 4. Juni 2020 verhängte Hausarrest gegen den Linkspolitiker wurde aufgehoben.
Das Gericht hielt es für erwiesen, dass der Linkspolitiker im Frühjahr 2020 zu Massenunruhen gegen das Referendum für die Verfassungsreform aufgerufen und falsche Informationen über angebliche Gefahren für die Gesundheit der Bürger Russlands verbreitet hat.
Die Bewährungsstrafe ist für den Linkspolitiker ein harter Schlag, weil er nun vorbestraft ist und deshalb zehn Jahre nicht für die Duma kandidieren darf. Die Wahlchancen für Platoschkin waren nicht schlecht. Im September 2019 hatte er für die KPRF im fernöstlichen Gebiet Chabarowsk kandidiert und war mit 24 Prozent der Stimmen auf Platz zwei gekommen, noch vor dem Kandidaten der Kreml-nahen Partei Einiges Russland, aber hinter dem Kandidaten von Schirinowskis Liberaldemokraten.
Der Freigelassene will nun gegen die Bewährungsstrafe in Berufung gehen. Doch die Chancen, dass die Strafe gekippt wird, sind gering, denn es gibt zu wenig Personen des öffentlichen Lebens, die sich für den Sozialisten einsetzen.
ANHÄNGER WAREN VON WEIT HER ANGEREIST
Als der Linkspolitiker am 19. Mai das südlich des Moskauer Stadtzentrums gelegene Gagarin-Gericht verließ, wurde er von 500 Anhängern begeistert empfangen. Die Menschen riefen „Hurra“ und „Pobeda“ („Sieg“). Bewährungsstrafe hin oder her, das Wichtigste war den Anhängern des Sozialisten, dass ihr Held nun wieder in Freiheit ist.
Ein sichtlich übermüdeter Platoschkin nahm ein Bad in der Menge. Seine zum Teil von weit her angereisten Anhänger schüttelten begeistert Hände und Arme des Freigelassenen.
Weil er nun vorbestraft ist und eine Bewährungsstrafe bekam, darf der Linkspolitiker das Moskauer Gebiet nicht verlassen und seinen Beruf – Dekan der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Russischen Universität für Geisteswissenschaften – nicht ausüben. Platoschkin ist als jetzt also arbeitslos.
Der Star bei den linken Internet-Kanälen
Der Linkspolitiker war schon vor seiner Festnahme im Juni 2020 in der Öffentlichkeit bekannt, weil er als Experte für Lateinamerika an zahlreichen Fernseh-Talkshows teilnahm. Das russische Fernsehen berichtete über den Hausarrest gegen den Linkspolitiker nicht. Bei den linken russischen Video-Kanälen war der Freigelassene dann der Star. Er trat in zahlreichen linken YouTube-Kanälen auf, schilderte die zum Teil merkwürdigen Einzelheiten des Strafverfahrens und bedankte sich bei den Menschen, die ihm in den letzten Wochen Geld für die Begleichung der Geldstrafe überwiesen hatten.
Platoschkin berichtete, die Ermittler hätten ihn im Juni 2020 nur eine Stunde verhört. Einzelheiten über das Programm der Bewegung „Für einen neuen Sozialismus“ wollten die Ermittler nicht hören. Platoschkin erklärte, er habe den Eindruck gehabt, dass die Ermittler selbst nicht von dem Verfahren gegen ihn überzeugt waren.
Die Staatsanwaltschaft hatte die Auftritte von Platoschkin in YouTube-Videos vom Frühjahr 2020 linguistisch untersuchen lassen und festgestellt, dass der Linkspolitiker zu politischen Versammlungen, zum Rücktritt aller höheren Machtorgane des Staates und vorgezogenen Neuwahlen aufgerufen hatte. Die inzwischen über ein Referendum angenommene russische Verfassungsreform, die Wladimir Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglicht, hatte Platoschkin hart kritisiert.
Die Beweislage für den Vorwurf „Aufruf zu Massenunruhen“ war äußerst dünn und offenbar hielten die Justizbehörden und der Kreml es nicht für angebracht, den Linkspolitiker länger von der Öffentlichkeit zu isolieren.
Das Gerichtsverfahren gegen den Oppositionspolitiker hatte erst Ende April dieses Jahres begonnen und war in Windeseile durchgezogen worden. Zeugen wurde nicht befragt. Aus den 28 Ermittlungsakten wurden nur die Inhaltsverzeichnisse vorgelesen.
„Amerikanischen Spion“
Platoschkin ist für den Kreml eine harte Nuss. Der Linkspopulist bringt schonungslos soziale Schieflagen in Russland zur Sprache. Er betont aber, dass er mit seiner Bewegung auf demokratischen Weg an die Macht kommen will. Ihn als vom Ausland finanzierten Extremisten abzustempeln wie Aleksej Navalny ist nicht möglich. Wenn es da belastendes Material gäbe, hätten es die russischen Medien längst gebracht.
