Stalin-Porträt am Aleksandrowka-Kontrollpunkt zwischen DNR und Ukraine. Bild: Ulrich Heyden 2018
Vereinbart wurde außerdem die Reparatur des 2015 von der Ukraine zerstörten Brückenteils am Grenzkontrollpunkt Staniza Luganskaja. Durch die teilweise Zerstörung der Brücke war es vor allem für ältere Menschen ohne Hilfe unmöglich geworden, die Grenze zu überqueren (OSZE-Video).
Es sollen auch befestigte militärische Anlagen an dem Grenzkontrollpunkt abgerissen und eine neutrale Zone eingerichtet werden. Bereits Anfang Juli war es unter Vermittlung der OSZE gelungen, dass beide Seiten ihre schweren Waffen vom Grenzkontrollpunkt Staniza Luganskaja abziehen.
Waffenruhen waren in Minsk schon häufiger beschlossen worden, doch man hielt sie nach kurzer Zeit nicht mehr ein. Dass es am Mittwoch zu dieser Einigung kam, hat wohl vor allem mit den ukrainischen Parlamentswahlen am 21. Juli zu tun. Für die vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski gegründete Partei "Diener des Volkes", welche nach Umfragen fast die Hälfte der Stimmen bekommt, ist die Ankündigung einer Waffenruhe ein starkes Argument, um Wähler an die Wahlurne zu mobilisieren.
Zu der vereinbarten Waffenruhe erklärte Dmitri Peskow, der Sprecher des russischen Präsidenten: "Das ist sehr wichtig. Wir hoffen, dass diese Vereinbarung gefestigt wird durch konkrete Maßnahmen gegen den Bruch des Waffenstillstands und für die Sicherstellung der allgemeinen Waffenruhe."
Am 11. Juli hatten Putin und der ukrainische Präsident Selenski telefoniert. Bei dem Telefongespräch welches auf Initiative von Selenski zustande kam, ging es um eine Regulierung des Konfliktes in der Ost-Ukraine.
Weg zum Luftschutzkeller. Kennzeichnung an einem Wohnhaus. Bild Ulrich Heyden 2018
Der Präsident der "Volksrepublik Donezk" (DNR) Denis Puschulin sagte am 11. Juli, es gäbe, obwohl die ukrainische Armee ihre Truppen nahe dem Grenzkontrollpunkt Staniza Luganskaja von der "Kontaktlinie" abgezogen habe, an den übrigen Abschnitten der Kontaktlinie "massiven Beschuss von Wohnhäusern und Objekten der zivilen Infrastruktur" durch die ukrainische Armee. Die Situation habe sich sogar "verschlechtert".
Das Dorf Krasnoarmejskoje im Süden der DNR sei aufgrund "ununterbrochener Beschießungen fast vollständig zerstört. Auf diesen Ort habe die ukrainische Armee "in den letzten Tagen 71 Artilleriegeschosse vom Kaliber 152 Millimeter abgeschossen". Am 14. Juli meldeten die DNR-Militärs, die ukrainische Seite habe 40 Granaten auf die Vororte der im Norden der DNR gelegene Stadt Gorlowka abgeschossen.
Gefahr droht den Volksrepubliken nicht nur an der "Kontaktlinie", welche die "Republiken" von der Ukraine trennt, sondern auch im Innern. Ukrainische Spezialeinheiten haben - nach Angaben der DNR-Sicherheitsbehörden - in den vergangenen drei Jahren drei bekannte DNR-Kommandeure liquidiert, Arsen Pawlow (genannt "Motorola"), Michail Tolstych ("Givi") und DNR-Präsident Aleksandr Sachartschenko.
Möglich sind diese Terrorakte, weil es zu den "Volksrepubliken" vom Gebiet der Ukraine einen freien Zugang und Abzug gibt. An den Grenzkontrollpunkten gibt es täglich regen Verkehr. Zivilisten aus der Ukraine können die "Volksrepubliken" zu Fuß oder mit dem Auto über Grenzkontrollpunkte besuchen. Auch Bürger der "Volksrepubliken" besuchen ihre Verwandten in der Ukraine oder holen sich in der Ukraine ihre Renten ab. Viele DNR-Bewohner haben auch Datschen auf der anderen Seite der "Kontaktlinie".
