Ulrich Heyden: „Von der Front erfährt man wenig in Russland“ (Overton Magazin)
15. November 2023 Florian Rötzer
Ende des Kriegshypes, der Kampf um Awdejewka und die russischen Kriegsziele.
Im geopolitischen Raum ist eine große Veränderung eingetreten. Nachdem die Hamas Israel überfallen hat und seit einem Monat im Gazastreifen der Krieg tobt, ist der Ukraine-Krieg mehr oder weniger aus den Schlagzeilen geraten. Wie erlebt man denn das in Russland? Wird es als Vorteil gesehen, dass nun der Konflikt nicht mehr so präsent ist und damit auch Russland als kriegführender Staat?
Ulrich Heyden: Das wird in Moskau als Destabilisierung des internationalen Sicherheitssystems wahrgenommen. Dieser zusätzliche Krieg um Gaza wird in den russischen Medien und auch in der russischen Politik mit großer Besorgnis wahrgenommen. Weniger bedeutend ist die Hoffnung, dass dadurch die Waffenlieferungen an die Ukraine geringer werden könnten. Aber realistisch gesehen weiß jeder Experte in Russland, der sich mit der Sache beschäftigt, dass die USA die Ukraine jetzt nicht plötzlich fallen lassen werden, nur weil sie jetzt zusätzliche Waffen für Israel liefern müssen.
Das ist aber schon schwieriger geworden. Die Republikaner haben etwa das Paket, das Biden geschnürt hat, um die Hilfe für Israel mit der für die Ukraine und auch noch Gelder für die US-Grenze zu verbinden, abgelehnt und wollen nur die Hilfe für Israel genehmigen. Es gibt also schon Schwierigkeiten für die Ukraine, und es ist erwartbar, dass sie weniger wird, zumal keine Erfolge vorzuweisen sind.
Ulrich Heyden: Von einem russischen Experten, der früher Berater des Präsidenten der Volksrepublik Donezk Alexander Sacgartschenko war, sagte, dass die Demokraten in den USA während der Präsidentschaftswahlen keinen Krieg in der Ukraine gebrauchen können. Die Vorwahlen fangen ja im Januar an und ziehen sich dann bis zum November hin. Und das wäre gleichbedeutend damit – da hat er ein bisschen übertrieben -, dass die Russen praktisch ihren Finger am Knopf der US-Wahlen haben. Russische Erfolge im Ukraine-Krieg würden natürlich Biden unheimlich schaden. Die Amerikaner erwarten Erfolge.
Dass auf Seiten Washingtons eine Modifizierung der Politik gegenüber der Ukraine im Gange ist, darauf deutet eine Titelgeschichte im amerikanischen „Time“- Magazin hin. Die Titel-Story über Selenskij war in einem herabsetzenden Stil geschrieben. Auf der Titelseite stand: „Ich bin der Letzte, der noch an den Sieg glaubt“, und darunter ein kleiner Selenskij, der sich abwendet. Das steht im krassen Kontrast zum „Time“-Titel vor einem Jahr, als man Selenskij als „Mann des Jahres“ gefeiert hatte.
Im kürzlich erschienen „Time“-Artikel schreibt Simon Shuster, ein Russischstämmiger, der in den USA lebt, dass Selenskij beratungsresistent sei. Er würde nicht auf seine Berater hören, die ihm sagen, dass man sich nur noch verteidigen kann und nicht die Kraft hat, die Offensive weiter zu führen.
Zusätzlich gab es im britischen „Economist“ noch den Beitrag des ukrainischen Oberbefehlhabers, General Valeri Saluschnyj, der meinte, man brauche eine technologische Wunderwaffe, damit es sich lohnt, wieder anzugreifen. Das passt auch mit Berichten zusammen, die in den russischen Medien aus allen möglichen Quellen kommen. Auch Interviews mit Kriegsgefangenen, die sagen, sie würden in die Schlacht geschickt und die Kommandeure seien nicht verantwortungsvoll, sie hätten das Gefühl, dass sie nur Kanonenfutter sind. Das kann ich nicht alles überprüfen.
