21. November 2023

Weihnachten ohne Russen (Nachdenkseiten)

Die Bundesregierung baut fleißig an einer Mauer gegen Russland. Für Russen, die nach Deutschland wollen, gibt es seit Ende 2022 verschärfte Visa-Bestimmungen. Das heißt monatelange Wartezeiten, bürokratische Entwürdigungen, Umwege auf dem Weg nach Deutschland und erhöhte Kosten. Von Ulrich Heyden.

Ach, was waren das für herrliche Zeiten! Anfang der 1990er-Jahre wurden in Berlin auf den Straßen russische Militär- und Fellmützen verkauft. Eine russische Mütze zu tragen war keine Schande, sondern Spaß. Alle waren im Russland-Rausch. In Intellektuellen-Kreisen war Wodkatrinken angesagt. Und dann zogen die Russen auch noch ihre Truppen ab!

30 Jahre später ist die Stimmung der 1990er in ihr Gegenteil gekippt. Ohne Protest aus der deutschen Zivilgesellschaft hat der deutsche Staat verschärfte Visa-Bestimmungen für Russen eingeführt. Die Folgen sind für den russischen Tourismus fatal. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es von Januar bis Mai 2023 nur 52.000 russische Touristen in Deutschland. Im Jahr 2019 waren es im gleichen Zeitraum noch 365.000 russische Touristen.

Reisende können zur Völkerverständigung beitragen. Aber eben das scheint nicht erwünscht. Über Russen will man in Deutschland heute nur noch abstrakt reden. Lebende Vertreter der russischen Gesellschaft tauchen deshalb auch nicht in Fernsehtalkshows auf. Auch der Kreis der Deutschen, die wissen, wie man in Russland heute lebt, wird immer kleiner. Das ist gut für die Rüstungskonzerne. Die können so besser das Feindbild pflegen.

Ein Russe will kein Bittsteller sein

Eine deutsche Bekannte, die wie ich seit über 30 Jahren in Moskau lebt, erzählte mir, wie sich die Abschaffung der Visa-Erleichterungen auf ihr Familienleben auswirkt. Die Deutsche, die ihren Namen nicht in einem Internetportal sehen will, ist seit sieben Jahren mit einem Russen verheiratet.

„Bis 2017 bin ich mit meinem Mann Weihnachten jedes Jahr nach Deutschland gefahren. Wir haben Verwandte abgeklappert“, erzählt die Bekannte. Doch die verschärften Visa-Bestimmungen hätten dazu geführt, dass ihr Mann kein Interesse mehr an Deutschland hat. „Er will sich nicht als Bittsteller anstellen.“ Ihre Verwandten in Deutschland bedauerten das. Notgedrungen hat sich meine Bekannte entschlossen, in diesem Jahr zu Weihnachten die Verwandten in Deutschland ohne ihren Mann zu besuchen. Silvester will sie dann aber wieder in Moskau sein.

Große Unkenntnis über Russland

Der Wissensstand ihrer Freunde und Verwandten in Deutschland gehe immer mehr zurück, erzählte meine Bekannte. Dabei müssten sie eigentlich über Russland Bescheid wissen. Ihre ehemalige Schulfreundin ist Mitglied der Partei „Die Linke“, gucke aber nur Tagesschau. Und da erfahre sie nichts über den wirklichen Alltag in Russland. Als sie sich das letzte Mal sahen, fragte die Freundin: „Na, wie lange macht es Putin noch? Wann hüpft er in die Kiste?“ Da war die Langzeit-Moskauerin, die gar keine fanatische Putin-Anhängerin ist, schockiert. Wie ein Russland ohne Putin aussehen würde, davon habe ihre Freundin leider keinerlei Vorstellung.

Meine Moskauer Bekannte fühlt sich von Deutschland nicht gut behandelt und ist verbittert. Dabei hat sie jahrelang für deutsche Fernsehsender geackert. Da sie in Brandenburg aufwuchs und perfekt Russisch spricht, hat meine Bekannte jahrelang journalistische Zuarbeit für deutsche Fernsehsender geleistet. Außerdem hat sie für deutsche Fernsehteams die Einfuhr von Fernsehtechnik beim russischen Zoll abgewickelt.

Mitarbeiter deutscher Firmen in Moskau betroffen

Auch für die in Russland verbliebenen deutschen Firmen sind die Visa-Verschärfungen ein großes Problem. Aus Kreisen der deutschen Wirtschaft in Moskau hörte ich von dem Fall einer langjährigen russischen Mitarbeiterin einer deutschen Firma, die vom deutschen Konsulat kein Visum für eine Dienstreise nach Deutschland bekam. Die Dame hat sich dann bemüht, bei einem südeuropäischen EU-Mitglied ein Schengen-Visum zu bekommen, um doch noch nach Deutschland einreisen zu können. Ob es geklappt hat, ist mir nicht bekannt.