Am 27. Juni 2019 feierte der ukrainische Geheimdienst einen neuen Triumph. Im Gebiet der international nicht anerkannten "Volksrepublik Donezk" (DNR) wurde der ehemalige Kommandeur der DNR-Luftabwehr, Wladimir Zemach, von einer ukrainischen Spezialeinheit gefangen genommen und nach Kiew entführt, wo er sich seitdem in Haft befindet (Spektakuläre Geheimdienstaktion).
Wladimir Zemach wohnte in der Stadt Sneschnoje. Nicht weit von dieser Stadt wurde am 17. Juli 2014 das malaysische Passagierflugzeug MH 17 abgeschossen. Der gefangen Genommene ist nach Meinung ukrainischer Sicherheitsorgane "ein Zeuge" im Fall des abgeschossenen malaysischen Passagierflugzeuges MH 17.
Die ukrainischen Behörden werfen dem Entführten "die Bildung einer terroristischen Gruppe" vor. Zemach wurde vorerst zu zwei Monaten Haft verurteilt. Vertreter des internationalen Roten Kreuzes wurde ein persönliches Treffen mit Zemach verwehrt, teilte die Tochter des Entführten mit.
Der Name von Zemach findet sich nicht unter den vier von den niederländischen Behörden für den Abschuss der malaysischen Passagiermaschine genannten Verdächtigen. Die russischen Behörden gehen davon aus, dass das Passagierflugzeug von einer ukrainischen Buk abgeschossen wurde. Die Entführung von Zemach - drei Wochen vor dem fünften Jahrestag des Absturzes der MH 17 - legt nahe, dass die ukrainischen Behörden erneut "beweisen" wollten, dass Russland und pro-russische Separatisten für die Katastrophe vom 17. Juli 2014 verantwortlich sind.
Am 15. Juli hielt DNR-Präsident Puschilin eine Beratung mit Vertretern der DNR-Sicherheitsorgane ab, auf der er erklärte, die Tätigkeit des ukrainischen Geheimdienstes habe sich "wesentlich verstärkt". Die Ereignisse der letzten Tage zeigten, "dass der Feind uns näher ist, als wir denken". Diese Äußerung war offenbar eine Anspielung auf die Entführung des ehemaligen DNR-Kommandeurs Wladimir Zemach.
Wie das Leben heute in Donezk ist, frage ich Olga. Die etwa 55 Jahre alte Frau, die ihr ganzes Leben in Donezk wohnte, antwortet: "Es ist schwieriger geworden. Es wird wieder geschossen." Gemeint sind die Beschießungen an der sogenannten "Kontaktlinie", der Front also, die am nördlichen Stadtrand von Donezk verläuft.
Olga lebt seit einiger Zeit in Moskau, wo sie sich Geld als Verkäuferin verdient. "Die Stadt Donezk ist leerer geworden", sagt sie. "Viele sind nach Kiew, Moskau, St. Petersburg oder auf die Krim gefahren, um Geld zu verdienen. Immerhin sieht die Stadt gepflegt aus. Die Straßen sind sauber und es gibt gepflegte Rosenbeete."
Schützengraben des Bataillons Schachtjorsk der "Volksrepublik Donezk" nicht weit von Aleksandrowka. Bild: Ulrich Heyden 2018
Anfang Juli war Olga zwei Wochen auf Urlaub in ihrer Heimatstadt Donezk. In ihrem Haus am Nordrand von Donezk konnte sie nicht wohnen. "Das Haus liegt in der Nähe des Flughafens, nicht weit von der Frontlinie. Da ist es zu gefährlich." Deshalb wohnte sie bei einer Freundin im Stadtzentrum.
Womit wird geschossen?, frage ich Olga. Sie antwortet: "Mit schwerer Artillerie. Die Ukraine hat Truppen an die Grenze verlegt. Man hört die Schüsse bis in die Innenstadt. Es geht morgens um vier los, verebbt dann und flammt am Tage immer wieder auf. Und dann gibt es abends nochmal Beschüsse." Ob die Streitkräfte der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk (DNR) zurückschießen? "Vermutlich ja, aber genau kann ich das nicht sagen."
