16. February 2012

Waltraut Schaelike

WALTRAUD SCHÄLIKE KAM ALS VIERJÄHRIGE IN DAS DOMIZIL KOMMUNISTISCHER EXILANTEN – UND BLIEB DORT 18 JAHRE LANG

 

Moskau. Zwei Jahre vor Hitlers Machtantritt emigrierte Waltraut Schälike mit ihren Eltern, überzeugten Kommunisten, nach Moskau. Im Hotel Lux erlebte sie, wie Menschen verschwanden. Später wird sie selbst Opfer des Stalin-Terrors.

Von Ulrich Heyden

Nein, an Ratten im Hotel Lux kann sich Waltraut Schälike nicht erinnern. Auch den großen roten Stern auf dem Dach des Hotels, wie man ihn im Film „Hotel Lux“ von Leander Haußmann sieht, habe es in Wirklichkeit nicht gegeben. Und der Wächter am Eingang sei in Wirklichkeit kein grober, sondern ein kinderfreundlicher Mensch gewesen. „Wir Kinder konnten rein- und rauslaufen und brauchten keinen Passierschein (Propusk) vorzuzeigen wie die Erwachsenen.“

Der wuchtige, fünfstöckige Bau nicht weit vom Kreml diente schon seit den 1920er-Jahren als Herberge für kommunistische Funktionäre aus aller Welt. Die Eltern von Waltraut Schälike – die Mutter war Buchhalterin und Stenotypistin, der Vater leitete einen Verlag – waren 1931 mit ihrer damals vierjährigen Tochter aus Berlin-Wedding nach Moskau gekommen und bekamen ein Zimmer im Hotel Lux. Dort wuchs Waltraut auf, zusammen mit ihren beiden Brüdern und den Eltern.

Noch heute hängt die 85-jährige Frau am einstigen Domizil, in dem sie 18 Jahre gelebt hat. „Ich kann nicht sagen, dass ich im Hotel Lux Angst hatte“, sagt die alte Dame. Das sei nicht so viel anders gewesen wie unter Hitler. Die Deutschen hätten damals auch „nicht jede Stunde Angst gehabt“.

Verleumdungen

Aus dem Fenster von Schälikes Wohnung im Süden von Moskau hat man einen weiten Blick. Im Abendhimmel blinkt die Leuchtreklame des gegenüberliegenden Einkaufszentrums. Sie schiebt ein Blech mit süßen Piroggen in den Ofen. In der Küche fängt es an zu duften. Um ihre Beine wuselt ihr kleiner Hund, „Patik“. Aufgetischt wird erst später, wenn die Enkelin kommt, mit der die alte Dame zusammenwohnt. Enge Wohnungen ist Waltraut gewohnt.

Von dem stalinistischen Terror, den Verhaftungen angeblicher Verräter und Spione unter den Kommunisten bekamen die Kinder natürlich etwas mit. Aber sie verstanden nicht, was vor sich ging. Wenn wieder jemand verschwunden war, hätten die Eltern von Missverständnissen gesprochen. „Feinde der Sowjetunion verleumden die besten Kommunisten“, hieß es oft.

Als in Moskau die Säuberungen gegen sogenannte Partei-Feinde und angebliche Spione begannen, war Waltraut Schälike acht Jahre alt. 1936 wurde Erich Wendt, der beste Freund ihrer Eltern, verhaftet. „1940 wurde er freigelassen“, erinnert sich die alte Dame. Trotz Haft in der Sowjetunion machte Wendt später Karriere. Der vom Stalin-Regime Verdächtigte, der in seiner Jugend mit Charlotte Kühn, der späteren Frau des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, verheiratet war, wurde in der DDR Staatssekretär im Ministerium für Kultur.

„Ich habe Erich später mal gefragt, wie hast du das alles ausgehalten? Er sagte, ich habe mir vorgestellt, dass mich die Faschisten quälen, und denen darf ich überhaupt nichts sagen.“ Das habe er sich einfach eingebildet. „Das war ein psychologischer Schutz“, meint Schälike.

Als der Krieg begann, wurden auch die verfemten deutschen Kommunisten plötzlich wieder gebraucht. Der Vater von Waltraut, der seine Arbeit in der Verlagsgenossenschaft „Ausländische Arbeiter“ verloren hatte, weil er sich für seinen verhafteten Freund Erich Wendt einsetzte, durfte nun bei Radio Moskau Texte zusammenstellen und auch Listen mit den Namen deutscher Kriegsgefangener verlesen. Auch Wendt bekam eine Anstellung bei Radio Moskau.

