26. June 2023

Wagner-Chef Prigoschin bricht Putsch ab – Russland atmet auf (Overton Magazin)

25. Juni 2023 18 Kommentare

Der Präsident Weißrusslands, Aleksandr Lukaschenko, erreichte am Samstagabend in Verhandlungen mit dem Chef der privaten Sicherheitsfirma „Wagner“, Jewgeni Prigoschin, den Abbruch des vom Wagner-Chef geführten Militärputsches.  Zwischen der russischen Armee und den Aufständischen gab es im Sonnabend schwere Feuergefechte bei denen 15 russische Soldaten starben. Die Aufständischen schossen ein russisches Transportflugzeug und sechs Hubschrauber ab. Wer immer schon Putin stürzen wollte, lässt seiner Begeisterung jetzt freien Lauf. Der im westlichen Ausland lebende ehemalige Besitzer des russischen Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowski, meint, man müsse „Prigoschin helfen“.

Die dramatischen Stunden in Russland sind vorbei. Die Menschen atmen auf. Doch es ist bisher unklar, warum der seit Monaten gärende Konflikt zwischen dem Wagner-Chef und der russischen Militärführung gerade jetzt in eine bewaffnete Auseinandersetzung umgeschlagen ist.

Prigoschin hatte seine Kritik an der russischen Führung in der letzten Zeit weiter gesteigert. Er erklärte, in den jetzt von Russland kontrollierten Gebieten im Donbass gäbe es massive Korruption. Außerdem behauptete der Wagner-Chef, es habe im Donbass seit 2014 zwar Schießereien zwischen den dortigen Anhängern der Volksrepubliken und der ukrainischen Armee gegeben, die Ukraine aber habe Russland nicht angreifen wollen. Diese Sichtweise widerspricht der offiziellen russischen Sichtweise, nach der die russische Invasion in die Ukraine stattfand, weil Kiew eine Invasion in die Volksrepubliken Donezk und Lugansk vorbereitete.

In den westlichen Medien wurde der Putsch mit großem Interesse und nur schlecht verhüllter Schadenfreude verfolgt. Der im westlichen Ausland lebende ehemalige Besitzer des russischen Öl-Konzerns Yukos, Michail Chodorkowski, brachte auf den Punkt, was wohl viele in den westlichen Eliten denken: „Alles was wir tun können ist, Prigoschin nicht dabei zu stören, das Regime Putin zu schwächen und wenn es die Möglichkeit gibt, ihm dabei zu helfen.“

 „Es soll kein russisches Blut vergossen werden“

Nach den Verhandlungen mit dem weißrussischen Präsidenten erklärte der Wagner-Chef via Telegram: „Jetzt ist der Moment wo es zu Blutvergießen kommen kann. Weil ich die Verantwortung dafür verstehe, dass russisches Blut vergossen werden kann, kehren wir mit unserer Kolonne um und kehren in unser Lager zurück, gemäß dem Plan.“

Lastwagen und Panzer der Wagner-Leute kehrten nach 200 Kilometern auf dem Weg nach Moskau um und fuhren Richtung Süden. Die Wagner-Panzer und gepanzerten Fahrzeuge wurden in der Nacht auf Sonntag aus dem Zentrum der Stadt Rostow am Don wurden abgezogen.

Die Anti-Terror-Maßnahmen in Moskau und anderen Städten wurden schrittweise zurückgefahren. Die Verfügung des Moskauer Bürgermeisters, dass am Montag nicht gearbeitet wird, bleibt aber bestehen.

Beltanews stellt den Vermittler Lukaschenko in den Mittelpunkt.

Nach Mitteilung von Dmitri Peskow, dem Sprecher des russischen Präsidenten, vereinbarte Lukaschenko mit Prigoschin, dass dieser nach Weißrussland übersiedelt. Ob der Wagner-Chef diese Vereinbarung einhält, muss sich noch zeigen.

Peskow erklärte, dass sich Lukaschenko und Prigoschin seit zwanzig Jahren kennen. Weißrussland war schon einmal der Exil-Hafen für eine gestürzte Polit-Größe aus dem postsowjetischen Raum. In Weißrussland lebte der 2010 durch einen Aufstand gestürzte Präsident von Kirgistan, Kurmanbek Bakijew.

Das vom russischen Ermittlungskomitee gegen den Wagner-Chef am Sonnabend eingeleitete Strafverfahren wegen der „Organisation eines bewaffneten Aufstands“, wurde nach Angaben von Peskow eingestellt.

 Was treibt den Wagner-Chef?

Doch es bleibt ein unguter Nachgeschmack. Unklar ist, woher Prigoschin den Mut nahm, seinen Marsch auf Moskau zu starten. Wer stand hinter ihm?

Waren es patriotische Kreise oder gar die „5. Kolonne“, also westlich orientierte Liberale in der russischen Elite, die von Unzufriedenen in Russland für alle Fehler im System verantwortlich gemacht werden? Nicht wenige Russen meinen, Putin trete zu schwach gegen die „5. Kolonne“ auf.

