21. February 2023

Schreibtischkriegerphantasie (Junge Welt)

Oryk HAIST/imago images, Der russische Präsident ist seit einem Jahr das liebste Feindbild bürgerlicher Medien (Bild-Ausgabe vom 25.2.2022)
Foto: Oryk HAIST/imago images, Der russische Präsident ist seit einem Jahr das liebste Feindbild bürgerlicher Medien (Bild-Ausgabe vom 25.2.2022)

Aus: Ausgabe vom 21.02.2023, Seite 3 / Schwerpunkt

KRIEG UND PROPAGANDA

Deutsche Propagandamaschine auf Hochtouren: Zu Berichten, Russland verschleppe Kinder aus der Ukraine

Von Ulrich Heyden, Moskau

»Wie Moskau ukrainische Kinder klaut« – so titelte die FAZ am 10. Februar. Und der Text hielt, was die Überschrift versprach: »… Zehntausende Jungen und Mädchen sind seit Beginn des Krieges aus der Ukraine verschleppt worden. Etliche wurden schon von russischen Familien zwangsadoptiert, nur wenigen gelingt die Rückkehr.« Die Osteuropaeхpertin des Deutschlandfunks (DLF), Sabine Adler, hatte vorgelegt und am 6. Februar in der Sendung »Informationen am Morgen« behauptet, ukrainische Kinder würden nach Russland »deportiert«. Die Wortwahl ist gewiss kein Versehen, bei »Deportation« denkt man unvermeidlich an den Transport von Juden in Konzentrationslager.

Die Behauptung, Russland verschleppe ukrainische Kinder aus dem Kriegsgebiet, hört man, wenig überraschend, auch von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Der SPD-Abgeordnete Michael Roth stimmt mit ein. Quellen, die die Behauptung belegen – etwa Namenslisten oder Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen –, fehlen bislang. Als Beweis muss ausreichen, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij von 11.000 verschleppten Kindern gesprochen hatte. Ukrainische Medien nennen gar die Zahl von 230.000 verschleppten Kindern.

»Helle Augen und Haare«

Offenkundig hat Sabine Adler es sich bei ihrer »Recherche« einfach gemacht. Sie traf sich in Berlin mit Pawel Lisjanski und Wera Jastrebowa von der Östlichen Menschenrechtsgruppe. Die Gruppe hat ihren Sitz in Lissitschansk. Die Stadt wurde am 3. Juli 2022 von russischen Truppen besetzt. Was Jastrebowa der DLF-Journalistin berichtete, beruht auf Phantasien ukrainischer Nationalisten. Sie erklärte, Russland führe besagte »Deportationen« von Kindern durch, um die schlechte Geburtenrate des Landes im Vergleich zu der bei den nordkaukasischen Völkern auszugleichen. »Sie (die Russen) wollen Menschen mit slawischem Aussehen. Die höchste Geburtenrate gibt es jetzt im Nordkaukasus. Mitgenommen werden blonde Kinder mit hellen Augen.«

Die DLF-Mitarbeiterin baute in ihren Bericht auch eine Behauptung der beiden ukrainischen »Menschenrechtler« ein, nach der »nationalistische Kreise« um den ehemaligen russischen Kulturminister Wladimir Medinski an der Vergrößerung des slawischen Anteils in der russischen Jugend interessiert seien. Wann und wo Medinski derartiges gesagt haben soll, wurde nicht erwähnt. Aber man weiß ja mittlerweile, dass die Sorge russischer Politiker um die in den letzten Jahren wieder sinkende Geburtenrate für die großen deutschen Medien ein untrügliches Kennzeichen von Nationalismus ist.