Nachts kam die Angst

Als Kind war Waltraut nicht bewusst, in was für einem System sie lebt. „Das man über bestimmte Dinge nicht redete, war so natürlich wie die Regel, dass man im Winter nicht baden geht.“ Mehrere Freunde ihrer Familie wurden verhaftet, aber die kleine Waltraut erkannte nicht, dass auch ihre Familie bedroht war. Nur nachts, so erinnert sich die alte Dame, habe sie manchmal Angst gehabt, dass auch ihr Vater abgeholt wird. Immerhin gab es in ihrem Freundeskreis bereits mehrere solcher furchtbaren Fälle. Der Vater ihrer Freundin Nelli Lassy, ein schwedischer Kommunist, wurde verhaftet und kam nie zurück. „Auch meine beste Freundin Muschi Schiff verlor ihren Vater. Muschi und ich haben jeden Abend im Korridor so lange wie möglich gespielt, um ihren Vater gleich zu sehen, wenn er zurückkommt. Aber er kam nicht.“ Von dem Morden hätten die Kinder damals nichts gewusst, so Waltraut Schälike. Das sei erst 1956, drei Jahre nach dem Tod von Stalin, öffentlich verkündet worden. Viele der Ermordeten wurden später von der Partei rehabilitiert.

Stimmt es, dass sich Frauen von verhafteten Kommunisten aus dem Fenster stürzten? „Ich habe davon nicht gehört. Ich hätte es gewusst, wenn es so etwas gegeben hat. Ich weiß nur, dass ein Mann Selbstmord begangen hat. Wir Kinder trauten uns damals nicht, durchs Schlüsselloch zu gucken.“ Trotz der düsteren Zeit im düsteren Hotel spielte das Thema Tod bei den Kindern keine Rolle. „Wir waren normale Kinder, die darüber nicht nachdachten.“

Als Deutsche habe sie sich nicht gefühlt, sagt Schälike. „Ich wurde als sowjetisches Mädchen mit internationalem Hintergrund erzogen“, erinnert sich die alte Dame. Ihre Freunde hatten verschiedene Nationalitäten. „Wir waren fünf Freunde in der Klasse und interessierten uns nicht für die Nationalität. Meine besten Freundinnen, Elga und Lena, waren Jüdinnen. Meine erste Liebe, Erik Tolstov, war ein Russe. Und dann war da noch ein Armenier. In den war meine Elga verliebt.“

Doch diese für die Hauptstadt typische Freundschaft der Kinder war nicht typisch für die Sowjetunion. Als Waltraut in den Kriegsjahren 1941 bis 1943 in die russische Provinz im damaligen Gorki-Gebiet kam, war von dem staatlich propagierten Internationalismus wenig zu spüren. „Uns Internatsschüler empfingen die Kinder am ersten Tag mit dem Ruf „Die Zigeuner, Tataren und Juden sind da!“. Internationalismus habe es in der Moskauer Intelligenz gegeben. In den Kleinstädten wehte ein anderer Wind. Die Diskriminierungen in der Provinz hätten sich aber später gelegt.

Besuch in Deutschland

Ein Sommerurlaub 1946 in Deutschland bringt für Waltraut eine dramatische Wende. Sie besucht ihre Eltern, die nach dem Krieg wieder nach Berlin zurückgekehrt waren. Was die damals 19-Jährige erlebte, stimmte sie nachdenklich. In Berlin hatte sie viele Gespräche mit einem jungen Mann, der immer noch an Hitler glaubte. „Der hat mir freche Fragen gestellt.“ Im Unterbewusstsein habe sie dennoch verstanden, „dass uns etwas vereint. Er glaubt an Hitler und ich an Stalin. Aber ich habe das damals nicht zu Ende gedacht.“ Der Junge behauptete, Hitler habe von den KZs nichts gewusst. „Ich habe natürlich widersprochen. Er konterte mit Königsberg. Alle Deutschen haben damals danach gefragt. Ich habe immer geantwortet, alles was zugunsten eines Arbeiter-und-Bauern-Staates passiert, ist gerecht. Das war damals mein Klischee. Ich glaubte an den Sozialismus in der Sowjetunion.“

Schälike war davon beeindruckt, wie auf den Parteiversammlungen der Kommunisten in Deutschland ganz offen die Aussiedelung von Deutschen aus Königsberg angesprochen wurde. Der damalige SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck sei gefragt worden, ob man sich nicht an die Russen wenden könne, „weil die in Königsberg Fehler machen“. Auch kamen dem jungen Mädchen Zweifel über die sowjetischen Zeitungen, welche die Dinge nicht so darstellen, wie sie wirklich sind.

Aufgewühlt von ihren Eindrücken, gestaltete Waltraut Schäliek zusammen mit ihrem Freund Ilja in Moskau eine Wandzeitung in der Geschichts-Fakultät der Uni. „Wir wollten alle Fragen des Lebens offen besprechen.“ Angst habe sie damals nicht gehabt. „Wir waren überzeugt, etwas Nützliches zu tun, und dass die Gerechtigkeit siegt.“ Prompt erhielt sie eine Rüge. Als Schälike diese 1949 rückgängig machen wollte, wurde sie aus dem Jugendverband Komsomol und der Uni ausgeschlossen.

Ein herber Schlag. „Ich sah nur einen Wald von aufzeigenden Armen. Die gesamte Versammlung an der Fakultät stimmte für meinen Ausschluss. Ich rannte heulend auf den Korridor. Der halbe Kurs kam zu mir auf den Korridor, um mich zu trösten, nachdem sie gegen mich gestimmt hatten. Für mich brach damals eine Welt zusammen.“

In den offiziellen Dokumenten habe es dann später geheißen, Schälike und ihr Freund hätten eine trotzkistische Gruppe gegründet. „Dabei haben wir nie im Leben Trotzki gelesen.“ Heute glaubt Waltraut, dass sie damals Opfer der Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ wurde. Ihr Mann war Jude und aus der Partei ausgeschlossen. Die Kampagne gegen den Kosmopolitismus habe damals eine antisemitische Richtung gehabt.

Von Freunden und Kommilitonen erfuhr die Ausgegrenzte damals aber auch Unterstützung. Als Waltraut Schälike eines Abends mit ihrem Mann vor der Tür des Komsomol-Büros ihrer Fakultät in der Moskauer Gerzen-Straße saß, erschien plötzlich Swetlana, die Tochter des Diktators Stalin. Sie studierte wie Waltraut Geschichte. Die beiden Mädchen kannten sich von der Schule, waren aber nicht befreundet. „Alle anderen Studenten waren schon weg. Sie umarmte mich und sagte zu mir ganz leise ins Ohr: Hab keine Angst, alles wird in Ordnung kommen.“

Waltraut wehrte sich weiter gegen ihren ungerechtfertigten Ausschluss von Komsomol und Uni. Doch innerlich begann sie, sich selbst die Schuld dafür zu geben. Der Komsomol-Leiter an der Uni hatte erklärt, Waltraut habe subjektiv nur Gutes gewollt, aber objektiv habe sie dem Staat geschadet. „Mit diesem Widerspruch wurde ich damals fast verrückt.“ Eine polnische Kommunistin im Hotel Lux habe sie davor bewahrt, sich um Kopf und Kragen zu reden. „Sie sagte: Du musst einfach schweigen.“ Und Waltraut schwieg.

Zentralasien

Ob die Tochter von Stalin tatsächlich etwas erreicht hat, hat Waltraut Schälike nie erfahren. Auf jeden Fall durfte sie weiterstudieren, und auch der Ausschluss aus dem Komsomol wurde nicht vollzogen. Stattdessen wurde die Deutsche als Historikerin nach Frunse, der damaligen Hauptstadt der Sowjetrepublik Kirgistan, geschickt. Sie sei damals froh gewesen, dass sie ein neues Leben beginnen konnte, sagt die alte Dame heute. Tief in Zentralasien zog Waltraut ihre drei Söhne groß, unterrichtete Geschichte und wurde anerkannte Marx-Forscherin. Nach einigen Jahren gab sie ihren Glauben an Stalin auf. Erst 40 Jahre später, im Jahre 1989, kehrte Waltraut nach Moskau zurück.

Die alte Dame könnte jederzeit nach Deutschland übersiedeln, wo ihre beiden Brüder leben. Doch die 85-Jährige will in Moskau bleiben. „Ich fühle mich mit Russland verbunden, und ich schreibe auf Russisch.“ Da knurrt plötzlich „Patik“, ihr kleiner Hund, und möchte unbedingt auf den Schoß.

 

Literaturhinweis: 2006 erschienen die Erinnerungen von Waltraut Schälike über die Jahre 1927 bis 1946, „Ich wollte keine Deutsche sein: Berlin-Wedding – Hotel Lux“; herausgegeben von Frank Preiß, Karl Dietz Verlag Berlin

Veröffentlicht in: Neue Osnabrücker Zeitung

 

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