22. November 2010

Warum „Tschetschi“ in Russlands Hauptstadt noch immer etwas zu sagen haben

Post aus Moskau

Es war 1.10 Uhr. Meine letzte Metro vom Kiewer-Bahnhof hatte ich um zwei Minuten verpasst. Doch nachts ohne eigenes Auto nach Hause zu kommen, ist in Moskau nun wirklich kein Problem. An jeder U-Bahn-Station gibt es genug Taxifahrer, offizielle in gelben Taxis und nicht-offizielle in schmuddeligen alten Ladas. Die sind etwas billiger. Es empfiehlt sich jedoch, noch ein paar Schritte weiter zu gehen, denn die Taxis direkt an der Metro fordern mehr Geld.

Also auf zum nicht-offiziellen Taxistand auf der anderen Seite der mehrspurigen Ausfallstraße, der eigentlich von Usbeken und Tadschiken geführt wird. Doch an diesem Abend stand an der Spitze der nicht-offiziellen Taxen ein Russe neben seinem alten Lada. Mit 250 Rubel (sechs Euro) handelte ich einen sehr günstigen Preis aus.

Ob er als Russe keine Angst habe, beim Stand der Usbeken zu stehen? Der Fahrer, ein etwa 58-jähriger Mann, lachte kurz. „Ich? Angst? Ich habe über 20 Jahre bei den bewaffneten Kräften gedient.“ Als ich ihm erzähle, wo ich herkomme, hörte ich ein erfreutes, „Ah, Deutschland“. Der Fahrer nämlich hat lange in Deutschland gelebt. „In Ostdeutschland?“, wollte ich wissen. „Nein in Westdeutschland“. Nach einigem Bohren erzählte der Mann dann, er habe an einer sowjetischen Botschaft gearbeitet, als Sicherheitsoffizier im Innendienst.

Und seine Tochter sei in Deutschland geblieben und inzwischen „voll integriert“. Unser Gespräch bekam etwas Vertrautes, aber aus Höflichkeit wollte ich den Mann dann doch nicht nach seinem Namen fragen. Nennen wir den Fahrer also Oleg.

Das Gespräch ging munter weiter. Oleg erzählte, wie der Taxistand funktioniert. Normalerweise wird er von Usbeken und Tadschiken kontrolliert, aber in letzter Zeit kämen auch häufig Armenier. Da gäbe es Spannungen. „Und Gewalt?“, wollte ich wissen. Oleg druckste. Er brummelte irgendwas von „Kryscha“. Das „Dach“ ist eine Schutzgeld-Bande, also die nächsthöhere Instanz im nicht-offiziellen Taxi-Geschäft. Einmal im Monat kämen „Tschetschi“ (Tschetschenen) vorbei, erzählte Oleg. „Von jedem Taxi-Fahrer treiben sie 1500 Rubel (35 Euro) ein.“ Das Geld lieferten sie dann bei der Polizei im Bezirk ab.

„Wie will Russland bei dieser Korruption je vorankommen?“, wollte ich wissen. Das wisse er auch nicht, meinte der Ex-Offizier, der, wie sich herausstellte, große Stücke auf die Zivilgesellschaft in Deutschland hält. „Bei euch gehen die Menschen auf die Straße, um sich zu wehren.“ In Russland seien es nur ein paar „fanatische Babuschkas“, die sich für ihre Rechte einsetzen.

Am nächsten Tag kam ich auf der Straße in meinem Wohnbezirk mit einem jungen Polizei-Schüler in Zivil ins Gespräch. Ob es stimme, dass die Tschetschenen in Moskau immer noch Schutzgelder eintreiben? Ja, das stimme, meinte der junge Mann, der sich als Usbeke aus Tatarstan vorstellte. Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre seien die tschetschenischen Banden von den russischen Gangs vertrieben worden. Aber dann hätten sich die „Tschetschi“ ihre Machtpositionen zurückerobert. Was die Tschetschenen so stark mache? „Sie haben vor nichts Angst außer vor Allah“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Außerdem trinken sie nicht und halten auch mehr zusammen.“

Dass die Polizei in Moskau korrupt ist und sogar tschetschenische Gangs für sich arbeiten lässt, ist für die Moskauer nicht neu. Präsident Medwedjew will nun mit einem neuen Polizeigesetz Ordnung schaffen. Doch für Erfolge braucht es da wohl noch Jahrzehnte.

veröffentlicht in: Sächsische Zeitung

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