Im ukrainischen Telegram-Kanal »Freedom« äußerte Wera Jastrebowa sich noch deutlicher: »Die faschistische Föderation (gemeint ist wohl die Russische Föderation) will unsere Kinder als Material.« Lehrer in den von Russland besetzten Gebieten würden dabei helfen, »die Eltern unter Druck zu setzen«. Das seien eigentlich »gar keine Lehrer, sondern Kollaborateure«, »Helfer des Faschismus« und »Einflussagenten«. Jastrebowa weiter: »Sie haben ihre Jugend wahrscheinlich in der Sowjetunion verbracht. Jetzt wollen sie den Kindern die russischen Narrative eintrichtern. Die Ukraine soll diskreditiert und Fakten der ukrainischen Geschichte verfälscht werden.«

Keine kritische Prüfung

Pawel Lisjanski, der von Sabine Adler als Jurist vom Institut für strategische Forschung und Sicherheit in Kiew vorgestellt wurde, behauptete in der DLF-Sendung, dass auch Kinder aus »intakten Familien« deportiert wurden.

Bei der russischen Mobilisierung seien Männer »direkt vom Bergwerk an die Front« geschickt worden. »Zurück blieben Familien ohne ihre Ernährer. Den Müttern mit zwei oder drei Kindern unterstellten die Jugendämter, allein nicht in der Lage zu sein, ein Kind zu ernähren, und nahmen ihnen das zweite und dritte Kind weg. Neue Gesetze in den okkupierten Gebieten erlauben das. Und dann wurden auch diese Kinder nach Russland gebracht.« Es gäbe allein 38.000 Fälle von Sorgerechtsentzug. All das wird von der DLF-Mitarbeiterin unkommentiert wiedergegeben. Dass schwer vorstellbar ist, ein Vater könnte für Russland als Soldat an der Front kämpfen, wenn er weiß, dass ihm eine russische Behörde zwei Kinder geraubt hat, scheint außer Betracht gewesen zu sein.

Die russischen Behörden haben seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 eine beachtliche Arbeit geleistet. 3,5 Millionen Menschen – darunter eine halbe Million Kinder – wurden aus den Konfliktgebieten in der Ukraine nach Russland evakuiert. Diese Zahl nannte der russische »Koordinationsstab für humanitäre Hilfe« Ende August 2022, kurz bevor sich große Teile des Donbass nach Referenden mit Russland vereinigten.

Die Beauftragte für Kinderrechte beim russischen Präsidenten, Maria Lwowa-Belowa, erklärte im Oktober 2022, im Gebiet der »militärischen Spezialoperation« seien 2.000 Waisen aus sozialen Einrichtungen evakuiert worden. Bereits 350 Waisen aus dem Donbass seien in Familien aus 16 Regionen in Russland untergebracht worden. Die Bereitschaft, Kinder aufzunehmen, sei sehr groß gewesen, berichtete Lwowa-Belowa. Sie mahnte die aufnahmewilligen Familien jedoch eindringlich zu prüfen, ob sie wirklich in der Lage sind, die Verantwortung für ein von jahrelangen Kriegserlebnissen traumatisiertes Kind zu übernehmen.

Fakten ignoriert

Evakuierungen im Donbass waren in der Hochphase der Kämpfe dort äußerst kompliziert. Nach russischen Informationen hat die ukrainische Seite während der Kämpfe alles versucht, eine Evakuierung von Einheimischen in von Russland kontrollierte Gebiete zu verhindern. Zudem nutzten ukrainische nationalistische Bataillone Wohnhäuser mit Zivilisten als Schutzschilder.

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Foto: Darja Morosowa

Beweise dafür, dass russische Soldaten und Behörden gezielt »ukrainische Kinder« von ihren Eltern trennten, gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Menschenrechtsbeauftragte der Volksrepublik Donezk, Darja Morosowa, sorgte zum Beispiel im April 2022 dafür, dass zwei Vollwaisen, die zwölfjährige Kira Obedinskaja und der neunjährige Ilja Matwijenko, die sich in einem Krankenhaus in der Stadt Donezk aufhielten, Kontakt mit Großeltern in der Ukraine aufnehmen konnten. Die Großeltern waren bereit, die Vormundschaft für die beiden Kinder zu übernehmen. Sie holten ihre Enkel am 23. April 2022 in Donezk ab. Da der direkte Weg in die Ukraine durch die Front zu gefährlich war, fuhren die Großeltern mit ihren Enkeln via Russland zurück in die Ukraine.

