Eine der Kriegsparteien ist Russland. Gorbatschow predigte einst, dass Russland "einen Platz im Haus Europa haben wird". Ist diese "Vision" Gorbatschows in Anbetracht der gegenwärtigen Kriegssituation nicht ebenso falsch wie seine anderen Vorhersagen?
Ich fand es gut, dass zwischen den westlichen Ländern und der Sowjetunion beziehungsweise Russland Ende der 1980er Jahren ein Gesprächsprozess begann, der zur Abrüstung strategischer Waffen und zur Charta von Paris führte, in der ein gemeinsames Europa von Lissabon bis Wladiwostok skizziert wurde. Gespräche und Diplomatie sind besser als „den Finger am Abzug“ halten.
Allerdings war die Gesprächsbereitschaft des Westens kühl kalkuliert. Das Ziel des Westens war es, Russland zu weitreichender Abrüstung und zu einem Systemwechsel zu motivieren, damit Russland seine militärische Stärke verliert und die westlichen Großunternehmen den ungehinderten Zugang zu russischen Rohstoffen bekommen.
Die Sowjetfunktionäre ließen sich von den Abgesandten des Westens einwickeln oder wollten sich einwickeln lassen. Sie haben ihr Land geschwächt und bisher keine Rechenschaft darüber abgelegt. Für die zahlreichen Zugeständnisse verlangte die sowjetische Führung keine schriftlich fixierte Gegenleistung.
Was wäre eigentlich nötig gewesen? 1. Der Westen erbrachte keine militärische Gegenleistung für den Abzug russischer Truppen aus Ostdeutschland. Eine wirkliche Gegenleistung von deutscher Seite wäre gewesen, wenn die USA ihre Atomwaffen aus Westdeutschland abgezogene hätten. 2. Soziale Mindeststandards für die sowjetische Bevölkerung während des Übergangs in den Kapitalismus wurden nicht fixiert. 3. Die für das Staatsbudget wichtigen Rohstoff-Unternehmen wurden nicht von der Privatisierung ausgenommen. 4. Massive Kapitalflucht in Offshore-Zonen wurde ermöglicht, weil der Staat die Kontrolle der Devisen aufgab.
Einem großen Teil der Russen, die heute über 50 sind, ist der faktische Ausverkauf Russlands durch Gorbatschow und Jelzin seit Mitte der 1980er bewusst. Viele Russen würden es begrüßen, wenn der Staat die Oligarchen jetzt entmachtet und die Rohstoff-Unternehmen wieder in staatlichen Besitz überführt. Diese Forderung wird zurzeit immer akuter, weil die Realeinkommen kontinuierlich sinken und die einfache Bevölkerung in Folge von Sanktionen und Krieg existenzielle Opfer bringen muss, im Gegensatz zu den Oligarchen, die zwar ein paar Milliarden verlieren aber immer noch Milliardäre bleiben. Auch sieht man die Kinder der reichen russischen Oberschicht nicht an der Front in der Ukraine kämpfen. Die Risiken sind also extrem ungleich verteilt.
In seiner letzten Rede vor Beginn des Krieges am 22. Februar 2022 erklärte Putin, dass Ukrainer und Russen eine Nation seien und dass die Bolschewiken und Lenin der Grund dafür seien, dass sie heute als unterschiedliche Nationen auftreten. Was ist Ihre Meinung zu den Zielen dieser Doktrin?
In seiner Rede vom 12. Juli 2021 „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ erklärte Wladimir Putin, Russen und Ukrainer seien „ein Volk“ („odin narod“). Das Wort „Narod“ hat im Russischen zwei verschiedene Bedeutungen. Das Wort kann für eine „Nation“, es kann aber auch für eine „ethnische Gruppe“ stehen.
Putin bezog sich in seiner Rede auf eine ethnische Gruppe und zwar auf die Geschichte der drei slawischen Völker, Russen, Ukrainer und Weißrussen. Die seien – so der Kreml-Chef - Nachkommen der „Rus“. Dieser flächenmäßig große Staat existierte von 862 bis 1132. Sein Territorium erstreckte sich Nowgorod und dem Ladogasee im Norden bis nach Kiew im Süden. Die Völker im Staat „Rus“ hatten mit altrussisch eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen russisch-orthodoxe Glauben.
Soweit ist an Putins Ausführungen nichts auszusetzen. Er gibt die Geschichte wieder, wie sie war. Doch beim Thema Ukraine und Lenin verlässt Putin die Methode eines Historikers, die Geschichte aus der damaligen Zeit heraus und nicht mit dem Blick von heute zu analysieren. Putin unterschlägt, warum Lenin die ukrainische Sprache und Kultur förderte, eben um die Ukraine besser in die Sowjetunion zu integrieren.