Nach der Verhängung des Hausarrestes gegen Platoschkin im Juni 2020 tauchte im russischen Internet die Frage auf, wer die Ermittlungen gegen den Linkspolitiker initiiert hat? Anhänger von Platoschkin sind sich sicher, dass der Duma-Abgeordnete Jefgeni Fjodorow hinter der Klage steckt.
Fjodorow ist Duma-Abgeordneter der Partei „Einiges Russland“ und Koordinator der 2011 gegründeten „Russischen Befreiungsbewegung“ (NOD), einer Organisation, die gegen Linke in Diskussionen äußerst aggressiv auftritt.
Wichtigstes Ziel der NOD war die Änderung der russischen Verfassung, die zwei Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, in Kraft getreten war. Diese Verfassung – so Fjodorow – habe aus Russland faktisch ein „amerikanisches Protektorat“ gemacht, denn Urteile russischer Gerichte konnten bis zur Verfassungsreform 2020 vor internationalen Gerichten angefochten werden. Fjodorow beschimpfte den Linkspolitiker Platoschkin, der die Verfassungsreform kritisierte, im Dezember 2019 in einer Talk-Show als „amerikanischen Spion“.
Für den Kreml ist Platoschkin ein schwieriger politischer Gegner. Der Angeklagte hat seine Anhänger nicht in der städtischen Mittelschicht, sondern unter links-gestimmten Arbeitern und Angestellten, vor allem in der Provinz. Seitdem Platoschkin juristisch verfolgt wird, ist die Zahl der Abonnenten seines Video-Kanals von 494.000 auf jetzt 592.000 Abonnenten gestiegen.
Diplomat in Deutschland und in den USA
In den Fernseh-Talkshows, in die der Linkspolitiker vor seinem Hausarrest noch eingeladen wurde, schlug er sich gut. Der 55 Jahre Sozialist hat Lebenserfahrung, ist redegewandt und hat das Zeug zum Volkstribun.
Platoschkin wurde in dem kleinen Dorf Mestscherino, südöstlich vor Moskau geboren. Seine Eltern arbeiteten dort auf einer Sowchose. Platoschkin beendete die Schule mit Bestnoten und machte eine Ausbildung als Traktorist.
Danach machte er Karriere. 1987 beendete er eine Ausbildung an der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO ab und ging dann als sowjetischer und dann russischer Diplomat nach Berlin und Houston/Texas.
Nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst schrieb der ehemalige Traktorist 20 wissenschaftliche Bücher über den Militärputsch in Chile, den Mord an John F. Kennedy, das Jahr 1953 in der DDR und den Bürgerkrieg in Spanien. Schließlich wurde Platoschkin Leiter der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften (RGU).
In seinen öffentlichen Auftritten legte sich der Linkspolitiker mit Wladimir Putin an. Er kritisierte die Aussage des russischen Präsidenten, dass Lenin mit der Bildung autonomer nationaler Gebiete in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik „eine Zeitbombe gelegt hat“.
Auch die Putin-Äußerung, Lenin sei „kein Staatsmann, sondern ein Revolutionär“, war für Platoschkin untragbar. Der Linkspolitiker erklärte, immerhin sei es Lenin 1918 gelungen, mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgarien den Frieden von Brest-Litowsk zu vereinbaren, obwohl die Sowjetmacht zuvor alle Auslandsschulden des Zarenreiches annulliert hatte. Ob das denn keine staatsmännische Leistung war?
Druck auf Opposition wächst
Mit Platoschkin solidarisierten sich zahlreiche Abgeordnete der KPRF. Die Partei, die mit 43 Abgeordneten in der Duma vertreten ist, geriet in den letzten Jahren selbst verstärkt unter Druck. Der kommunistische Gouverneur des Gebietes Irkutsk, Sergej Lewtschenko, wurde 2019 vom Kreml von seinem Posten abberufen. Ein Jahr später kam sein Sohn Andrej wegen angeblicher Korruption in Untersuchungshaft.
Im letzten Jahr verlor Pawel Grudinin – im Jahr 2018 Präsidentschaftskandidat der KPRF und Leiter der Lenin-Sowchose im Moskauer Gebiet – eine Klage, weil er angeblich ein Grundstück zu billig verkauft hatte, was keine gute Wirtschaftsführung sei. Die Klage war von einer Immobilienfirma angestrengt worden, die enge Kontakte zur Regierungspartei Einiges Russland hat und offenbar an den teuren Boden der Sowchose ran möchte.
Die russische politische Landschaft scheint auf den ersten Blick stabil. So fragt man sich, warum die Macht gegen Oppositionelle wie Aleksej Navalny und Nikolai Platoschkin so hart vorgeht. Offenbar will der Kreml nicht riskieren, dass bei einer wirtschaftlichen Verschlechterung Oppositionelle von links oder rechts Zulauf gewinnen.
veröffentlicht in: Buchkomplizen