Warum deutsche Bauern russische Äcker bestellen
Russland importiert Nahrungsmittel im großen Stil - weil mit dem Ende der Sowjetunion die Landwirtschaft kollabierte. Doch jetzt entdeckt man die heimische Scholle wieder, die Produktion kommt in Gang: dank deutscher Unterstützung.
Sebastian Vogler hebt ein Stück Blech vom Acker auf. "Da fährt man mit einem 2000-Euro-Reifen rein und dann steht der Traktor", sagt der 24-Jährige. Ein grüner John-Deere-Trecker mit 300 PS zieht im Hintergrund gerade einen Grubber zur Bodenauflockerung über das Feld. Eine riesiger Schwarm Krähen macht sich über die aufgeworfene Erde her.
Vogler kommt eigentlich aus Überlingen am Bodensee, steht aber gerade auf einem Acker in der russischen Provinz. Seine Familie hat selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb. In einem kleinen Dorf 250 Kilometer südlich von Moskau im Gebiet Kaluga sammelt der junge Deutsche nun Auslandserfahrungen. Vogler arbeitet auf einer ehemaligen Kolchose, die von der deutsch-russischen Firma Ekoniva gekauft und modernisiert wurde. Der junge Deutsche ist verantwortlich für den Pflanzenbau. In den modernisierten Ställen stehen 530 Milchkühe aus der Schweiz und Österreich, das sogenannte "Schweizer Braunvieh". Auf den Feldern werden Kartoffeln angebaut.
Leute wie Vogler sind derzeit in Russland gefragt. Das Land arbeitet am Umbau seiner Landwirtschaft. Die Folgen der Sowjetherrschaft, in der mit Material und Produkt oft achtlos umgegangen wurde, könne man immer noch spüren, meint Vogler. Die Felder etwa seien extrem uneben und müssten zweimal bearbeitet werden.
Doch die russische Landwirtschaft befreit sich allmählich vom Sowjet-Erbe. Mit dem russischen Gesamtwirtschaftswachstum, das laut IWF in diesem Jahr bei knapp sieben Prozent liegen dürfte, können die Agrarbetriebe zwar noch nicht mithalten. Aber immerhin: 3,3 Prozent Wachstum im Jahr 2007 sind schon ein kleiner Erfolg. 2008 soll sogar noch besser liegen: Von Januar bis September wuchs die Landwirtschaft um 6,5 Prozent.
Russland kann steigenden Lebensmittelbedarf nicht decken
In den neunziger Jahren lag die russische Landwirtschaft noch am Boden. Die alten Kolchosen und Sowchosen waren nicht auf die Marktwirtschaft vorbereitet und gingen reihenweise pleite. Westliche Lebensmittelimporte und der Privatanbau auf Datschen und kleinen Feldern übernahmen zum großen Teil die Lebensmittelversorgung des Landes.
Die Folgen sind nach wie vor zu spüren: Heute kann das größte Land der Erde, das große Flächen an begehrter Schwarzerde hat, der steigenden Inlandsnachfrage kaum gerecht werden und muss Hühnerbeine aus den USA und Schweinefleisch aus Brasilien einführen. Der Anteil importierter Lebensmittel liegt durchschnittlich bei rund 40 Prozent, in manchen Regionen sogar bei 70 Prozent. Auch die Bedeutung des Nebenerwerbsanbaus ist immer noch immens. Die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktion wird auf kleinen Privatfeldern erwirtschaftet.
Doch mit der russischen Fleisch- und Milchwirtschaft geht es jetzt voran. Unternehmer, die es in anderen Branchen zu Geld gebracht haben, investieren in der Provinz, kaufen mal eben 300.000 Hektar und modernisieren Ställe und Geräte. So entstehen Holdings, die alle Produktionsstufen vom Anbau über die Verarbeitung bis zur Vermarktung unter einem Dach vereinen. Sie haben eigene Fleischkombinate und Handelsfirmen. Inzwischen gibt es in Russland 30 dieser großen landwirtschaftlichen Holdings und etliche Großbetriebe.
Ein Jahr Wartezeit auf begehrte West-Technik
Auch einige deutsche Mittelständler sind seit Anfang der neunziger Jahre auf dem russischen Markt aktiv und können deshalb von dem Boom profitieren. Zu ihnen gehört Stefan Dürr mit seiner deutsch-russischen Firma Ekoniva. Dürr importiert landwirtschaftliche Maschinen aus Europa und den USA. In Russland heiß begehrt sind die schweren John-Deere-Traktoren aus dem US-Werk Waterloo. Aber auch Mähdrescher und Feldhäcksler sind gefragt. Außerdem betreibt Dürr an mehreren Standorten auf insgesamt 100.000 Hektar Landwirtschaft. Im vergangenen Jahr machte die Firma einen Umsatz von 122 Millionen Euro.
Jetzt herrscht Aufbruchstimmung auf russischen Äckern, von der auch die Deutschen profitieren wollen. Das sei wieder das Gute an Russland, meint Ekoniva-Berater Vogler, "Man nimmt es hier mit den Genehmigungen für Doppelreifen nicht so genau." In Deutschland müsse man jede zusätzliche Bereifung ab einer gewissen Breite extra beantragen.
