1. July 2010

SPIONAGE II: Eine russische Agentin und ihre Gefolgschaft

Russland stellt FBI-Aktion als unglaubwürdig dar / Belastbare Fakten fehlen

MOSKAU - So schlecht ist es um die russisch-amerikanischen Beziehungen nicht bestellt, trotz Agenten-Skandal (MAZ berichtete). Am Dienstag war der ehemalige US-Präsident Bill Clinton zu einem Privatbesuch in Moskau, unter anderem, um Russlands Beitritt in die Welthandelsorganisation (WHO) voranzutreiben. Clinton wurde auch von Regierungschef Wladimir Putin empfangen. Der leitete das Treffen mit einer flapsigen Bemerkung ein. „Die Polizei in den USA hat sich gehengelassen. Man hat Leute in Gefängnisse gesteckt“.

Clinton bog sich vor Lachen in seinem Biedermeier-Sessel. Putin grinste genüsslich über seine gelungene Einleitung. Die russischen Fernsehkanäle zeigten die Szene mehrmals. Dann erklärte der russische Premier, er hoffe, „dass das Positive, welches in der letzten Zeit erreicht wurde, nicht gefährdet wird.“ Ähnlich denkt man auch im Weißen Haus in Washington. Gestern erklärte Barack Obamas Sprecher, Robert Gibbs, „ich glaube nicht, das dies (der Skandal) sich auf den Neustart mit Russland auswirkt.“

In Moskau gibt es unterdessen große Zweifel an der Agenten-Version des FBI. Wladimir Lukin, der von 1992 bis 1993 Botschafter Russlands in den USA war und heute Menschenrechtsbeauftragter des russischen Präsidenten ist, meinte gegenüber der Zeitung Kommersant, „man kann einen innenpolitischen Konflikt in den USA nicht ausschließen“. Auf die Beziehungen zwischen Washington und Moskau werde sich der Spionage-Skandal nicht auswirken.

Am Dienstagabend teilte das russische Außenministerium mit, bei den am Sonntag Festgenommenen handele es sich um „Bürger Russlands“. Sie hätten sich „keine Tätigkeit gegen die Interessen der USA zu Schulden kommen lassen“. Man gehe davon aus, dass die Festgenommenen „normal“ behandelt würden.

Inzwischen wurden Details über die festgenommenen „Spione“ bekannt, welche die Agenten-These nicht gerade stärken. Mehrere der Verhafteten führten kein zurückgezogenes Leben, wie zunächst berichtete wurde, sondern standen im Gegenteil im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die verhaftete Journalistin Vicky Pelaez etwa arbeitete für die bekannte spanischsprachige Zeitung El Diario-La Prensa in New York. In ihren Kolumnen kritisierte die 55-Jährige die Lateinamerika-Politik der USA. Selbst die Kritiker von Pelaez „achteten ihre Überzeugungen“, schrieb die „New York Daily News“ nach ihrer Verhaftung.

Pelaez arbeitete früher als Fernseh-Reporterin in Peru. 1984 wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann von der peruanischen Guerilla MRTA entführt. Nach Aussagen des FBI soll Pelaez 2000 „in einem südamerikanischen Staat“ einen offiziellen Vertreter Russlands getroffen und von diesem eine Tasche entgegengenommen haben.

Für einen Agenten ungewöhnlich offen lebte auch Michail Semenko. Freunde beschreiben den 27-Jährigen aus der sibirischen Stadt Blagoweschensk als Globetrotter. Anfang der 2000er Jahre habe Semenko am Polytechnischen Institut von Harbin in China studiert und dort auch als Reiseführer gearbeitet. 2008 reiste Semenko in die USA. Semenko hat einen eigenen Auftritt bei der russischsprachigen sozialen Website Odnoklassniki (Mitschüler), wo er Fotos von seinen Reisen in den USA veröffentlichte, und auf der englischsprachigen sozialen Website Linkedin. Semenko stellte sich dort als im Tourismus Beschäftigter vor. Er spreche Russisch, Englisch, Spanisch und Chinesisch. Auf Fotos ist Simenko mit einer Freundin aus Ekuador und einer blonden Dame an der Grenze von Mexiko zu sehen.

Merkwürdig auch, wie offen die verhaftete „Agentin“ Anna Chapman lebte. Die 28-Jährige machte 2005 ihren Abschluss in Finanzwissenschaften an der Moskauer Universität für Völkerfreundschaft. Noch als Studentin gründete sie eine Immobilienfirma. Von Moskau siedelte sie nach London über. Im Februar dieses Jahres verlegte sie dann ihren Wohnort nach New York. Die junge Dame mit den roten Haaren wirkt nicht gerade öffentlichkeitsscheu. Bei Youtube wurde nach der Verhaftung ein Video mit einem Interview veröffentlicht. Darin lobt Anna, wie leicht es sei, als Neueinsteigerin in der New Yorker Geschäftswelt Kontakte zu knüpfen. Bei ihrem Facebook-Auftritt hat Anna Chapmann 180 Freunden registriert.

Wie der Anwalt von Chapman mitteilte, hatten Mitarbeiter des FBI sich gegenüber der jungen Geschäftsfrau als russische Agenten ausgegeben und sie gebeten, einen gefälschten Pass an eine dritte Person weiterzugeben. Anna habe den Pass jedoch unverzüglich der Polizei von New York übergeben, was die ganze FBI-Aktion gegen die russischen Agenten gefährdete und schnelles Handeln erforderte, erklärte der Anwalt von Chapman vor einem Gericht in New York. (Von Ulrich Heyden)

"Märkische Allgemeine"

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