Ich lebe in Moskau und gebe nur das wieder, was ich hier vor allem von der russischen Seite höre. Bekannt ist, dass im Westen die Slowakei, Ungarn und andere Länder keine große Lust mehr haben, Militärgerät an die Ukraine zu liefern, und keinen Sinn mehr sehen, Geld zu geben. Der Hype, den die westlichen Medien nach der russischen Invasion gemacht haben, geht nun zu Ende. Selenskij soll ja gesagt haben, der Westen schaue sich das nur noch wie eine Show an, die läuft und läuft, aber auf die dritte Folge hat man schon keine Lust mehr. Das ist der Nachteil von einem übermäßigen Kriegshype, der irgendwann zusammenbricht, wenn sich der Erfolg, den man verspricht, nicht kommt. Jetzt fragt man sich natürlich, was der Westen oder die Amerikaner mit Seelenskij vorhaben.
„Die russische Propaganda berichtet über alle Minuspunkte des Westens“
Die Stimmung in den westlichen Medien geht mittlerweile von einem Stellungskrieg aus, der lange gehen wird. Die Ukraine leidet an Personalschwund, es gibt nicht genügend Soldaten, die Leute desertieren oder verletzen sich selber, um nicht kämpfen zu müssen. Russland hat einfach mehr Menschen, die mobilisiert werden können. Jetzt laufe es letztlich darauf zu, dass es zu Verhandlungen kommt, die Selenskij immer noch ablehnt. Saluschnyj, der Oberbefehlshaber, hat praktisch eingeräumt, dass es praktisch keine Aussicht auf einen Sieg gibt. Man spricht auch davon, dass Selenskij und Saluschnyj schon längere Zeit im Clinch liegen, was die Einschätzung der Lage betrifft. Wie ist denn die Stimmung in Russland? Weiß man denn überhaupt, wie hoch die Verluste sind? Wird darüber in Russland gesprochen?
Ulrich Heyden: Darüber wird nicht gesprochen. Ich weiß nicht, wie viele Russen überhaupt mit VPN arbeiten, also die Videos sehen können, in denen russische Kriegsgefangene etwas sagen, was vielleicht negativ für Russland ist. Es werden jedenfalls keine Zahlen veröffentlicht. Ich kenne nur die Zahlen von der ukrainischen Seite. Saluschnyi hat beispielsweise von 150.000 toten Russen gesprochen. Aber das ist eine ukrainische Zahl. Die Ukrainer sagen, wie viele Russen gestorben sind, und die Russen sagen, wie viele Ukrainer gestorben sind. Das sind keine wirklich verifizierbaren Zahlen. In russischen Blogs sieht man nicht diese Bilder von Friedhöfen mit einem Meer von Fahnen, wie man das aus der Ukraine sieht. Es ist sowieso nicht russische Sitte, Nationalfahnen aufs Grab zu stellen.
Also ist das praktisch kein Thema. Das ist merkwürdig, wenn man sich in einem Krieg befindet.
Ulrich Heyden: Im Stadtbild von Moskau sind große Plakate an Bushaltestellen oder Ausfallstraßen mit Soldaten, die ausgezeichnet wurden, das einzige, was an den Krieg erinnert. Das sind oft junge, ganz einfache Menschen in Uniform und mit Helm. Auf den Plakaten stehen der Name und der militärische Rang.
Auch Russland hat keine größere Territorialgewinne mehr gemacht. Es ist eine eingefrorene Front. Vor allem an zwei Stellen in Lugansk und in Donezk, genauer gesagt in Awdejewka oder Awdiiwka gibt es russische Offensiven. Aber es geht nichts wirklich voran in dem schon langen Krieg. Wirkt sich das nicht auf die Stimmung in Russland aus?
Ulrich Heyden: Nach den letzten Meinungsumfragen zum Krieg, die ich vor einem Jahr gelesen habe, unterstützten die Menschen überwiegend den Krieg. Weniger die Jungen, vor allem die älteren Menschen. Die neuesten Umfragen habe ich nicht gelesen, aber in meinem Umfeld nehme ich nicht wahr, dass die Leute groß Fragen stellen.
Ich habe gesagt, dass es nur die Plakate von den Soldaten in den Straßen gibt, aber es gibt täglich in den großen Zeitungen Reportagen von der Front. Auch im russischen Fernsehen gibt es massenhaft Berichte und in den Talkshows ist das eigentlich das Hauptthema. Aber da geht es viel um Geopolitik, weniger um konkrete Situationen.
Von der Front erfährt man wenig, man sieht die Geschütze, die feuern, aber selten etwas aus dem Alltag eines Soldaten. Aber sie bemühen sich schon, dass immer, wenn es irgendwas zu vermelden gibt, nicht ein General aus der Zentrale in Moskau das kommentiert, sondern ein Kommandeur vor Ort etwas vor einem Schützenpanzer berichtet. Da sieht man aber nicht die Umgegend, weil man aus jedem Bild die Position herauskriegen könnte.
Propaganda machen beide Seiten. Die russische Propaganda berichtet über alle Minuspunkte des Westens. Und gerade jetzt, wo der Westen zeigt, dass er unsicher ist, wie es mit der Ukraine weitergehen soll, wird darüber massiv berichtet. Das ist Thema in Interviews und geopolitischen Debatten. Russland sieht sich da in seiner Position gestärkt und man sagt, dass man von Anfang an angesagt hat, dass der Westen auf diese Weise nichts erreichen wird.
Ich spüre in meiner Umgebung und in dem, was ich so mitkriege, keine Ermüdung. Das könnte damit zusammenhängen, dass vielleicht in der russischen Armee nicht so ein Chaos herrscht. Ich habe mir heute ein Interview mit dem Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, angesehen, der sagt, die russische Armee sei jetzt besonders stark und hätte sogar an Stärke zugelegt. Das lässt sich aber schwer von mir beurteilen.
Warum ist die Stadt Awdejewka so umkämpft?
Die Stadt Awdejewka bei Donezk einzunehmen ist jetzt offenbar eines der Hauptziele russischen Militärs. Um die Stadt, die als Festung ausgebaut sein muss, scheint allmählich eingeschlossen zu werden. Warum ist sie so wichtig?
Ulrich Heyden: Die ist vor allen Dingen wichtig, weil sie nur 17 Kilometer von der Stadt Donezk entfernt liegt und sich der Beschuss von Donezk seit Februar 2022 verstärkt hat. Da vergeht kein Tag ohne Beschuss. Am 7. November starben in Donezk durch den Beschuss des Zentrums für Arbeit und sozialen Schutz im Woroschilow-Bezirk sechs Menschen. Die Ukrainer beschießen Donezk und Gorlowka und andere Städte mit mit HIMARS-Geschossen amerikanischer Bauart. Vor kurzem ist auch ein Krankenhaus getroffen worden.
Das ist natürlich für die Hauptstadt der Volksrepublik Donezk untragbar. Als ich letztes Jahr dort war, konnten die Kinder nicht in Kindergärten gehen, die Schüler hatten Fernunterricht und das gesamte Leben spielte sich in den Wohnungen ab. Die Leute haben sich daran gewöhnt, aber das ist natürlich kein Zustand für eine Stadt, die jetzt zur Russischen Föderation gehört. Deswegen hat die russische Armeeführung Anfang Oktober die Offensive auf Awdejewka gestartet.
Die russischen Streitkräfte können die Stadt Awdejewka nicht schnell einnehmen, weil dort eine Kokerei, eine Riesenfabrik steht, wo Schwefelsäure und viele andere chemische Stoffe lagern und verarbeitet werden. Wenn man da nicht vorsichtig ist, dann kann man da ökologische Katastrophe auslösen. Deswegen versucht die russische Armee, die Stadt von Norden und Süden mit einer Zangenbewegung einzuschließen.
Vor zwei Tagen wurde berichtet, die Zangen wären nur noch sechs Kilometer auseinander. Allerdings befinden sich in der Stadt 11.000 ukrainische Soldaten und noch einmal 25.000 sollen dazugekommen sein. Die Ukraine hat die Stadt mit dem Industriegebiet komplett ausgerüstet mit Betonbunkern, Tunneln und Sensoren, die jede Bewegung auf der Erde erspüren. Das hat praktisch verhindert, dass sich die Front in den letzten neun Jahren, seit Krieg um Donezk geführt wird, verändert hat.
An der Nordseite der Stadt Donezk ist schon die Front. Ich habe das selbst erlebt, dass man im Zentrum ständig das Wummern der Geschosse hört. Manchmal schlugen in Sichtweite von meinem Hotel Geschosse ein. Das ist für mich, der aus dem friedlichen Moskau kommt, schon eine extreme Belastung gewesen. Und das ist auch so für die Menschen, die dort leben.
Kann man denn sagen, wie viele Menschen aus dem Donbass weggezogen sind?
Ulrich Heyden: Nach meinem Gefühl letztes Jahr hat die Hälfte der Bevölkerung die Stadt verlassen. Viele, vor allem ältere Menschen, haben mir gesagt, wir haben keine andere Wohnung, wir können die Wohnung nicht mitnehmen. Was erwartet uns woanders? Da wartet niemand auf uns. Wir bleiben hier und wir leben in unserer Heimat. Hier sind die Gräber unserer Vorväter. Und es gibt Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Kindergärten. Kindergärten waren im letzten Jahr abernicht in Betrieb und ich habe auch nur selten Kinder gesehen. Auf den Straßen war wenig los. Alles spielte sich in den Wohnungen ab. Dazu kommt, dass es diese Schmetterlingsminen gibt, die bei Berührung explodieren. Auch Journalisten sind durch sie schon verletzt worden. Für Kinder sind sie sehr gefährlich.
Ich möchte noch sagen, dass es im Donbass vier Gebiete gibt, die umkämpft sind. Das ist die Stadt Awdejewka, dann die Stadt Kubjansk bei Charkow und Bachmut. Und dann gibt es noch eine Stelle im Gebiet Saporoschschja, wo es die Ukrainer mit einer ihrer besten Einsatzgruppen geschafft haben, auf das linke Ufer des Dnjepr zu gelangen. 300 Mann wurden da abgesetzt und die ukrainische Artillerie ist in der Lage, diese Sturmtruppen mit ihren weitreichenden Artillerie zu schützen. Einen festen Stützpunkt konnten sie auf dem linken Ufer noch nicht einrichten und auch keine schwere Waffen dahin bringen. Der Fluss Dnjepr ist eigentlich 3,5 Kilometer breit, aber durch die Sprengung des Kachowka- Staudamms ist der Wasserstand gesunken und der Fluss nur noch einen Kilometer breit. Deswegen konnten sie leichter übersetzen.
In Russland heißt es, das sei vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver, um russische Kräfte aus Awdejewka abzuziehen. Wenn den Russen gelingt, Awdejewka zu umzingeln und von einer wichtigen Eisenbahnlinie, die nach Norden führt, abzuschneiden, wäre das propagandistisch ein großer Erfolg. Auch für die Menschen in der Stadt Donezk wäre das eine große Erleichterung. Man weiß nicht, wie viele Bunker und Tunnels dort gebaut wurden. Das ukrainische Militär hat sich in den acht Jahren perfekt auf einen Kampf vorbereitet.
„Das Ziel der Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine wird weiter verfolgt“
Das erinnert an die Hamas im Gazastreifen, die sich mit einem riesigen Tunnelsystem auch entsprechend vorbereitet haben. Man hört immer mal wieder, dass in Russland von der Möglichkeit von Friedensverhandlungen gesprochen wird, aber auf realistischer Basis. Das heißt, die jetzt besetzten Gebiete müssten bei Russland bleiben. Ist das in etwa die Position der russischen Regierung, falls es zu Gesprächen kommt?
Ulrich Heyden: Die Russen sagen eigentlich vor allen Dingen, dass Selenskij nicht verhandeln will. Er hat sogar ein Gesetz erlassen, in dem er das verboten hat. Putin wiederum sagt, man könne verhandeln, aber die gesamte russische Intonation, die ich hier mitkriege, ist so, dass man das Ziel der Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine weiterverfolgt. Von der Entnazifizierung höre ich in letzter Zeit weniger.
Demilitarisierung würde nicht heißen, dass Russland die ganze Ukraine besetzt – oder doch?
Ulrich Heyden: Nein. Also es gibt Debatten, dass man das ehemalige Galizien, also die westlichsten Bezirke der Ukraine, die bis 1939 zu Polen gehörte und wo man besonders ukrainisch national eingestellt ist, nicht will. Das wäre dann der Puffer zwischen Russland und der NATO. Aber man möchte das gesamte Gebiet zumindest nicht erobern, aber sicher sein, dass es in Kiew eine Regierung gibt, die keinen NATO-Beitritt beschließt und normale diplomatische Beziehungen mit Russland hat. Das ist das, was die Russen nach wie vor wollen.
Könnte man das mit Israel vergleichen, wo der israelischen Regierung vorgeworfen wird, die Hamas zusammenbomben zu wollen, aber keinen Plan zu haben, was danach mit dem Gazastreifen geschehen soll? Ist das in Russland ähnlich, dass man die Ukraine entnazifizieren und demilitarisieren will, aber nicht weiß, was konkret passieren soll, also etwa ob weitere Teile mit Ausnahme von Galizien annektiert werden sollen. Wird das in den Medien diskutiert?
Ulrich Heyden: Der Unternehmer Wiktor Medwedtschuk, der 2002 bis 2005 Leiter der Präsidialverwaltung unter Präsident Kutschma und später Vorsitzender der „Oppositionsplattform – Für das Leben“ war und von dessen Tochter Putin der Patenonkel ist, wurde 2022 vom ukrainischen Geheimdienst entführt und dann ausgetauscht gegen Gefangene vom Asow-Bataillon. Er lebt jetzt in Moskau. Ab und zu sieht man in russischen Zeitungen Beiträge von ihm, in denen er sich über die Ukraine äußert. Er ist wohl einer von denen, die die Russen gerne in der Leitung einer neuen ukrainische Regierung hätten. Nach dem Putsch undwährend des Putsches 2014 sind fast alle Minister, die Janukowitsch nahestanden, nach Russland geflüchtet. Diese ehemaligen Minister oder Leute aus ihrer Umgebung ständen wohl als mögliche Kader bereit. Die Frage ist, ob sie in der Ukraine noch eine Rolle spielen können. Meiner Ansicht nach haben sie nach neun Jahren den Kontakt zur Bevölkerung verloren.
Von russischen Ukrainern oder ukrainischen Russen
Vor allem in dem Teil der Ukraine, der jetzt von Kiew kontrolliert wird, würde wahrscheinlich die Bereitschaft nicht so groß sein, von einer russischen Marionettenregierung regiert zu werden.
Ulrich Heyden: Ich würde sagen, das ist gespalten. Also ich glaube, dass es in den Gebieten, die Russland schon erobert hat, immer eine prorussische Stimmung gegeben hat. In der Zentralukraine gibt es vermutlich auch einen Teil der Bürger, der trotz der russischen Invasion und dem Leid, dass sie erleben, Russland gegenüber zumindest nicht feindlich eingestellt sind. Das ist aber nur eine Vermutung. Ich kann mir natürlich auch vorstellen, dass sich im Krieg Aggressionen aufbauen.
Es ist jetzt gerade bekannt geworden, dass eine Abgeordnete der „Diener des Volkes“, also der Partei von Selenskij, glatt gesagt hat, es gebe keine russische Minderheit in der Ukraine, nur russisch sprechende Ukrainer. Sie war mit der Forderung der EU konfrontiert worden, dass die Nationalitätenpolitik der Ukraine an europäische Standards angepasst werden muss. Das betrifft die Ungarn und die Russen, also größere nationale Minderheiten, die in den letzten acht Jahren wichtige nationale Rechte verloren haben.
Anders gefragt: Wie würde man denn einen ukrainischen Russen definieren wollen? Also jemand, der eigentlich ein Russe ist, aber in der Ukraine lebt.
Ulrich Heyden: Das ist eben das Interessante an der Ukraine. Das spielte bis 2013 keine Rolle.
Russland sagt, man habe die russische Bevölkerung in der Ukraine durch den Angriff schützen müssen. Die Frage ist, wie man Russen in der Ukraine definieren würde. Nur durch die Sprache?
Ulrich Heyden: Die ukrainische Politikerin hat gesagt, es gibt keine juristische Person, die die russische Minderheit vertritt. Das ist lächerlich, weil die meisten Oppositionsparteien – wie auch die „Oppositionsplattform für das Leben“ – von Russischsprachigen gegründet, aber seit 2014 verboten wurden. Russische Denkmäler wurden gestürzt, sogar das Denkmal des russischen Dichters Aleksandr Puschkin oder von Generälen, die die Ukraine 1943/44 von den Nazis befreit haben. Russische Bücher wurden aus den Regalen entfernt usw. Da, wo mehr Russen leben, also um Charkow, Donezk, Lugansk und Odessa, würden sich wahrscheinlich viele dafür einsetzen, dass in ihren Schulen normal Russisch unterrichtet wird. Deswegen sind sie ja schon 2014 auf die Straße gegangen, weil das Parlament damals entschieden hat, dass Russisch seinen Status als Regionalsprache verliert.
