17. May 2024

Interview: Ungestörtes Gedenken am 8. und 9. Mai 2024 - dem Tag der Befreiung - in Hamburg (Text und Video)

Am 8. Mai und 9. Mai gab es in Hamburg eine Festkundgebung auf dem Jungfernstieg und einen Marsch des „Unsterblichen Regiments“ zum Hamburger Rathaus, wo russische Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg gesungen und sowjetische Fahnen geschwenkt wurden, ohne dass die Polizei einschritt. Ulrich Heyden fragte nach bei einem Mitveranstalter der Festkundgebung, Aleksandr Semjonow vom Verein RussPublika, wie die Veranstaltungen in Hamburg abliefen und warum die Polizei in Hamburg nicht einschritt.

Frage: Du warst am 8. Mai Mitveranstalter eines mehrstündiges Kulturfestes auf dem Hamburger Jungfernstieg. Dort traten viele Künstler, Zeitzeugen und Sprecher auf. Kannst du schildern, was da die Höhepunkte waren? Wie viele Zuschauer gab es? Gingen die Passanten auf dem Jungfernstieg nur vorbei oder sind sie auch stehengeblieben?

Aleksandr Semjonow: Viele sind stehengeblieben. Es waren sehr viele Passanten auf der Straße. Es war ein schöner Tag. Das Programm begann um 12 Uhr mittags und ging bis halb elf nachts (Das Porgramm). Zuletzt spielte die Hamburger Sinti-Jazz-Gruppe mit Tornado Rosenberg. Ein russischer Sänger sang Otschi tschornije (schwarze Augen). Das war einer der Höhepunkte.

Außerdem sprachen auf der Festkundgebung viele Redner aus dem "Bündnis Ratschlag 8. Mai" Mai 2024". Und es gab eine Podiumsdiskussion, über die Frage, wie machen wir den 8. Mai zum Feiertag? Wir vom Verein RussPublika organisierten einen Auftritt mit zwei Überlebenden der Hungerblockade von Leningrad. Sie erzählten, von dem, was sie Durchlebten (Video am Minute 23:30).

Wie viele Menschen saßen konstant auf den Zuschauerbänken?

Es gab konstant 100-200 Besucher. Insgesamt waren auf unserem Fest 300 bis 500 Menschen. Zu uns kamen viele Leute, die Fragen zum Ukraine-Krieg und zu Russland hatten. Die Leute wollten wissen, wie wir die Lösung des Konflikts sehen.

Es gab keine Diskussion über der Bühne?

Doch, es gab eine einstündige Podiumsdiskussion mit Politikern von der SPD, Grünen und Die Linke. Die Veranstalter des Festes sagten, dass es dieses Jahr Schwierigkeiten gab, überhaupt Teilnehmer für eine Podiumsdiskussion zu bekommen.

Sie selbst haben auch gesprochen?

Vor dem Auftritt der Blockade-Überlebenden habe ich kurz eine Rede gehalten und erklärt, warum es wichtig ist, dass der 8. Mai in Deutschland ein Feiertag wird. Zum einen, weil so ein Feiertag zu einer stärkeren Versöhnung und zum Frieden zwischen Deutschland und Russland beitragen würde. Zweitens würde so ein Feiertag auch die Bedeutung des antifaschistischen Kampfes unterstreichen. Ich sprach auch über die Gefahr des Faschismus. Da habe ich eine andere Position als die „Omas gegen Rechts“, die meinen, die faschistische Gefahr gehe vor allem von der AfD aus.

Was heißt antifaschistischer Kampf heute?

Ich sehe die Gefahr des Faschismus viel weiter und nicht an der Front AfD. Wenn man den Faschismus zu definieren versucht, kommt man unweigerlich auf solche Phänomene wie Imperialismus, Antikommunismus, Exzeptionalismus, Militarismus, Revanchismus und Totalitarismus. Ich erkenne in diesem Zusammenhang die Aktivitäten der Nato. Die Nato ist keine faschistische Organisation und die USA kein faschistischer Staat aber im Verbund wird eine faschistische und imperialistische Politik gemacht, die von Kräften des Finanzkapitals unterstützt wird. Wenn diese Kräfte eine Regierung für „falsch“ halten, dann machen sie einen Regime Change oder starten eine Militärintervention. Darin sehe ich Anzeichen von Faschismus.

Wie kam es, dass die Hamburger Behörden keine Disziplinarmaßnahmen durchsetzten, im Gegensatz zu den Behörden in Berlin?