Oder ließ sich Prigoschin aus persönlichen Ambitionen zum Aufstand treiben, wie Wladimir Putin und auch Ramsan Kadyrow nahelegten?

Warum sprach Putin erst von „Verrat“, „Schlag in den Rücken“ und „unvermeidlicher Strafe“, will nun aber keinen der Wagner-Soldaten und auch nicht ihren Anführer vor Gericht sehen?

Offenbar zielten die harten Worte von Putin in seiner Fernsehansprache am Sonnabend vor allem darauf, die Aufständischen zur Aufgabe zu zwingen und die Sicherheit auf der Fernstraße nach Moskau und in den russischen Städten Rostow am Don und Woronesch wiederherzustellen.

Jetzt wo die Wagner-Leute aufgegeben haben, sind im Kreml offenbar politische Überlegungen dominant. So erklärte Putins Sprecher, gegen die Wagner-Soldaten würden „wegen ihrer Leistungen an der Front“ keine Strafmaßnahmen verhängt.

Delikat ist auch die Frage, wie der Tod von russischen Soldaten geahndet wird, die durch Kugeln der Wagner-Soldaten getötet wurden. Ein großer Teil der Toten sind Besatzungsmitglieder von sechs abgeschossenen Hubschraubern – darunter einem Ka-52-Aligator-Kampfhubschrauber und einem Il-18 Transportflugzeug.

Auf dem Telegram-Kanal von Prigoschin wurden am Samstagabend die verkohlten Überreste des im Gebiet Woronesch abgeschossenen russischen Kampfhubschraubers gezeigt. Die Besatzung der Maschine starb. Die Bildunterschrift im Prigoschin-Kanal lautete: „Der Hubschrauber wollte die Musiker beschießen.“ Mit den „Musikern“ sind die Wagner-Soldaten gemeint.

Wagner-Panzer in Rostow am Don. Screenshot: RT.ru

Unterschiedliche Reaktionen auf die Putschisten

In Rostow gab es in der Bevölkerung unterschiedliche Reaktionen auf die Besetzung des Stadtzentrums durch Wagner-Soldaten. In diesem Video vom Sonnabendnachmittag sieht man einen Zivilisten, der laut ruft: „Warum seid ihr hierhergekommen?“

Als die aufständischen Soldaten beim Abzug in Rostow ihre Lastwagen bestiegen, erklangen dagegen „Wagner, Wagner“-Rufe. Als Prigoschin in einem Jeep Rostow verließ, ließen es sich ein paar Jugendliche nicht nehmen ihm durch das Autofenster die Hand zu schütteln. Es war wohl mehr ein Hype. Ob diesen Jugendlichen die Tragweite des Putsches an der Grenze zur Ukraine klar war, möchte ich bezweifeln.

Warum kein Strafverfahren wegen des Putsches?

Dass das Strafverfahren gegen den Wagner-Chef wegen des Putsches eingestellt wurde, hat wohl zwei Gründe. Der Kreml will vermeiden, dass der Wagner-Chef so etwas wie ein Held der Unzufriedenen in Russland wird. Prigoschin ist Populist. Er versteht es, Emotionen zu erzeugen. Mit seinen Attacken gegen die russische Militärführung berührt Prigoschin eine wunde Stelle. Viele Russen verstehen nicht, warum die russische Armee nicht von Anfang an entschiedener gegen die ukrainische Armee vorgegangen ist und warum sie sich aus den Gebieten Kiew, Charkow und Cherson zurückgezogen hat.

Es gibt in der russischen Gesellschaft – vor allem im einfachen Volk – eine starke Stimmung, dass man gegen Korruption stärker vorgehen muss. Das ist einer der Gründe, warum Stalin in weiten Kreisen immer noch Ansehen hat und warum ein Teil der Gesellschaft, insbesondere die über 40-Jährigen, beklagen, dass der Einfluss der sogenannten „5.Kolonne“, also westlich orientierter Liberaler, im Machtapparat Russland noch immer groß ist. Aufgrund dieser Stimmung ist das Ansehen von Ramsan Kadyrow und Jefgeni Prigoschin hoch. Viele versprechen sich von ihnen wirksame Anti-Korruptions-Maßnahmen. Der gescheiterte Marsch auf Moskau wird das Image des Wagner-Chefs nicht völlig zerstören.

Geheimnisträger und erfahrene Militärs

Gegen Prigoschin strafrechtlich vorzugehen ist auch noch aus einem anderen Grunde riskant.  Er ist Träger militärischer Geheimnisse. Seine Einheiten kämpften nicht nur im Ukraine-Krieg, sondern auch in Syrien und Afrika. Zudem ist er von professionell ausgebildeten Militärs umgeben, die ihr Handwerk in der sowjetischen und später russischen Armee gelernt haben. Sich mit solch einer militärischen Formation anzulegen, kann riskant sein.