Wenn man ein Resümee ziehen wollte, will die ukrainische Führung weiterkämpfen, bis sie alle Gebiete zurückerobert hat, auch den Donbass und die Krim, während die russische Regierung die besetzten Gebiete behalten und eine russlandfreundliche Ukraine installieren will. Es gibt doch sehr viele Ukrainer, die in Russland leben.
Ulrich Heyden: Nach den neuesten russischen Zahlen sind seit Februar 2022 fünf Millionen Ukrainer nach Russland übergesiedelt.
Wie macht sich diese ukrainische Community in Russland bemerkbar? Wird der Kreml von deren Vertretern in eine bestimmte Richtung gedrängt?
Ulrich Heyden: Ich kriege davon wenig mit. Zum Beispiel gab es im Kreml am 4. November, dem „Feiertag der Volkseinheit“, ein Konzert im Kreml-Konzertsaal. Da wurden russische, aber auch zwei ukrainische Volkslieder in ukrainischer Sprache gesungen. Das fand ich wie einen Fingerzeig, was man über das Fernsehen den Ukrainern demonstrieren will: Wir sind Freunde und wir wollen mit euch freundschaftlich leben. Im Alltag treffe ich kaum auf Ukrainer. Ich habe erfahren, dass sie in den letzten zwei Jahren große Probleme wegen der ganzen Dokumente hatten. Vor allem in den neuen Gebieten Russlands wurden nicht nur nur neue Pässe ausgegeben, sondern es wurde auch die gesamte staatliche Ordnung an die von der Russischen Föderation angeglichen. Bei den Dokumenten, welche die Bürger und die Übersiedler nach Zentral-Russland benötigen, gab es wohl eine ganze Menge Probleme, lange Wartezeiten usw. Die russische Bürokratie ist oft sehr schwerfällig.
Ich meinte jetzt nicht nur Flüchtlinge, sondern Ukrainer, die in Russland arbeiten und schon länger da sind. Es gibt doch sicher Communities oder Organisationen, wie sie es hier im Westen auch gibt?
Ulrich Heyden: Vom Gefühl her würde ich jetzt antworten, die Ukrainer, die in Russland sind, haben ihre Familien, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen, ihre Freundeskreise. Man versucht einfach, in der russischen Gesellschaft irgendwie anzukommen, die meisten sprechen ja auch Russisch. Es gibt Anlaufstellen, die sich um die die Rechte der Menschen kümmern und sie beraten. Aber ob es politische Forderungen gibt, weiß ich nicht. Organisationen der Ukrainer sind mir nicht bekannt.
Darf man denn jetzt wieder von Krieg sprechen oder wird immer noch gefordert, dass man nur von der Spezialoperation reden darf?
Ulrich Heyden: Wenn ich mit Deutschen spreche oder für deutsche Medien schreibe, rede ich vom Krieg. In Russland hingegen hat sich der Begriff „Spezialoperation“ eingebürgert. Krieg sagt man eigentlich nicht. In ganz zugespitzten Debatten oder Talkshows kann es vorkommen, dass das mal jemanden rausrutscht. Putin sagte, die Strategie sei jetzt eine offensive Verteidigung. Es gibt schon seit mehreren Monaten höchstens noch kleine Geländegewinne. Da würde sich Krieg überzogen anhören.
Ich habe vergessen zu sagen, was eigentlich sehr wichtig ist, dass es nicht nur diese vier Brennpunkte gibt, die ich erwähnt hatte, sondern es gibt auch einen Terror gegen die Krim und die russischen Gebiete wie Belgorod und Kursk mit Drohnen und Raketen. In Kursk wurde vor wenigen Tagen eine Molkerei mit einer Drohne angegriffen. Das ist meiner Ansicht nach die Taktik der Ukraine, weil sie an der Front nichts mehr erreichen.
Aber das machen doch die Russen auch, wenn sie das Hinterland angreifen und man immer nicht genau weiß, ob das wirklich militärische Ziele sind oder Infrastruktur, die lahmgelegt werden soll? Fallen nur Teile von abgeschossenen Raketen oder Drohnen auf Wohnhäuser oder werden sie irrtümlich oder absichtlich beschossen?
Ulrich Heyden: Die Russen sagen, dass sie nur militärische Infrastruktur treffen. Es kann natürlich sein, dass Trümmerteile auf Häuser fallen, wenn die Ukraine die Raketen abschießen, das kann man nicht ausschließen. Aber ich glaube schon, wenn Russland in der Ukraine als freundlichem Staat irgendwann einmal wieder Einfluss haben will, dann wäre es absolut kontraproduktiv, wenn man einfach so Raketen, wie die Ukrainer das machen, in Molkereien, Schulen oder Kindergärten reinschießt. Wenn man schon Krieg führt, was ich überhaupt für schrecklich halte, werden die Russen bestimmt nicht so dumm sein, einfach aus der Laune heraus in irgendwelche Wohngebiete zu schießen. Also ich habe keine Belege für diesen Vorwurf gegen Russland. Vielleicht habe ich zu wenig ukrainische Medien verfolgt.
In der ukrainischen Propaganda heißt es natürlich schon, dass zivile Ziele absichtlich beschossen worden seien, wenn ein Gebäude beschädigt wurde. Aber es sieht anders aus, als das, was man jetzt im Gazastreifen sieht, wo Städte platt gemacht werden. Man scheint in Russland vorsichtiger zu sein, obwohl Mariupol und andere Städte auch zerschossen wurden, wahrscheinlich von beiden Seiten.
Ulrich Heyden: Der Unterschied ist, dass man in russischen Medien keine Äußerungen über „verruchte Ukrainer“ oder „Naziukrainer“ finden wird. Gut, die Regierung in Kiew wird als Nazis bezeichnet. Man kann vermuten, dass Putin und andere insgeheim hoffen, dass die ukrainische Armee doch noch zur Besinnung kommt. Viele ukrainische Offiziere sind ja mit Russen zusammen ausgebildet worden. Es gibt viele historische Gemeinsamkeiten. Die russische Medienpropaganda zielt auf Selenskij. Der wird als jemand geschildert, der Drogen nimmt und nicht zurechnungsfähig ist, wenn er sagt, man werde Russland besiegen. Wie kann ein Land, das Probleme hat, Soldaten zu finden, Russland besiegen? Wie kann ein normaler denkender Mensch so etwas sagen?
Ich würde vorsichtig sein, jetzt die Russen mit den Israelis zu vergleichen. Aber in Kriegen, wo alles sehr zugespitzt ist und die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten leidet, kann man über solche Vergleiche natürlich schon mal nachdenken. Die russische Ideologie ist absolut nicht gegen die einfachen Ukrainer gerichtet, dafür gibt es keine Belege. Auch die ukrainische Sprache wird nicht unterdrückt. Ich war ja selber oft in Lugansk und Donezk. Zumindest als ich dort war, gab es immer noch ein oder zwei Stunden Ukrainisch-Unterricht an den Schulen, während die Leute jetzt vor allem Russisch sprachen. Das habe ich auch auf der Krim gesehen. Als ich 2017 dort war, wurde gerade eine ganz neue Schule, die schon Jahrzehnte geplant war, für Krimtataren eröffnet. Die Krim hat auch in ihrer Verfassung stehen, dass alle Völker, die auf der Krim leben, also die Tataren, die Ukrainer und die Russen, ihre Sprache frei ausüben können.
Inwieweit das alles real auch umgesetzt wird, das ist eine andere Frage. Im Donbass habe ich schon bemerkt, dass die ukrainische Sprache diesen Beigeschmack hatte, die Sprache des Gegners zu sein. Ich will das auch nicht idealisieren, also sagen, alle hätten auf der Straße Ukrainisch gesprochen. Das habe ich zum Beispiel nicht gemerkt, aber es war zumindest als Anspruch noch da. Zum Beispiel gab es an den Schulen in Lugansk, an den Denkmälern und in Museen überall noch die ukrainischen Tafeln, auf denen draufstand, was das für ein Gebäude oder für ein Denkmal ist. In Lugansk steht ein riesiges Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, das nicht gestürzt wurde. Dagegen sind Denkmäler von Lenin oder Puschkin in der Ukraine schon lange gestürzt worden. Den Wunsch, eine andere Kultur zu vernichten, indem wie in der Ukraine beispielsweise Bibliotheken von russischen Büchern gesäubert werden, das gibt es in den Volksrepubliken nicht.
Das Gespräch wurde am 10. 11.2023 geführt. Leicht überarbeitete Abschrift.
veröffentlicht in: Overton Magazin
Die Video-Fassung des Interview kann man hier sehen