Ukrainische NGOs organisieren Fahrten von Eltern, die Kinder aus Russland zurückholen. Darüber berichtete sogar Die Zeit. Doch die DLF-Mitarbeiterin Adler will von all dem nichts wissen. Im Schlusswort ihrer Radiosendung erklärte sie: »Die leiblichen ukrainischen Eltern haben kaum eine Chance, ihre Kinder wiederzufinden, weil sie neben der russischen Staatsbürgerschaft auch neue Namen haben. Menschenrechtler sprechen von einer Form des Genozids.«

Die Leiterin der Union der politischen Emigranten aus der Ukraine, Larissa Schessler, die selbst aus der Südukraine kommt, erklärte mir gegenüber, der Vorwurf westlicher Medien, Russland »deportiere« Kinder, beziehe sich faktisch »auf die Evakuierung von Kindern aus Kinderheimen, die im Kriegsgebiet liegen. Kann man diese Kinder der tödlichen Gefahr von Geschossen und Minen aussetzen? Statt politische Ziele zu verfolgen, muss man sich vor allem um die Sicherheit der Kinder kümmern.«

Die Aktivistin wies darauf hin, dass die Vereinigung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der Gebiete Saporischschja und Cherson mit Russland dazu führte, dass »alle Menschen, die am 30. September in diesen Gebieten lebten, russische Staatsbürger sind.«

Russische Kinder nachgeholt

Dass der Vorwurf der »Deportation« von Kindern nicht auf Fakten basiert, zeigte auch die Evakuierung von 2.500 Schülern aus der Stadt Cherson auf die Krim, Anfang Oktober 2022. Man evakuierte die Schüler in ein gut ausgestattetes Lager in der Stadt Jewpatorija, weil Cherson unter ukrainischem Beschuss stand. Die Eltern der Schüler hatten ihr schriftliches Einverständnis für die Evakuierung gegeben.

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson am 9. November 2022 und der Evakuierung vieler Bewohner von dort auf von Russland kontrolliertes Gebiet, hätten viele Eltern ihre Kinder von der Krim zu sich geholt, berichtet das Internetportal Ukraina.ru. Derzeit befinden sich demnach auf der Krim noch 99 evakuierte Kinder aus Cherson.

Larissa Schessler erklärte, niemand hindere Eltern, die in der Stadt Cherson leben, »über dritte Länder nach Jewpatorija auf die Krim zu fahren und dort ihre Kinder abzuholen«. Aber die Eltern seien daran nicht interessiert. Sie seien offenbar der Meinung, dass ihre Kinder »jetzt an einem sicheren und angenehmen Platz leben und nicht in Cherson, wo es zu Explosionen kommt, wo es keine Wasserversorgung gibt, wo die Stromversorgung gestört ist und die Eltern keine Arbeit haben«.

Wünschenswert wäre, dass sich deutsche Medien mehr für die Rechte der Kinder und Jugendlichen in der Ukraine interessieren. Laut einem Bericht der russischen Tageszeitung Moskowski Komsomolez würden ukrainische Soldaten in dem Teil des Donezk-Gebietes, der von Kiew kontrolliert wird, Jugendliche direkt von der Straße und aus Schulen einsammeln und evakuieren. Die Eltern würden nicht informiert. Derartige Aktionen gäbe es in den Städten Kramatorsk, Slawjansk und Bachmut. In Bachmut harren immer noch Zivilisten aus, die verhindern wollen, dass ihre Häuser geplündert werden.

Die ukrainische Vizeministerpräsidentin Irina Wereschtschuk hat die noch 6.000 in Bachmut (russisch: Artjomowsk) verbliebenen Menschen aufgefordert, sofort die Stadt zu verlassen. Kiew möchte offenbar vermeiden, dass Russland sich nach der Einnahme von Bachmut brüsten kann, es habe Menschen befreit, die auf die russischen Truppen warteten.

veröffentlicht in: Junge Welt

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