Nach Meinung von Putin hat Lenins Politik in der Ukraine, Russland geschadet. Russen in der Ukraine seien zwangsweise „ukrainisiert“ worden und Russland habe „Noworossija“ – also den heutigen Südosten der Ukraine – einfach so an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik abgegeben. Tatsächlich war die Absicht von Lenin, die damals bäuerliche und politisch zerstrittene Ukraine durch eine Vereinigung mit dem roten Industriezentrum Donbass politisch zu stabilisieren.
Ein schwerer Fehler war es nach Meinung von Putin auch, dass Lenin bei der Gründung der Sowjetunion 1922 das Recht auf Austritt aus der Union für die einzelnen Republiken festschreiben ließ.
Der Kreml-Chef verschweigt, dass Lenin Zugeständnisse an die Republiken und deren Kultur machte, weil er meinte, der sowjetische Staat müsse sich vom zaristischen „Völkergefängnis“ unterscheiden. Die Völker der Sowjetunion hätten das Recht auf eine nachholende Demokratisierung.
Aus russischer Sicht bestand einer der Gründe für die Kriegserklärung in der Ukraine darin, der "Nazifizierung der Ukraine" ein Ende zu bereiten. In seiner Rede zur Lage der Nation in der vergangenen Woche sagte Putin, der Krieg richte sich nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den "Westen" als Ganzes. Dies ist eine neue Definition. Bereitet sich das nicht-sowjetische Russland auf einen langwierigen und multidimensionalen Krieg mit dem "Westen" vor? Gleichzeitig wird Putin vom "Westen" mit Hitler verglichen. Kann man sagen, dass vor allem einige Teile der deutschen Regierung in dieser Sache die Vorreiter sind. Wie beurteilen Sie diese Haltung der deutschen Regierung?
Wladimir Putin spricht vom „kollektiven Westen“ seitdem die westlichen Staaten in einer koordinierten Aktion schwere Waffen an die Ukraine liefern. Nach meiner Einschätzung orientiert die russische Führung die Bevölkerung auf eine langwierige militärische Auseinandersetzung in der Ukraine. Russland wird so lange militärisch kämpfen, bis es die Sicherheitsgarantien bekommt, die es 2021 ultimativ von den westlichen Staaten und vor allem von den USA gefordert hat. Die Ukraine muss aus russischer Sicht ein neutraler Staat werden. Alle die jetzt in Deutschland Waffenstillstandsverhandlungen fordern, sollten sich damit vertraut machen, dass Russland seine Waffen nicht eher niederlegen wird, bis es seine Sicherheitsgarantien hat.
Deutschland gebärdet sich in Europa seit dem Jugoslawien-Krieg als imperialistischer Zuchtmeister. 1999 beteiligte sich die deutsche Luftwaffe an den Bombenangriffen auf Belgrad. 2015 zwang die EU-Troika unter Führung von Berlin Griechenland eine Verarmungspolitik auf. Und heute ist Deutschland in Europa der Vorreiter bei der Dämonisierung Russlands. Es scheint, die heutige Politikergeneration, will die verlorene Schlacht der Großväter gegen Russland, endlich zum Erfolg führen.
Die Dämonisierung Russlands läuft in Deutschland deshalb so erfolgreich, weil man sich nie gründlich mit den eigenen in der Sowjetunion verübten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg noch mit der russischen Geschichte und Kultur beschäftigt hat. Die Geschichts-Sendungen im deutschen Fernsehen waren oberflächlich und verengten den deutschen Faschismus auf die Person Hitler.
Die USA sind heute an einer aggressiven deutschen Politik gegenüber Russland interessiert. Denn man möchte an die russischen Rohstoffe ran und den wachsenden Einfluss Russlands in der Welt brechen. Der deutsche Imperialismus erhofft beim Kampf um Einflusssphären im Osten an der Seite der USA den Zugriff auf billige Arbeitskräfte und Rohstoffe und die Sicherung der Position als wirtschaftliche Führungsmacht im Weltmaßstab.
Im Kontext des von den USA und der NATO kommandozentrierten Stellvertreterkriegs wird oft erwähnt, dass ein weiteres Land, das von den USA und der NATO ins Visier genommen ist, die Volksrepublik China ist. Würden Sie der Ansicht zustimmen, dass China das nächste mögliche Zielland der Ukraine-Front unter NATO-Kommando ist?
Ich habe den Eindruck, mit den Drohgebärden gegenüber Russland und China testet Washington aus, ob die beiden Länder zusammenstehen oder ob man sie gegeneinander ausspielen kann. Machtpolitisch wäre es unklug gegen Russland und China gleichzeitig militärisch zu kämpfen. Russland und China würden sich militärisch koordinieren. Ein Atomkrieg wird in diesem Fall noch wahrscheinlicher. Und einen Sieg gäbe es in diesem Fall weder für den Angreifer noch für die Verteidiger.
China ist ein bedeutendes Land, um die Belagerung und das Embargo gegen Russland zu durchbrechen. Es ist bemerkenswert, dass bezüglich der Erdgas-Pipeline Kraft Sibiriens-2 das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 250 Milliarden Dollar überschritten hat. Wenn man bedenkt, dass Russland und China, im Fall, dass sie ihre militärischen Kräfte vereinen, zu einem mächtigen Gegengewicht gegen die USA werden; in welche Richtung kann sich dann die Lage der militärischen Konfrontation des globalen Kapitalismus entwickeln?