Einen stabilen Arbeitsprozess zu organisieren, sei dagegen nicht so einfach, meint der junge Deutsche. Der Treckerfahrer er verdient in der Hochsaison immerhin 25.000 Rubel (700 Euro) im Monat - sitzt erst seit ein paar Wochen auf dem PS-Monstrum. "Der Vorgänger ist mir abgehauen. Die Leute hängen hier nicht sehr an ihren Arbeitsplätzen." In der Kaluga-Region gibt es andere gut bezahlte Jobs.
Dennoch gibt sich Vogler optimistisch. Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Maschinen, die sein Arbeitgeber aus Europa und den USA nach Russland importiert, ist riesig. Wartezeiten für Häcksler, Pflüge und Traktoren von einem Jahr seien keine Seltenheit. "Die ganze Welt jammert, dass Russland zu viel Landtechnik kauft," witzelt Vogler.
Auch die Russen selbst hoffen auf einen Acker-Boom. Tatjana Kusmina ist Vorsitzende der modernisierten Kolchose und mächtig stolz auf ihre neuen Milchkühe aus den Alpen. Nach der Ankunft in Russland kalbten die Tiere. Der Nachwuchs werde jetzt getrennt von den Müttern, einzeln in modernen Kälberboxen aufgezogen und speziell betreut. Die Chefin der ehemaligen Kolchose ist wie Vogler Agronomin. Sie kann auf 27 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Mit dem jungen Deutschen komme sie gut klar, erzählt Tatjana. Es mache viel aus, wenn jemand aus einer landwirtschaftlichen Familie kommt.
Deutsches Agrar-Know-how ist willkommen auf der russischen Scholle. Luftballons in den deutschen Farben schmücken das weiße Festzelt etwa im Dorf Detschino, das ebenfalls im Kaluga-Gebiet liegt. Während im Zelt die Vertreter von fünf deutschen Agrartechnik-Firmen mit der Kelle eine symbolische Mauer aus roten Ziegelsteinen errichten und damit den Grundstein für ein deutsches Landwirtschaftszentrum legen, dröhnen draußen die Raupen. Die Zeit drängt. Bereits im nächsten Jahr sollen auf der vormaligen Wiese Ausstellungs- und Fabrikhallen und Büros stehen und damit hundert Arbeitsplätze geschaffen werden.
Im Festzelt klingen die Sektgläser. Der Gouverneur des Gebiets Kaluga, Anatolij Artamonow, stößt mit den deutschen Unternehmern auf das 20 Millionen Euro teure Agrarzentrum an. Artamonow war bereits erfolgreich beim Anwerben ausländischer Autofirmen. Er hat VW, Volvo, Peugeot-Citroën und Mitsubishi ins Kaluga-Gebiet geholt.
Und im Dorf Detschino wollen die fünf deutschen Landwirtschaftsfirmen Grimme, Ekoniva, Lemken, Wolf-System und Big Dutchman mit seiner Hilfe jetzt ein modernes Agrarzentrum, mit Fertigungshallen, Service, Logistik und Ausbildung bauen. "Wir konkurrieren nicht, sondern ergänzen uns", sagt der Geschäftsführer der Firma Lemken, Franz-Georg von Busse. Die Firma vom Niederrhein machte im Jahr 2007 181 Millionen Euro Umsatz, davon 34,2 Millionen in Russland.
Furcht vor den Folgen der Finanzkrise
Das Baugelände für das Agrarzentrum in Detschino habe man zunächst nur gepachtet, berichtet von Busse. Dass sei eine übliche Regelung, womit sich der russische Staat vor Grundstücksspekulation schützt. Doch der Gouverneur habe versprochen, dass die Deutschen und ihre russischen Tochterfirmen, im nächsten Jahr, wenn die Anlage steht, das Gelände kaufen können.
Als die Frage nach der Finanzkrise kommt, wird Busse ernst. Ob die Turbulenzen am Bankenmarkt dem Projekt den Garaus mache? "Nein", meint der Lemken-Geschäftsführer. "An unserem Engagement in Detschino ändert die Finanzkrise - so weit ihre Auswirkungen gegenwärtig absehbar sind - nichts." Alle laufenden Investitionen seien "definitiv finanziert".
Was die Geschäftsaussichten seines Unternehmens aber insgesamt betrifft, will Busse nicht ausschließen, dass es schwieriger wird. Nach den bisherigen Informationen habe man in Russland "mit Verzögerungen und Stornierungen von Finanzierungen zu rechnen". Da man aber den Umfang des Finanzierungsvolumens der russischen Banken für russische Landwirte nicht kenne, sei es zurzeit nicht möglich zu sagen, "in welchem Umfang unser zukünftiges Geschäft mit Russland davon beeinträchtigt wird". Möglicherweise macht das globale Bankendesaster dem Modernisierungsschub in Russlands Landwirtschaft ein rasches Ende.
Ulrich Heyden
veröffentlicht in: Spiegel Online