In den beiden "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk leben nach offiziellen Angaben der neuen Behörden 3,6 Millionen Menschen. Wie groß die Bevölkerung im April 2014 war, also zum Zeitpunkt als die Ukraine ihre "antiterroristische Operation" gegen die Separatisten begann, ist schwer zu ermitteln. Denn die "Volksrepubliken" kontrollieren nur den kleineren Teil der ukrainischen Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk. Soviel aber weiß man: 2013 lebten in den beiden Verwaltungsgebieten, in denen sich der wichtigste Teil der ukrainischen Industrie befand, 6,6 Millionen Menschen.
Küchen-Bereich des Bataillons Schachtjorsk in der "Volksrepublik Donezk". Bild: Ulrich Heyden 2018
In den "Volksrepubliken" ist der russische Rubel das offizielle Zahlungsmittel. Was die Leute verdienen?, will ich von Olga wissen. "Die Löhne sind erbärmlich niedrig. 8.000 Rubel (114 Euro) im Monat ist schon ein guter Lohn. Ein Abteilungsleiter verdient 20.000 Rubel (285 Euro). Ein Rentner bekommt 3.000 Rubel (42 Euro) im Monat." Bergarbeiter verdienen vermutlich mehr. Als der Autor dieser Zeilen 2015 einen Kohleschacht in der Stadt Makejewka besuchte, berichteten ihm Bergarbeiter, sie bekämen umgerechnet 300 Euro im Monat. Doch nicht immer wurde pünktlich gezahlt.
Wie die Menschen bei solchen geringen Einkommen leben können? Die Preise für Grundnahrungsmittel seien niedrig, sagt Olga. "100 Gramm Speck kosten auf dem Markt 100 Rubel (1,4 Euro). In Moskau kosten 100 Gramm Speck 400 Rubel. Ein Brot kostet zehn oder 20 Rubel (28 Cent), in Moskau 60 Rubel. Eine Fahrt mit der Straßenbahn kostet in Donezk (vier Cent). Für Rentner ist der öffentliche Nahverkehr kostenlos. Drogerie-Artikel sind teurer. Meine Freundin, bei der ich im Stadtzentrum wohnte, hat noch einen Garten. Dort baut sie Gemüse an."
Ob die Menschen noch hinter der Volksrepublik Donezk stehen, will ich wissen. Oder wollen sie zurück in die Ukraine? "Auf keinen Fall! Nur nicht das!" sagt Olga. Viele Menschen stünden Schlange, um einen russischen Pass zu bekommen. Das sei nicht einfach. Man müsse erstmal einen DNR-Pass beantragen. Über einen bestimmten Zeitraum müsse man sich dann immer wieder bei dem zuständigen Amt registrieren lassen, um zu zeigen, dass man auch in der "Volksrepublik" wohnt. "Dann kann man einen russischen Pass beantragen. Das Ganze dauert drei Monate."
Ich will ich von Olga wissen, was sie von dem neuen Präsidenten Selenski hält. Sie überlegt nicht lange. "Er ist wie Poroschonko. Er lässt sich wählen und verspricht den Leuten Frieden und Verständigung. Doch dann ändert er seinen Kurs. Ich glaube Selenski ist noch schlimmer als Poroschenko. Eigentlich ist er ja kein Politiker. Er ist unerfahren. Und ich glaube, er wird von bestimmten Kräften gesteuert."
Nur drei Tage nach der ukrainischen Präsidentschaftswahl, aus denen Selenski als Sieger hervorging, hatte der russische Präsident einen Erlass unterschrieben, nachdem Bürger der "Volksrepubliken" in einem "vereinfachten Verfahren" die russische Staatsbürgerschaft beantragen können. Die Menschen in den "Volksrepubliken" waren froh. Darauf hatten sie lange gewartet. Die westliche Presse war erzürnt. Putin gebe Selenski keine Chance für seinen Start als Präsidenten, hieß es.