Über Österreich, Italien, Griechenland oder Spanien nach Deutschland zu fahren, ist zurzeit für Russen, die beim deutschen Konsulat in Moskau aus irgendeinem Grund kein Visum bekommen oder denen die Wartezeiten zu lang sind, die einzige Möglichkeit, doch noch ans Ziel zu gelangen.

Die russische Regierung hat auf die deutschen Visa-Verschärfungen für Russen bisher nicht reagiert. Eine spiegelbildliche Antwort, wie man sie bei der Abschiebung von deutschen Diplomaten anwandte, gab es bisher nicht.

Noch reisen Deutsche nach Russland. Wie ich aus Unternehmerkreisen erfuhr, sieht man auf Empfängen der deutschen Wirtschaft in Moskau häufig Deutsche und Österreicher, die nicht ständig in Moskau leben.

Visa-Sperre für russischen Chefredakteur

Wenn das deutsche Konsulat in Moskau einem Russen ein Visum verweigert, dann kann das auch politische Gründe haben. Da ist zum Beispiel der Chefredakteur der Moskauer Deutschen Zeitung, Igor Beresin. Ihm wurde im Februar 2023 vom deutschen Konsulat in Moskau ein Visum für einen auf zehn Tage geplanten Besuch auf der Leipziger Buchmesse verweigert. Der 52 Jahre alte Chefredakteur wollte auf der Buchmesse an der von seiner Zeitung organisierten Veranstaltung „Moskauer Gespräche“ teilnehmen. Doch das war vom deutschen Staat offenbar nicht erwünscht.

Um sein deutsches Visum zu bekommen, hatte Beresin keine Mühe gescheut und dem deutschen Konsulat alle verlangten Dokumente vorgelegt, eine Bescheinigung seines Arbeitgebers über das Gehalt, die Heiratsurkunde, den Geburtsschein seines in Moskau lebenden Kindes, den Nachweis über Immobilienbesitz und den Besitz eines Autos sowie bezahlte (!) Flugtickets nach Deutschland.

Im Visa-Ablehnungsbescheid schrieb das deutsche Konsulat, die Informationen in den von Beresin vorgelegten Dokumenten seien nicht glaubhaft. Es bestünden „begründete Zweifel“ an der Absicht, aus Deutschland nach Moskau zurückzukehren. „Als russischer Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter gehören Sie zu dem Personenkreis, der in Russland potenziell von der Teilmobilisierung für die russischen Streitkräfte betroffen ist. Dadurch dürfte Ihre Bereitschaft, vor Ablauf des Visums in Ihre Heimat zurückzukehren, erheblich vermindert sein.“

Die Freude am Leben will sich Beresin durch die Visum-Ablehnung nicht nehmen lassen. In einem Beitrag auf seiner Facebook-Seite schrieb er:

„Unsere Kinder sind klüger als wir. Ich habe meiner Tochter jahrelang die Idee lanciert, dass sie Deutsch lernen sollte. Es sei nicht nur eine sehr schöne Sprache, sondern auch eine gute Ausbildungsperspektive. Jede Beratung hat sie immer scharf abgelehnt: ‚Beschäftige dich mit deinem Deutsch selbst, und ich werde weiter Japanisch lernen. Meine Perspektiven befinden sich in Asien.‘ Der kluge Kopf.“

Meine persönlichen Erfahrungen

Dass der Autor dieser Zeilen sich entschloss, einen Artikel zu schreiben über die Probleme der Russen, nach Deutschland zu kommen, hat auch einen persönlichen Grund. Meine Frau – die schon vier Schengen-Visa in ihrem russischen Pass hat – wollte mit mir im Januar nach Hamburg fliegen. Doch bis sie ein Visum hat, kann es noch Monate dauern.

Meine Frau rief den russischen Dienstleister Visametric an, der im Auftrag des deutschen Konsulats die nötigen Dokumente des Reisewilligen prüft und die obligatorischen Fingerabdrücke nimmt. Sie erhielt die Auskunft, für die Monate November und Dezember seien schon alle Plätze auf der Warteliste ausgebucht. Wann die Warteliste im Januar aufgemacht wird, konnte die Vertreterin des Dienstleisters nicht sagen.

Um sicherzugehen, dass meine Frau am Telefon alles richtig verstanden hat, rief ich selbst die Visa-Stelle des deutschen Konsulats in Moskau an. Die Mitarbeiterin des deutschen Konsulats erklärte mir sehr freundlich, die obligatorische finanzielle Bürgschaft für das Visum meiner Frau, welche ich bisher immer in Moskau beim Konsulat unterschrieben hatte, nehme das Konsulat nicht mehr an. Meine Frau könne aber eine Verpflichtungserklärung von Verwandten aus Deutschland vorlegen. Wie entwürdigend! Bin ich nicht der nächste Verwandte meiner Frau?

Ein deutscher Übersiedler: „Die Deutschen sind emotional aufgeheizt“

Im Rahmen meiner Recherche sprach ich auch mit einem Deutschen, der seit einigen Jahren mit seiner russischen Frau in Südrussland lebt. Er muss mittlerweile darauf hoffen, dass seine russische Frau, die ebenfalls mehrere Schengen-Visa in ihrem Pass hat, im nächsten Jahr von einem Verwandten in Deutschland eingeladen werden kann.

Die Folgen der restriktiven Visa-Politik seien fatal, sagte mir der Deutsche, der seinen Namen nicht in einem Internet-Portal sehen will. „Wenn man sich lange nicht sieht, leiden die Kontakte, und manchmal gehen sogar freundschaftliche Beziehungen durch die negative Russland-Berichterstattung in Deutschland kaputt.“

Bekannte in Deutschland hätten ihm schon vorgeworfen, wie er denn mit seiner Frau ausgerechnet in der russischen Stadt Anapa am Schwarzen Meer habe Urlaub machen können. Dorthin habe doch Putin „Tausende ukrainische Kinder verschleppt“. Der Deutsche aus Südrussland fragte nach, „wozu soll Putin ukrainische Kinder in einen Kurort am Meer verschleppen, wo doch schon mehrere Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine freiwillig nach Russland kommen?“ Darauf bekam er aber keine Antwort. Nach den neuesten russischen Zahlen sind seit Februar 2022 fünf Millionen Ukrainer nach Russland übergesiedelt.

Einfuhr von russischem Klopapier und Shampoo verboten

Die Visa-Verschärfungen sind wie die Steine einer Mauer, welche die Bundesregierung zwischen Deutschland und Russland baut. Die ersten Steine für diese Mauer wurden bereits kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine gelegt. Deutschland kappte alle Flugverbindungen nach Russland. Wer aus Russland nach Deutschland will, muss seitdem mindestens einen kompletten Reisetag und oft auch noch eine Übernachtung einrechnen, denn nach Deutschland geht es jetzt nur noch mit einem Zwischenstopp über Istanbul, Helsinki oder Kaliningrad.

Doch es kam noch schlimmer. Russen dürfen nach einer EU-Verordnung, die am 23. Juni 2023 geändert wurde, nicht mit in Russland registrierten Autos in die EU einreisen. Beschlagnahmt werden können nach dieser Verordnung nicht nur Autos von Russen, sondern auch Notebooks, Smartphones, Kosmetik, Koffer, Zahnpasta, Klopapier und Shampoo, die aus Russland eingeführt werden. Angeblich können diese Gegenstände in der EU verkauft werden und könnten einen wirtschaftlichen Gewinn für Russland darstellen. Doch unklar ist, wer feststellt, ob es eine Verkaufsabsicht gibt. Ein Psychologe der deutschen Polizei? Wie will man eine Verkaufsabsicht beweisen und wie am Grenzkontrollpunkt den Verdächtigen aus der Menge greifen?

Spiegel Online berichtete im Juli, der deutsche Zoll habe „mehrere Fahrzeuge mit russischen Kennzeichen“ beschlagnahmt. Viele Russen haben deshalb Angst, nach Deutschland zu fahren, denn wer weiß, was einem da abgenommen wird.

Auch kritische Russen betroffen

Mit den aufgezählten repressiven Maßnahmen versucht der deutsche Staat, unter den Bürgern Russlands offenbar ein Gefühl der Unsicherheit zu verbreiten nach dem Motto ‚bleibt lieber zu Hause und macht euch gar nicht erst die Mühe mit einem Visaantrag‘.

Die Rede deutscher Politiker, man müsse trotz der Sanktionen „die russische Zivilgesellschaft stärken“, entpuppt sich als folgenloses Bekenntnis. Denn von den Visa-Verweigerungen und langen Warteschlangen sind alle Russen betroffen, sogar die, welche ein kritisches Verhältnis zur russischen Invasion in der Ukraine haben.

Aber solche „Kleinigkeiten“ zählen in Kriegszeiten letztlich nicht. Diplomatische Floskeln und Bekenntnisse zu den Menschenrechten werden von deutschen Beamten, deren Großväter schon lernten, „wie gefährlich der Russe ist“, mit kaltherzigen Ausführungsbestimmungen überrollt. Das Menschenrecht auf Begegnung, auf eine verwandtschaftliche Beziehung und Meinungsaustausch hat man im Handumdrehen abgeschafft, so als habe es diesen Plan schon lange gegeben.

Und wo bleibt die Antwort der hochgelobten deutschen Zivilgesellschaft auf diese Politik?

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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