Mir scheint, dass wir in Hamburg mehr Rückenwind hatten. Wir hatten auch keine Probleme Geld für die Tribüne und die Veranstaltung zu sammeln. Wenn man sich aber die Berichte im Fernsehen anguckt, sieht man, dass sie uns da gar nicht gezeigt haben. Es wurde nur kurz oder gar nicht berichtet.

Dass die Polizei in Berlin am 8. Und 9. Mai brutal und schikanös gegen Menschen vorgegangen ist, die sowjetische Symbole zeigten, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass in Berlin viel mehr ukrainische Aktivisten leben. Deswegen sind dort die Auflagen der Polizei strenger und die Auflagen werden auch strenger durchgesetzt als in Hamburg. In Hamburg waren beim Marsch des „Unsterblichen Regiments“ (einer Gedenk-Aktion russischsprachiger Menschen am 9. Mai), die orange-schwarzen Sankt-Georgs-Bänder und sowjetische Fahnen verboten. Aber die Polizei drückt ein Auge zu.

Es gibt keinen einzigen Fall in Hamburg, wo Jemand aus der Demonstration gezerrt wurde oder Plakate beschlagnahmt wurden?

Nein. Vor zwei Jahren ordnete die Polizei an, dass das St.-Georgs-Band mit Klebeband verdeckt werden musste. Dieses Jahr war es nicht so.

Es gab dieses Jahr in Hamburg am 9. Mai einen Marsch des „Unsterblichen Regiments“, wo russischsprachige Bürger Bilder ihrer Angehörigen trugen, durch die Hamburger Innenstadt zum Rathaus. Dort wurde dann getanzt und es wurden Lieder gesungen, die in Berlin verboten waren. Wie war das möglich?

Ich glaube Hamburg als Stadt war schon immer etwas linker als Berlin. Wahrscheinlich spielt da sogar eine bestimmte Person bei der Polizei eine Rolle. Die Polizei war sehr geduldig und sehr tolerant. Sie stand am Rande.

Wie lief der Marsch des „Unsterblichen Regiments“ durch die Hamburger Innenstadt ab?

Am “Unsterblichen Regiment” (Video) beteiligten 200 bis 300 Leute. Am Rande gingen auch viele deutsche Kommunisten mit. Sie hielten Plakate auf denen stand „Spasibo (Dank) den sowjetischen Soldaten“. In meiner Rede auf unserem Fest habe ich gesagt, dass die ersten Opfer des Nazi-Regimes die deutschen Kommunisten waren. Ich selbst habe mich am Marsch des „Unsterblichen Regiments“ mit einem Plakat beteiligt, auf dem mein Großvater, Andrej Kovalerow, zu sehen war. Mein Großvater wurde bei Leningrad gefangengenommen. Er war ein kräftiger Bauer und Christ. Er kam in das Konzentrationslager Sandborstel bei Bremen, wo er starb. Weil die Gefangenen schlecht ernährt wurden, starben in diesem KZ täglich 400 Gefangene.

Es gab in Hamburg bei den Feiern zum 8. Mai eine Spaltung. Kannst Du dazu etwas sagen?

Es gibt zwei antifaschistische Gruppen, die an diesen Tagen öffentlich aktiv waren. Die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ VVN-BdA und die Gruppe „Bündnis Ratschlag 8. Mai“ (Aufruf) in dem die Studierenden von Liste LINKS die führende Rolle spielen. Da sind auch Vertreter der Linkspartei und der Grünen dabei. Und dabei sind auch sehr engagierte Studierende vom SDS, dem Sozialistischen demokratischen Studierendenverband Die Linke.SDS.

Leider liefen die beiden Veranstaltungen von VVN-BdA und „Liste Links“ zum 8. Mai getrennt, weil die VVN darauf besteht, dass der 8. Mai der „Tag der Befreiten“ ist. Die Liste Links dagegen ist dafür bekannt, dass sie den Tag der Befreiung komplett feiert. Somit gehören wir auch dazu. Viele in unserem Verein RussPublika kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. In unserem Verein sind neben Deutschen auch Russen, die Hitler vernichten wollte. Wir identifizieren uns mit der Sowjetunion und sprechen auch gerne darüber, wie die Welt 1945 aussah. Und wir fragen: Was sind die nicht realisierten Folgen von 1945 und warum stehen wir im antifaschistischen Kampf jetzt da, wo wir jetzt stehen?

Die VVN wollte am 8. Mai nur den „Tag der Befreier“ feiern? Der Gedanke dabei ist, dass man sich nicht mit dem sowjetischen System gemein machen will und wahrscheinlich auch nicht mit dem System von Putin?

Ja, ich denke schon, denn 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung hatte die VVN-BdA keine Probleme mit der Sowjetunion. 2015 haben wir zusammen mit der VVN-BdA den 70. Jahrestag der Befreiung gefeiert. Das war damals im Hamburger Park „Planten un Blomen“. Aber 2022 ging der VVN auf Distanz zu Russland und auch auf Distanz zu unserem Verein. Das ist meine Vermutung, denn direkte Äußerungen dazu gab es nicht. Russland wurde als „imperialistisches Land“ bezeichnet, wie auch von vielen Linken.

Müsste in Deutschland nicht mehr über den zweiten Weltkrieg aufgeklärt werden?

Die Studenten von der „Liste Links“ an der Hamburger Uni sind seit fünf Jahren in der Erinnerungsarbeit sehr aktiv. Sie zeigten antifaschistische Filme und sie laden uns ein, damit wir auf Veranstaltungen unsere Sicht der Dinge darstellen. Vor zwei Jahren wurde auf dem Hamburger Uni Campus der Film „Komm und Sieh“ gezeigt. In dem Film von dem russischen Regisseur Elem Klimow geht es um die Ermordung der Zivilbevölkerung in einem weißrussischen Dorf durch die deutsche Wehrmacht und die SS.

Du wurdest selbst in der Sowjetunion geboren?

Ja. Ich komme ursprünglich aus Estland, lebe aber schon seit 34 Jahren in Deutschland. Ich wechselte als Mathematik-Student und Stipendiat aus Tatu zur Partneruniversität in Kiel. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bin ich in Deutschland geblieben, um meine Ausbildung an der die Uni abzuschließen. Danach stellte sich die Frage, ob wir zurückfahren, aber das war schwierig wegen dem Verbot der russischen Schulen in Estland. Somit sind wir in Deutschland geblieben. 2015 habe ich zusammen mit anderen den Verein RussPublika gegründet. Ich bin Vorsitzender des Vereins. Die Ziele dieses Vereins sind Völkerverständigung und Frieden mit Russland. Wir organisieren auch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Donbass. Von sieben Gründungsmitglieder stammten drei aus der Ukraine.

Die Ukrainer sind noch Mitglieder in Eurem Verein?

Nein. Sie haben drei Jahre aktiv mitgemacht und wir haben auch gemeinsam der Katastrophe im Gewerkschaftshaus von Odessa 2014 gedacht. Aber dann haben sie sich zurückgezogen, ich glaube aus Angst, dass sie in der Öffentlichkeit Ärger bekommen. Aber wir bekommen viele neue Vereinsmitglieder, auch viele Deutsche.

Wie seid ihr auf euren Vereins-Namen gekommen?

Der Name sollte demokratisch und gleichzeitig Russland-nah sein.

Wie organisiert ihr humanitäre Hilfe für den Donbass?

Es gibt eine große Community, die unentgeltlich Menschen im Donbass hilft. Das sind Leute, die  selbst aus dem Donbass oder aus der Nähe kommen. Zum Glück fanden wir auch Spender. Das Geld schicken wir nach Russland. Dann können die Leute im Donbass für Internate, Schulen oder Altersheime neue Fenster oder Betten kaufen. Nicht immer kommt die staatliche Hilfe in Russland rechtzeitig. Wenn wir hier in Deutschland medizinische Geräte und Verbandsmaterial finden, sammeln wir es in Osnabrück, bei einem unserer Mitglieder. Dort wird ein LKW zusammen mit anderen Gruppen beladen. Der LKW fährt dann über Russland in den Donbass. Wir kooperieren auch mit dem Leipziger Verein „Zukunft Donbass“, der schon 43 LKWs mit humanitärer Hilfe geschickt hat.

Gab es Behinderungen bei den Spendensammlungen?

Ja, unser Bank-Konto wurde schon dreimal gekündigt. Aber wir haben eine neue Bank gefunden.

Was muss getan werden um den Ukraine Krieg zu beenden?

Natürlich sollte man keine Waffen in die Ukraine schicken. Und die Ukraine müsste auf den Boden der Tatsachen zurückkommen und mit Russland verhandeln. Anders wird es nicht gehen.

 

Kontakt:

RussPublika e.V., Vereinsregister Hamburg: VR 22719, Postfach 10 15 22, DE 20010, russpublika@gmail.com, www.russpublika.de

 

 

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