Am 17. Juli legte der russische Präsident nach. Er unterschrieb einen Erlass, nachdem auch die Bürger, die auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium der Gebiete Donezk und Lugansk leben, einen russischen Pass beantragen können. Ihre ukrainische Staatsbürgerschaft brauchen die Antragssteller dafür nicht aufgeben.
Im Zentrum von Donetzk. Bild: Ulrich Heyen 2018
Die Ausgabe von russischen Pässen scheint vor allem ein propagandistisches Instrument von Putin zu sein. Denn die Mühlen der russischen Bürokratie mahlen langsam. Die Menschen müssen oft mehrere Tage vor den zuständigen Ämtern Schlange stehen. Immerhin kann man sich beim Einwohnermeldeamt in Donezk seit dem 1. Juli auch elektronisch einen Termin holen.
Bisher liegen den russischen Behörden 12.000 Pass-Anträge aus den "Volksrepubliken" vor. Aber nur etwas mehr als 2.000 Bürger aus den Volksrepubliken hatten bis Anfang Juli ihren beantragten russischen Pass bekommen.
Man kann Putin schwerlich vorwerfen, dass er es sich mit seiner Entscheidung, Pässe auszugeben, leicht gemacht hat. Denn der Großteil Bürger der "Volksrepubliken" hoffte schon in der Hochphase des Krieges 2014/15, dass Russland die "Volksrepubliken unter seine Obhut nimmt. Diesen Eindruck zumindest gewann der Autor dieser Zeilen bei mehreren Besuchen in der "Volksrepublik Donezk".
Dass Putin gerade jetzt die Ausgabe von Pässen forciert, hat wohl damit zu tun, dass Präsident Selenski keinerlei Anzeichen macht, Gespräche mit den Führungen der "Volksrepubliken" - wie im Minsker Abkommen vorgesehen - aufzunehmen, dass die Beschießungen der "Volksrepubliken" durch die ukrainische Armee zunehmen und dass das Unverständnis über die harte Haltung Kiews gegenüber den "Volksrepubliken" in Teilen der westlichen Öffentlichkeit zunimmt.
Putin hatte die Ausgabe von russischen Pässen mit der humanitären Situation in den "Volksrepubliken" begründet. Im Dezember 2014 hatte die Ukraine die Zahlung aller Sozialleistungen an die Bevölkerung der "Volksrepubliken" eingestellt. Russland versorgte die Menschen in den "Volksrepubliken" mit humanitärer Hilfe und übernahm offenbar auch die Rentenzahlungen. Ein russischer Pass erleichtert den Bewohnern der "Volksrepubliken" die Arbeitsaufnahme, ein Studium oder einen Krankenhausbesuch in Russland.
Das Außenministerium von Kanada erklärte, man werde keine Bürger der "Volksrepubliken" mit russischen Pässen einreisen lassen. Scharfer Protest zur Ausgabe von russischen Pässen an Bürger der "Volksrepubliken" kam auch von Seiten der Vertreter der EU. Doch Menschen aus den "Volksrepubliken" zu identifizieren, wird nicht einfach sein. Dass russische Innenministerium erklärte, in die Pässe für die Bürger der "Volksrepubliken" würden weder "der frühere Wohnort im Ausland" noch "die frühere Staatsbürgerschaft" eingetragen.
Im Jahr 2016 befanden sich nach Angaben der russischen Migrationsbehörde 1,1 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland. Die überwiegende Zahl der Flüchtlinge bekamen in Russland nur ein auf drei Monate begrenztes Aufenthaltsrecht und wurde nicht als Flüchtlinge anerkannt. In der Ukraine gab es 2016 900.000 Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten Donezk und Lugansk.
Es sind nicht nur die ständigen militärischen Spannungen, welche die Menschen aus der Konfliktzone flüchten lässt. Es ist auch die instabile wirtschaftliche Situation im Kriegsgebiet, welche die Menschen zur - wenn manchmal auch nur zeitweisen - Umsiedlung in die Zentral-Ukraine, in die EU oder nach Russland zwingt.
veröffentlicht in: Telepolis