Dass Putin bewaffnete Einheiten erst als Verräter oder Feinde bezeichnet, sie dann doch wieder in die russischem Sicherheitsstrukturen integriert, ist übrigens nicht neu. Das Oberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996) auf Seiten der Separatisten.  Heute ist er einer der treuesten Gefolgsleute des russischen Präsidenten. Soldaten der tschetschenischen Kampfeinheit „Achmat“ führen in der Ukraine gefährlichste Kampfeinsätze aus.

Vertikale oder horizontale Strukturen?

Im russischen Verteidigungsministerium sieht man jetzt wohl, dass man eine Katze aus dem Sack gelassen hat, die nur schwer wieder einzufangen ist. Das russische Verteidigungsministerium wollte in den letzten Wochen durchsetzen, dass alle privaten Sicherheitsfirmen zum 1.Juli Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium unterschreiben.  Der Wagner-Chef lehnte es ab, einen Vertrag zu unterschreiben.

Offenbar hat die russische Armee-Führung die Gefahren privater Sicherheitsfirmen in einem Staat wie Russland – wo die Machtstrukturen vertikal und nicht horizontal organisiert sind – unterschätzt. Die russische Militärführung müsste sich jetzt eigentlich die Frage stellen, ob es richtig war, nach US-Vorbild Privatfirmen Kampfaufträge zu übertragen und warum man nicht in der russischen Armee Spezialeinheiten für besonders gefährliche Einsätze aufgebaut hat.

Heftige Gefechte auf der Fernstraße M4 Richtung Moskau

Anlass des Putsches war nach Angaben von Prigoschin ein angeblicher Beschuss des Wagner-Lagers durch russische Flugzeuge. Der russische Geheimdienst FSB wies diese Beschuldigung zurück und sprach von einer „Informations-Provokation“.

Das Internetportal Ukraina.ru rekonstruierte  den Ablauf der Ereignisse am Samstag. Danach bewegte sich um drei Uhr nachts eine Militärkolonne der Wagner-Einheiten auf den Straßen des Gebiets Rostow. Um vier Uhr erklärte der Wagner-Chef, seine Kämpfer hätten einen russischen Hubschrauber, der sie angegriffen habe, abgeschossen. Um sechs Uhr morgens übernahmen die Aufständischen die Kontrolle über den Stab des südlichen Militärbezirks sowie über Gebäude des Geheimdienstes FSB, der Polizei-Leitung und der Stadtverwaltung von Rostow am Don, um acht Uhr die Kontrolle über den Militärflughafen von Rostow. Zur gleichen Zeit wurde das Wagner-Zentrum in St. Petersburg von Sicherheitsbeamten durchsucht.

Um neun Uhr rief der russische Geheimdienst FSB für Moskau und das Moskauer Gebiet das Regime „Antiterroristische Operation“ aus. Um die Mittagszeit wurden in Moskau die Werbeplakate des Wagner-Einheiten entfernt.

Die russische Luftwaffe begann die Militärkolonne des Wagner-Bataillons, die sich auf der Fernstraße M4 Richtung Moskau befand, zu bombardieren. Die Kolonne war 4000-Mann stark und wurde von einem gewissen Utkin befehligt.

Im Gebiet Woronosch, das auf der Strecke nach Moskau liegt, kam es zu Schießereien zwischen Wagner-Soldaten und der russischen Armee. Am Samstagabend kam die Nachricht, die russische Luftwaffe habe eine Brücke beim Dorf Brodowoje im Gebiet Woronesch bombardiert. Damit wollte man angeblich verhindern, dass die Aufständischen die geschlossene Stadt Borisoglebsk-45 erreichen können, wo Atomwaffen lagern.

 „Haltet ein!“

Der Kreml tat alles, um den Putsch zu stoppen. Putin hielt eine harte Rede und sprach vom „Verrat am Vaterland“. Der ehemalige Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine und jetzige Oberkommandierende der russischen Luft- und Weltraumstreitkräfte, Sergej Suworikin, wandte sich in einer Ansprache, bei der er seine Waffe in der Hand hielt, an die Wagner-Soldaten. Er erklärte: „Wir haben zusammen gesiegt, wir sind von einem Blut. Ich rufe dazu auf einzuhalten. Der Gegner wartet nur darauf, dass sich bei uns etwas zuspitzt.“ Noch sei es „nicht zu spät“, die Kolonne Richtung Moskau zu stoppen. Alle Probleme müssten friedlich unter Leitung des Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte“, also Wladimir Putin, „gelöst werden.“

Mehrere russischen Gouverneure vom Fernen Osten bis Kaliningrad, riefen ihre Landsleute, die bei Wagner kämpfen, über Videobotschaften dazu auf, sich nicht an dem Aufstand zu beteiligen. Das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, erklärte, seine Männer seien bereit, den Aufstand niederzuschlagen.

Die russischen Regierungs- und Armeestrukturen müssen die Ereignisse jetzt aufarbeiten. Einfache Antworten wird es nicht geben. Eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung der Ereignisse werden auch die russischen Medien und Telegram-Kanäle der politisch Interessierten und Militärblogger spielen.

veröffentlicht in: Overton Magazin

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto