Vor der Erschießung sangen sie die Internationale
Wo Stalins Schergen wüteten, legte Putin Blumen nieder. Es war der erste Besuch des Kreml-Chefs an einem Gedenkort für den politischen Terror in den 30er Jahren.
Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, Arseni Roginski, sprach von einem „positiven Zeichen“. Grund zur Sorge bleibt: Ein neuer Leitfaden für Lehrer beschreibt die "guten" und "schlechten" Seiten von Stalin.
70 schwarze Luftballons stiegen in den Himmel. An dem Gedenkplatz für die Opfer des Stalin-Terrors, dem Solowezki-Stein, direkt vor dem Gebäude des Inlandgeheimdienstes FSB in Moskau versammelten sich am 30. Oktober etwa Hundert Menschen, darunter viele Angehörige von unter Stalin Ermordeten. In Wolgograd, Irkutsk, Magadan und anderen Städten kamen am „Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repression“ Hunderte Menschen zu Gedenkveranstaltungen und Konzerten. In einem Wald im Gebiet Woronesch versammelten sich Angehörige von Stalin-Opfern mit Kerzen und Blumen. In dem Wald waren 300 Menschen in diesem Sommer exhumiert worden. Die sterblichen Überreste wurden unter den Gewehrsalven einer Militäreinheit in Einzelgräbern neu bestattet.
800.000 Opfer leben noch
Vor genau 70 Jahren war der Höhepunkt des Stalin-Terrors. Nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ leben in Russland noch heute 800.000 Menschen, die als Opfer politsicher Repression gelten. Bei dem Großteil der Opfer handelt es sich um die Kinder der Repressierten.
Überraschend beteiligte sich auch Wladimir Putin an den Trauerfeierlichkeiten. Der Kreml-Chef besuchte einen Platz in dem am südlichen Rand von Moskau gelegenen Stadteil Butowo. Boris Jelzin hatte mehrere Male solche Gedenkorte besucht, für Präsident Putin war es das erste Mal. Trotzdem nahmen deutsche Medien das Ereigniss kaum zur Kenntnis.
In den Jahren 1937/38 wurden auf einem Feld in Butowo – der Ort lag damals weit vor der Stadt - 20.000 Menschen erschossen. Die genaue Zahl ist bis heute nicht bekannt. Unter den Erschossenen waren 1.000 Geistliche darunter der Metropolit Serafim, sowie Adelige, Politiker, der Vorsitzende der Duma und Angehörige verschiedener Nationalitäten. Auch die Erschießungskommandos hat man nach Aussage eines Chauffeurs, der Jahrzehnte später sein Wissen weitergab, dort umgebracht und verscharrt. Viele der Opfer waren durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden. Sie wurden als „Verräter“ und „Voksfeinde“ abgeurteilt. Die Behörden versuchten die Erschießungen geheimzuhalten. Doch trotzdem bekamen Anwohner etwas mit. Sie hörten, wie Verzweifelte die Internationale sangen und den schrillen Schrei einer Frau, „Bitte nicht! Ich habe Kinder.“
Der Kreml-Chef näherte sich dem Todes-Feld in Begleitung des Patriarachen Alexej II. Wie der „Kommersant“-Reporter berichtete, wirkte Putin betroffen und ratlos. Der Kreml-Chef kniete vor einem großen Holzkreuz nieder und legte Blumen ab.
Geste für die Opfer des Stalin-Terrors
Dann trat der Präsident vor die Presse. Er erklärte, „solche Ereignisse“ habe es in der Menschheitsgeschichte immer dann gegeben, wenn „auf den ersten Blick gute aber in Wirklichkeit leere Ideale über wichtigsten menschliche Werte“ gestellt wurden. „Für unser Land ist das eine besondere Tragödie, denn die Ausmaße sind kolossal.“ In den Jahren des Stalin-Terrors seien „Zehntausende, Millionen“ deportiert und ermordet worden. „Das waren Menschen mit ihrer eigenen Meinung, das waren Menschen, die keine Angst hatten, diese Meinung zu äußern, das waren die effektivsten Leute, die Besten der Nation.“ Der staatlichen russischen Fernsehkanäle übertrugen Putins Erklärung, ließen allerdings einen Satz aus, der nur von den Nachrichtenagenturen übermittelt wurde. Der Kreml-Chef meinte, es brauche zwar "politische Debatten und Kontroversen", diese dürften aber nicht "destruktiv" werden. Damit wollte der Kreml-Chef klarstellen, dass der Staat das Recht hat, in das politische Leben regulierend einzugreifen. Mit dem Besuch in Butowo wollte Putin den Angehörigen der Stalin-Opfer offenbar zeigen, dass man sie nicht vergessen hat.
Weitere Schritte gefordert
Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, Arseni Roginski, sprach von einem „positiven Zeichen“. Die für Bildungsarbeit zuständige Memorial-Vertreterin Irina Scherbakowa erklärte in einem Gespräch, „es ist eigentlich egal, ob es sich beim dem Auftritt von Putin um politische Berechnung oder um eine offenherzige Tat handelt“. Die Teilnahme des Kreml-Chefs sei ein „politischer Schritt, der in diesem Land dringend nötig ist.“ Man wünsche sich, dass sich das auch auf die Gestaltung der Schulbücher auswirke. Leider gäbe es neuerdings die Tendenz Stalin „objektiv“ zu sehen. In einem neuen Leitfaden für Lehrer würden sowohl „positive“ wie auch „negative“ Seiten Stalins dargestellt.
Copyright by Ulrich Heyden Moskau 2007, Veröffentlichung nach Rücksprache mit dem Autor