Noch sehe ich nicht, dass Russland und China ein mächtiges Gegengewicht sind. Beide Staaten, sind auf Erlöse für ihre Rohstoffexporte und Waren, die in westlichen Staaten verkauft werden, angewiesen. Beide Staaten haben auch sehr unterschiedliche politische Systeme und wirtschaftliche Interessen. Die zunehmende Destabilisierung der Weltökonomie durch die Russland-Sanktionen und den Ukraine-Krieg kann aber dazu führen, dass die USA wirtschaftlich an Einfluss verlieren und dass sich die Staaten Asien, Afrikas und Lateinamerikas zusammen mit China und Russland wirtschaftlich stabilisieren.
Es besteht kein Zweifel mehr, dass die Nord Stream 2-Pipeline von den USA sabotiert wurde. Wie erklären Sie sich das Schweigen der deutschen Regierung trotz dieses Wissens?
Das Schweigen der deutschen Regierung zeigt, wie stark die Kontrolle der deutschen Elite durch die USA seit 1945 ist. Die deutsche Elite befindet jetzt an einem Scheideweg. Entweder sie wird zum unattraktiven Wirtschaftsstandort aus dem die Investoren wegen hoher Energiekosten fliehen oder der deutsche Imperialismus wird versuchen, bei nächster Gelegenheit zusammen mit Frankreich aus der Umklammerung durch die USA auszubrechen. Nicht ausschließen kann man aber auch, dass Deutschland – ohne Frankreich - einen eigenen nationalistischen Weg geht.
Und schließlich: Der Kapitalismus "löst" die strukturellen und periodischen Krisen des Systems und sichert seine "Vitalität" durch "schöpferische Zerstörung". Auch wenn die Zahl der regionalen Konflikte und Stellvertreterkriege nicht abnimmt, könnte man sagen, dass diese Aussage auch heute noch gültig ist? Mit anderen Worten, wenn der globale Kapitalismus an die Grenzen seiner politischen Ökonomie stößt und sein Verfallsdatum erreicht, inwieweit wird es dann möglich sein, die "schöpferische Zerstörung" durch Kriege fortzusetzen (mit Blick auf die Notsituation des Atomkriegs)?
Da es sowohl in Deutschland wie auch in den USA unter Politikern, ehemaligen Generälen und Geheimdienstlern sehr eindeutige Warnungen vor einer weiteren militärischen Eskalation in der Ukraine und einem Atomkrieg gibt, habe ich die Hoffnung, dass diese Kritik stärker wird und die Kriegstreiber gezwungen sein werden, einen Gang zurückzuschalten.
Doch um die Gefahr eines weltweiten Krieges zu stoppen, müssen die Friedenskräfte und Antiimperialisten wesentlich mehr Aufklärung über die Hintergründe des Krieges in der Ukraine leisten. Ein großer Teil der Menschen in Deutschland weiß bis heute nicht, dass der Krieg 2014 begann und dass der Staatsstreich in der Ukraine der Auslöser war.
Außerdem muss der Bevölkerung im Westen klar gemacht werden, dass Russland - sollten von der NATO immer mehr und weitreichendere Waffen in die Ukraine geliefert werden – taktische Atomwaffen oder Geschosse gegen strategisch wichtige Punkte in osteuropäischen NATO-Staaten einsetzt.
Zumindest hat es in den letzten Monaten mehrere dementsprechende Warnungen aus Moskau gegeben. Anstatt diese Warnungen ernst zu nehmen, gefallen sich westliche Politiker lieber in Spekulationen über den wirtschaftlichen „Zusammenbruch Russlands“ oder eine „Palastrevolte“ gegen Putin. Doch all das hat sich als reines Wunschdenken erwiesen.
*Ulrich Heyden wurde in Hamburg geboren und lebt seit 1992 in Moskau. Heute schreibt er für die Nachdenkseiten, Junge Welt, Overton-Magazin, Rubikon, RT DE und Telepolis. Er berichtete aus Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion für die Wochenzeitung „Der Freitag“, „die tageszeitung“ und „Deutschlandfunk“. Von 2001 bis 2014 war er als Korrespondent für die Sächsische Zeitung tätig. Er ist Autor des Buches "Kampf der Oligarchen: Das Tauziehen um die Ukraine" (PapyRossa-Verlag 2015 / Yazılama Yayinevi 2017), Mitautor von "Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland" (Rotpunktverlag 2009), Co-Regisseur von "Lauffeuer", dem ersten deutschsprachigen Film über den Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa im Mai 2014 und Autor von „Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass“ (tredition 2022).
Die Originalfassung auf Türkisch kann man hier lesen
Die Fassung auf Deutsch wurde hier veröffentlicht